Allerseelen und Ewigkeitssonntag

Allerseelen und Ewigkeits-
Sonntag

Marienkäferchen! Schau!
Wie spät im Jahr sie noch
fliegen! ... Letzte
Rosen blühen in Weiß ...
Ihre Zweige schwingen
in herbstlich
durchsonnten Winden ...
Schäfchenwolken am Firmament
des Skorpion.

Das Grün der Blätter zog sich
mit der Sonnengottheit zurück:  
Gelb und Rot und Violett
und Orange
strahlen jetzt auf:
zum Sterbefest
des Herbstes brechen sie
aus den Urgründen des
Laubes hervor!

Es ist vollbracht:
das Blühen - das Verblühen -
das Erbingen
der Früchte!

*
Ich verweile auf der Sonnenterrasse
des Café-Ristorante
"Bellevue".
Das unerbittliche Ticken
der Zeit
hält inne.

Mit dem Blick des Betrachters jenseits
chronometrischer Gesetze,
bemerke ich die beiden
Damen am Tisch
neben dem meinen:
die mir abgewandte Dame
in rotem Pullover und mit
schwarzem, formlos offenem Haar
spricht schnell, kühl und in anscheinend 
niemals endendem Fluss.

Ihr Gegenüber schiebt sich
ihre Sonnengläser
ins blonde, ebenfalls formlos offene
Haar und antwortet
wieder und wieder mit einem
amerikanischen "O Kay"
oder mit einem deutschen "Na so was!" ...
zuweilen garniert mit einem Lachen.

Die Sonne des Autumnus zieht
ihre tiefliegende Bahn.

*
  In welchem Modus hören wir
 uns selbst und einander?
Hören wir aus unserem Herzen?
Hören wir aus
unserem Intellekt?
Was geruhen wir zu hören - und was
rauscht an uns vorüber?
Als Überhörtes vorüber?

Die Zeit fließt - oder sie bleibt stehen.
Bleibt sie stehen - dann fühle ich
meine Gefühle.
Dann erfahre ich die Stille:
Ewigkeit mich umfängt.

*
Erstaunlicherweise, spricht
jetzt die andere
der beiden Damen -
und sie spricht in der gleichen Weise 
wie zuvor ihre Kameradin:
in sich überschlagenden Worten!
"Zwei Leben leben in
einem einzigen" -
ein Motto dieser rastlosen Tage.
Jedoch: die Mitteilungen
der zweiten Dame
sind nur ein Intermezzo: meine
Nachbarinnen kehren
in ihre alten Rollen zurück.

*
Und die roten Marienkäferchen flügeln
noch immer von Ort zu Ort
und verweilen dann wieder
- ewigkeitstrunken, will mir scheinen -
im diesem milden Licht
des tiefliegenden Sonnengestirns
an diesem letzten
Sonnabend im Oktober.

Und ich sitze und blicke
in die Ferne auf
jenen Höhenzug jenseits der Stadt.
Und ich schaue in mich ...

Ich ahne einen Halbgott in einem
frühherbstlichen Leib
im "Café-Ristorante Bellevue"
am Hauptfriedhof
von Pforzheim -
dieser Goldstadt an einer der
Pforten zur Stille:
der Stille des Forêt Noire.  

Die langen Sommertage sind durchlebt.
Doch die Marienkäfer fliegen
noch immer,
an diesem kurzen und
beschaulichen
Sonnensonnabend
im Oktober zu Letzt!





(c)  August Sonnenfisch, 29. Oktober 2011 ff

EVANGELISCH: der Ewigkeitssonntag oder Totensonntag
ist der Sonntag vor dem 1. Advent -
zum Gedenken  an die Verstorbenen.
KATHOLISCH: Allerseelen (2. November) ist der Tag
nach Allerheiligen (1. November) -
zum Gedenken an die Verstorbenen.