Das Stehpult

Ein Bekannter lag im Sterben,
er wollte mir gekonnt vererben,
was er täglich stehend betrieben,
wenn er die Gedichte geschrieben. 
 
Er zeigte drum nur mit einer Hand  
zur gegenüber liegenden Wand. 
Dort hing ein Brett mit kleinen Fetzen
die ich las, zu seinem Entsetzen. 
 
Ich hob die Schultern , ließ sie fallen,  
nichts besonderes unter allen. 
Da nahm er alle Kraft zusammen,
als wollte er mich haltlos rammen,
 
als wäre ich an dem Ende schuld  
und murmelte laut das Wort „Stehpult“.
Jetzt hatte ich es endlich kapiert 
wo er stets seine Blätter beschmiert.
 
Sein Stehpult war fast zugehangen,  
mit Bügeln wie an Kleiderstangen. 
Goethe, Schiller, die Reimeputzer,  
waren dieses Schreibmöbels Nutzer.
 
Sogar Luther warf mit einer Hand,
weil er doch beim Bibel schreiben stand,
ganz erregt das volle Tintenfass 
nach des Teufels Schatten, voller Hass.
 
Will man sich diesen Wortedrehern 
auch nur von Ferne etwas nähern,  
und nutzt deren alten Dichterkult,   
braucht man selber ein richtiges Pult.
 
Ein Problem dabei viele betrifft,
denn wer schreibt denn noch mit einem Stift. 
Mein Pult trägt jedoch in Zukunft nur  
Computer, Bildschirm, die Tastatur. 
 
Belesen wie ein Sommerfrischler 
ging ich zu einem nahen Tischler,  
erklärte ihm mit vielen Worten 
was ich brauche an Dichterorten.
 
Er hat mir bald das Wort genommen,
denn ich wäre umsonst gekommen. 
Die EU-Richtlinie „Funktion“ 
erlaubt nicht solche Konstruktion.
 
Die Höhe größer als die Breite, 
da kippt vielleicht alles zur Seite.
Früher sei Fußböden nichts passiert,  
sie hätten nur Schreibsachen kassiert.
 
Doch fällt der PC auf die Erde,  
ganz bestimmt nichts reimendes werde. 
Dies schwer tragende Dichtergestell  
wackelt unsicher und kippt sehr schnell.
 
Umginge er die EU-Hürde  
keiner das Pult anschrauben würde.
Das Risiko ist jedem zu groß,
darum lassen sie die Dinger bloß.
 
Angeregt eilte ich nach Haus
zog das Pult aus der Ecke raus,
liess Tintenfass und Feder weh’ n
Entwürfe schreibe ich wieder im Steh’ n.
 
10.06.2013 ©  Wolf-Rüdiger Guthmann