Konstantin von Gunten

Weg des Trojan - Teil 2

Osar ging lange, überquerte Moore, Flüsse,
bekam schon bald geschwollene Füsse.
Müde kam er bei einem breiten Flusse an,
dem er am Ufer nachzulaufen begann.
 
Eines Morgens sah er hinter sich ein Schiff,
das flussabwärts unter Segel lief.
Es war beladen, die Mannschaft, acht Leute im Ganzen,
gerüstet mit Brustschutz, Bögen und Lanzen.
 
Die Händler waren fröhlich, wohlauf,
und nahmen Osar sofort bei sich auf.
Darunter gab es solche, die Osars Sprache kannten,
auch der, den sie ihren Anführer nannten.
 
Sie seien Händler, abenteuerlich, nicht reich,
und kämen aus dem jungen Bolgar-Reich.
Bolgar, das an der Wolga gegründet worden sei,
sie waren alle beim Aufbau selbst dabei.
 
Nun fahren sie Heim nach Bolgar mit vielen neuen Waren,
und unterwegs haben sie viel gesehen und erfahren.
Der Wald ist dicht und voller tödlicher Gefahren,
wenn Osar wolle, könne er mit ihnen fahren.
 
Sie fuhren lange, fröhlich feiernd,
über ihre Abenteuer im Westen leiernd.
Nach einer Weile plötzlich sie erquickten,
als hinter sich sie ein Segelschiff erblickten.
 
Auf einen Schlag verlor die Mannschaft ihre Ruhe,
sie holten die verräumten Waffen aus einer Truhe.
Und plötzlich hielt einer Osar ‘ne Klinge an die Brust,
und sprach: „Sag, Fremder, hast du vom anderen Schiff gewusst?
Haben sie dich her geschickt zu spionieren,
und unsere Mannschaft zu sabotieren?“
 
Osar, Wahrheit sprechend, er sich sagen hörte,
dass er nicht zu den anderen gehörte.
 
Der Händler: „Waräger sind es, brutal und kampferfahren,
zum ersten Mal sehe ich sie so weit östlich fahren.
Im Westen sind sie in ihrem Reich und nicht ein Feind,
doch fern davon verbreiten sie nur Tod und Leid.“
 
„Wenn alle kämpfen, haben wir ‘ne Chance hier,
nimm eine Waffe, das rate ich dir.“
So holte Osar in aller Eil,
aus seinem Sack sein gutes Beil.
 
Und wahr, die Waräger nicht mit sich reden liessen,
stattdessen sie sofort ihre Waffen hochrissen.
Die Händler schickten los einen Hagel aus Pfeilen,
was aber die Waräger nicht dran hinderte auf sie zu eilen.
 
Die Händler beteten zu ihren Ahnen,
sie sollen sie vor dem Tod bewahren.
Und auch Osar hielt drei Finger erhoben,
um seinen Gott Trojan zu loben.
 
„Oh, Gott Trojan, ich handle in deinem Namen,
dank dir setzte ich meinen Schicksalsrahmen.
So lass mich überleben dies, mich, deinen wahren Seelensohn,
lass durch Chernobog über meine Feinde siegen, mich, Tronatron!“
 
Und als die Warägerbande die Händler einholte,
die wilde Meute auf deren Schiff hinüberrollte.
Osar kannte Waräger, denn sie waren oft an seinem Ort,
doch das hier war anders, das war der pure Tod.
 
Mit brennenden Augen, wie wilde Dämonen,
als würden sie rufen: „Du bist verloren!“
Mit langen Haaren, halb nackt, mit Fell um die Lenden,
mit Ästen, Schwertern und Eisenhelmen mit verzierten Rändern.
 
Osars Angst wurde zu Hass und Wut,
wie durch ein Wunder, bekam er Mut.
Er und die Händler stürmten voran,
als der erste Waräger zu nahe kam.
 
Drei Händler hackten auf ihn ein,
und drängten ihn von Bord mit verletztem Bein,
doch die Waräger liessen sich nicht aufhalten,
stattdessen sie sich zu einem Haufen ballten.
 
Schon floss des ersten Händlers Blut,
es fiel ins Wasser das erste Gut.
Osar sah Beile, Schwerter um sich fliegen,
und blutende Menschen auf Deck liegen.
 
Da sah Osar ein Ziel in einer Lücke in der Menge,
liess niederbrausen seine Axt in voller Länge.
Er traf den Hals, Blut spritzte wie aus der Quelle,
des Feindes Schwert verfehlte ihn um eine Elle.
 
Ein Gegner kam von rechts, gross, blutverschmiert,
er wurde wohl schon mehrmals attackiert.
Er schwang die Kriegsaxt Osar entgegen,
sie würde ihm den Kopf von den Schultern fegen.
 
Osar, er schlug nach ihr mit seinem Beil,
und spaltete den Griff, wie mit dem Keil.
Entwaffnet, wutentbrannt, warf der Feind sich auf Osar,
er legte alle seine Manneskräfte dar.
 
Doch Osar selbst war stark und gross,
und überliess sich nicht dem Los.
Als der Waräger machte einen Würgeangriff,
mit Faustschlägen löste er den Todesgriff.
 
Und plötzlich kam ein Hieb, den Osar sah nicht kommen,
am Kopf getroffen, torkelte nach hinten er benommen.
Er spürte noch die Planke hinter sich am Bootsrand,
dann plötzlich er sich im kalten Wasser wiederfand.
 
Er fühlte sich im Wasser schweben,
und seinen Körper aufgeben.
Doch eine unsichtbare Kraft ihn plötzlich weckte,
aus seiner Starre in die Realität ihn aufschreckte.
 
Er konnte vieles, doch schwimmen konnt‘ er nicht,
verzweifelt streckte aus dem Wasser sein Gesicht.
Doch Glück im Unglück, er zum Ufer trieb,
und sich zwischen die Baumwurzeln rieb.
 
Mit erwachten Kräften einen Halt er fand,
und sich hievte aus dem Fluss an Land.
Osar: „Ich danke dir, oh, Trojan, du lässt mich leben,
ich danke für die Chance, die du mir hast gegeben!“
 
Und er begann den Wassergöttern auch zu danken,
da hörte in der Ferne er Waräger mit den Händlern zanken.
Der Kampf ging weiter, doch Osar sich hatte gut davon gelöst.
Er fühlte sich lebendig und erlöst.
 
Er könnte seine Reise am Ufer setzen fort,
und gehen nach Bolgar, dem gelobten Wolgaort.
Da sah er im Wasser gleich neben seiner Stelle,
verfangene Stofffetzen tanzten auf einer Welle.
 
Er kroch zu ihnen, zog daran,
es folgte bald ein ganzer Arm.
Es war ein Händler, der Kopf halb abgeschnitten,
das Gesicht im Schmerz verzerrt, er hatte sehr gelitten.
 
Mit Mühe zog den Leichnam Osar an Land,
und zerrte ihn weit weg vom Uferrand.
Er bedeckte den Körper mit Ästen und Gras,
damit er nicht zu schnell werden würde zu Aas.
 
Er marschierte weiter, Trauer und Angst empfindend,
folgte dem Fluss, sich zum Weitermachen zwingend.
In Gedanken vertieft wusste er nicht, wie lange er lief,
erblickte plötzlich am Ufer das Warägerschiff.
 
Und daneben, wie ein Gefangener in Seile gelegt,
das Schiff der Händler, brav angelegt.
Im Dickicht versteckt, näherte sich Osar der Stelle,
da erblickte er abseits des Ufers aufgehängte Felle.
 
Daneben das Lager der Waräger. Sie feierten den Raub,
vom Fleisch und Met, ihre Gemüter waren laut und taub.
Unweit, er sah drei Händler verletzt und gefesselt,
von einem auf die Schnelle erbauten Zaun eingekesselt.
 
Und daneben weitere Händler, vom Blut schwarz und rot,
lagen auf dem Boden, verstümmelt und tot.
Aus Angst wollt‘ sich Osar verziehen,
und weiter ruhig seines Weges ziehen.
 
Doch dachte er daran, wie gut die Händler hatten ihn empfangen,
wie sie herzlich lachten und beim Essen fröhlich sangen.
„Ja“, sagte er. „Hier werde mein Schicksal ich bestimmen,
und mich nicht leiten lassen von angstgetrübten Sinnen.
Ich werde diese Händler hier befreien,
und Trojan wird mir die Kraft dazu verleihen.“
 
Er nahm ‘nen Ast, brach ihn entzwei,
und prüfte ob der Bruch auch spitzig sei.
Dann wartete er bis zum Einbruch der Nacht,
in dieser Zeit hatte er sein Vorgehen durchdacht.
 
Und auch als es dunkel wurde, feierten die Waräger weiter,
tranken, assen, lachten heiter.
Nur einer wachte über die Händler, die noch am Leben waren,
und der fröhlichen Gesellschaft aus der Ferne zusahen.
 
Und als die Räuber ein Lied einstimmten,
schlich sich Osar an den Bewacher von hinten.
Er sprang, verschloss dessen Mund, und mit erzürnter Seele,
rammte ihm den spitzigen Ast in die nackte Kehle.
 
Osar schloss die Augen, als er den Körper an sich drückte,
und als dieser erschlaffte, er dessen Axt zückte.
Ohne den Toten anzublicken, er zu den Händlern eilte,
und sie mit der Axt aus den Fesseln befreite.
 
Aufgeregt dankten ihm die Drei,
denn nun waren sie wieder frei.
Doch die Gefahr war noch nicht genommen,
ihre Flucht hatte erst begonnen.
 
Sie machten einen weiten Bogen um die feiernde Meute,
die singenden, noch nichts ahnenden Leute.
Sie schlichen zum Fluss, wo sie die Schiffe vorfanden,
die auch hier nur durch einen Waräger bewacht standen.
 
Zu viert schlichen sie an den Waräger heran,
der gelangweilt sass auf dem Kahn.
Die Händler liessen ihren Rachedurst heraus,
und machten dem Waräger den Garaus.
 
Noch bevor dieser dazu kam zu schreien,
hatte er ein Messer in den Innereien.
Mit Grauen und doch Genugtuung betrachtete Osar den Mord,
sie liessen den Waräger tot an Bord.
 
Die Händler rannten auf ihr Schiff,
Osar als Letzter ihnen nachlief.
Mit geschickten Schlägen mit dem neuen Warägerbeil,
durchtrennte er auch das Warägerschiff haltende Seil.
 
Träge das feindliche Schiff zu gleiten begann,
während der Händlerkahn bei Segel Fahrt aufnahm.
So hatten Dank Osar die Händler ihre Freiheit wiedergewonnen,
und wohl auch noch waren sie dem Gewalttod entkommen.
 
Schnell fuhren sie weg vom Warägerhort,
flussabwärts nach Osten fort.
Die Waräger zum Ausräumen sich genommen keine Zeit,
das meiste Gut und Osars Sachen lagen noch bereit.
 
Erst Stunden später, als Sonnenstrahlen begannen sich zu zeigen,
brach der Händlerführer, der unter den Lebenden weilte, das Schweigen.
Er: „Ruhe und Frieden im Totenreich unseren Freunden!
Lassen wir ihren Tod an uns nicht vergeuden!
Vier fanden tapfer bei der Schlacht den Tod,
einer wurde dann geopfert einem Warägergott.
Du, Slawe, hast uns gerettet, bist wahrer Freundschaft würdig,
dir sind wir nun lebenslang zu Danke schuldig.
Wir bringen dich nach Bolgar, wie schon versprochen,
dort wird dir ein Viertel unserer Ware zugesprochen!“
 
Osar dachte eine Weile nach,
bedankte sich und sprach:
„Ich brauch nicht, was ihr habt an Waren mir angeboten,
schenkt meinen Anteil den Freunden und Familien der Toten.
Ich bin schon froh, mit euch zu reisen,
und auf eurem Schiff zu schlafen und zu speisen!“
 
Es vergingen Tage, bis sich die Reisenden sicher fühlten,
und manche sich sogar im Fluss abkühlten.
Und bald war die Gefahr gebannt,
denn kam den Händlern gut bekanntes Land.
 
Schon sah man Felder, nahm Vieh- und Rauchgerüche wahr.
Nach einigen Flussschleifen kam auch schon Bolgar.
Auf den hohen Wolgaufern bis fast an den Rand,
die Stadt breit errichtet stand.
 
Häuser aus Holz und Erde waren meist wild verteilt,
ab und zu einer breiten Strasse entlang gereiht.
Die Stadt umrundete ein Erdwall, mehrere Schritte hoch,
mit Palisaden, Türmen und einem Graben noch.
 
An Land wurden die Reisenden feierlich empfangen,
von einer fröhlichen Menschenmenge regelrecht gefangen.
Die Menschen hier waren in seltsamen farbigen Gewändern,
und sprachen eine Sprache, die Osar konnt‘ nicht verwenden.
 
Er half den Händlern das Schiff auszuladen.
Die Waren brachten sie in ihren Laden.
Es kamen Familien und Freunde mit Geschenken,
man sang zusammen, um der Toten zu gedenken.
 
Tage und Nächte verbrachte in der Stadt Osar,
genoss die Ordnung und Sauberkeit von Bolgar.
Die Offenherzigkeit der Bürger und die Frauen gefielen ihm sehr,
mit jedem Tag er wollte sehen von diesen Wundern mehr.
 
Doch bald verspürte er des Weges Drang,
der ihn schliesslich zum Weitermachen zwang.
Er sagte seinen Freunden, er wolle weiter nach Osten,
er müsse weiter das unbekannte Land durchforsten.
 
Lange versuchten sie ihn davon abzuhalten,
er solle doch noch länger bei ihnen walten.
Der Osten sei wild und gefährlich,
hunderte Jäger und Händler verschwanden dort jährlich.
 
Doch Osar war nicht zu überzeugen,
liess sich nicht durch ihre Worte beugen.
Sie erklärten ihm, dass den Weg, den er nehmen wollte,
er doch sicherheitshalber meiden sollte.
 
Den Umweg über Norden müsst er gehen,
die Vorteile sind schnell einzusehen.
Denn im Osten treiben seit einiger Zeit ihr Unwesen
böswillige und gefährliche Geisterwesen.
 
Im Norden gäbe es eine Handelsroute, kaum heimgesucht von Piraten,
diesen längeren doch sichereren Weg würden sie ihm raten.
Er sagte, nach Osten gehe er, und jeder Weg hat seine Tücken,
doch überwinden wird er sie mit seinen Göttern im Rücken.
 
Osar war durch die Gastfreundlichkeit der Bolgar stark gerührt,
doch nun war er frisch mit Reiselust erfüllt.
Er packte seine Sachen, nahm Abschied von Stadt und Freunden,
bei Tagesanbruch brach er auf, um keine Zeit mehr zu vergeuden.
 
Er folgte einem schmalen Weg, munter, gut genährt,
durch einen dichten Mischwald auf ‘nem geschenkten Pferd.
So reiste er im ruhigen Reiseschritt,
nachts am Lagerfeuer unterbrach den Ritt.
 
Nach einem kleinen Pass erreichte er ein weites grünes Tal,
da fühlte er sich unwohl aufs Mal.
Am Flüsschen er löschte mit dem Gaul den Durst,
das ganze Tal lag verschleiert im Dunst.
 
Plötzlich, unangekündigt kam auf ein unruhiger Wind.
Es pfiff und heulte zwischen Bäumen wie ein leidendes Kind.
Auf einmal wurde es dunkler und düster.
Der Wald erschien nun feindlicher und wüster.
 
Der Wind, der Ton, die Kälte liessen Osars Pferd das Tempo senken.
Osar selbst musste an der Händler Worte denken.
Plötzlich, auf einer Lichtung zwischen dreien Eichen,
stiess er auf eine Gruppe stehender Leichen.
 
Vermoderndes Fleisch hing von den alten Knochen.
Sechs Körper, die stark nach Tod und Eiter rochen.
Erstarrt vor Angst sah Osar ihre Augen rollen,
und hörte aus ihrem Inneren ein leidvolles Heulen.
 
Das Pferd erschrak und bäumte sich auf,
Osar fiel rücklings auf den Boden drauf.
Der Aufprall drückte alle Luft aus seinen Lungen,
der Schmerz hatte ihn schnell durchdrungen.
 
Doch die Angst trieb ihn sofort aufzustehen,
die Betäubung durch den Schmerz zu übersehen.
Das Pferd war verschwunden, so auch die Leichen,
der Schmerz musste nun dem Staunen weichen.
 
Doch blieben der düstere Klang des Waldes und der Gestank,
der Osar fast bis auf die Knochen drang.
Dunkle Schatten erschienen überall, umzingelten ihn ganz,
und es begann ein wilder, stummer Tanz.
 
Die Angst und eine unsichtbare Macht drückte Osar auf die Kehle,
zog wütend und hungrig an seiner Seele.
Und mit Verzweiflung rief Osar wie ein eingeschüchtertes Tier:
„Lasst mich in Ruhe, was wollt ihr denn von mir?“
 
Er fühlte schon den Tod ihm näherkommen,
und taumelte vorwärts, wie benommen.
Die ihn umzingelnde Dunkelheit wurde immer dichter,
doch tief in seiner Seele erschienen plötzlich Lichter.
 
Er sah, wie ihn als Kind die Mutter in die Arme nahm,
und ihre Worte er verstand, sie waren warm:
„Du bist der Herr über deinen Körper und deinen Geist,
bis zum Schluss, wo der Faden deines Lebens reisst!
Du wirst den Sinn von deinem Leben finden auf Erden,
und wirst erfolgreich wiedergeboren werden.
Nicht so wie die Unglücklichen, die daran scheitern, altern,
sterben und als untröstliche Geister unter uns walten.“
 
Osar war wieder wach, zog seinen Rucksack aus,
zog sein Beil und die Warägeraxt heraus.
Er schlug sie aneinander, liess das Metall erklingen,
den hellen Klang, das düstere Geheul durchdringen.
 
„Ihr Geister, ich bin Osar, bin Tronatron,
hört auf meinen Schicksalston!“
Er rief und liess die Waffen nochmals laut singen:
„Gescheitert seid ihr wohl dabei, eure Lebenstat zu erbringen.
Ich teile eure Angst und Wut und den unerfüllten Drang zu siegen,
doch durch euch lass ich mich nicht unterkriegen.
Aber wenn ich helfen kann, so weist die Richtung,
lasst mich nicht im Ungewissen auf dieser Lichtung!“
 
Nochmals schlug er die Waffen aneinander,
und  sah die Schatten treiben auseinander.
Die Spannung fiel, der Schmerz war weg,
und lange Schatten deuteten Osar den Weg.
 
Er lief den angezeigten Pfad sich überwindend,
während überall um ihn die Schatten tanzten windend.
Und während er sich dem Schutze seiner Götter übergab,
stieg er bald einen Abhang zu einem schmalen Fluss herab.
 
Vor ihm erstreckte sich das Ufer, sandig, steil,
an vielen Orten zugewachsen, grün und heil.
Doch eine grosse Stelle war durch Fluss und Wetter freigelegt,
ein Erdrutsch, wie durch einen Erdgott ausgesägt.
 
Beim Anblick, der sich bot, hielt sich Osar an den Haaren.
Das schreckliche Bild liess ihn vor Angst erstarren.
Er sah die Leichen von der dunklen Lichtung,
doch lagen sie halb begraben und verdreht in jeder Richtung.
 
Eine Grabstätte war durch den Erdenrutsch geöffnet worden,
die Totenruhe was gestört, die Leichen freigelegt, verdorben.
Die Toten so zur Schau gestellt,
stark verwest und entstellt.
 
Die Natur an ihnen hat sich gut genährt,
Fliegenmaden aufs Äusserste vermehrt.
Einige Körper lagen schon im Wasser, zerfetzt und hautlos,
während aus ihnen weisser Schaum herausfloss.
 
Mit Schwindel dachte Osar, dass flussabwärts unweit dieser Stelle,
er an diesem Fluss den Durst gelöscht in seiner trocknen Kehle.
Hatte er dadurch die Aufmerksamkeit der Geister auf sich gezogen?
Oder hatte sich einfach seine Wahrnehmung so verzogen?
 
Wie dem auch war, mit sich selber kämpfend,
grub er aus die Leichen, den Gestank mit Tüchern dämpfend.
Einen Körper nach dem andern zerrte er den Hang hinauf.
Abgerissene Körperteile trug er einzeln rauf.
 
Oben hob er eine tiefe, lange Grube aus,
grub zwei mannshohe Erdhaufen heraus.
Schön flach legte er hinein die Leichen,
rief auf die Seelen, in die Geisterwelt zu weichen.
 
Und während Schicht um Schicht er Erde auftrug,
er eine Bitte an den Gott der Geisterwelt vortrug:
„Oh, Mara, Hüter über die Geisterwelt,
nimm auf diese Seelen und meinen Fleiss hier als Entgelt.“
 
„Lass sie nicht entrüstet und in der physischen Welt streifen,
und Zorn und Wut in ihnen reifen.
Das Schicksal hat mich hergeführt und ich trag daran die Schuld,
hab du mit mir und mit den Seelen Geduld!“
 
Erschöpft fiel Osar auf das Grab,
dessen Bau er all seine Kräfte gab.
Und er sah die Toten wieder, wie im Traum,
sie schwebten ruhig frei im Raum.
 
In ihren Augen glänzten Entspannung und Dank,
sah Osar, bevor er in einem Traum versank.
Wie lange er schlief, das wusste er nicht,
doch als er erwachte, entzogen waren die Geister seiner Sicht.
 
Er lag auf den Gräbern, unversehrt,
und als wäre nichts geschehen, stand neben ihm sein Pferd.
Osar wusch sich, ass was, streichelte sein Tier,
und zog dann weiter, weg von hier.
 
So hatte er die berüchtigten Geister überwunden,
und bald schon auch seine alte Richtung gefunden.
Er ritt weiter durch Wälder, so dick und düster,
abends lauschte er den Tieren und dem Windgeflüster.
 
Nachts hielt er sich warm mit einem Lagerfeuer,
hielt von sich fern die wilden Tiere und die Ungeheuer.
In einer Nacht bei einem Bach,
er wurde auf unsanfte Weise wach.
 
Sein Hengst rief aus viel zu spät,
Osar kam nicht einmal aus seinem Bett.
Es packten ihn Hände und drückten ihn am Boden fest,
es traf ein harter Stock ihn auf den Kopf, gab ihm den Rest.
 
Als er zu sich kam, sass er gefesselt auf ‘nem Wagen,
Wo zahlreiche Säcke mit Gegenständen lagen.
Sein Pferd half beim Ziehen des Wagens mit,
mit neuen Pferden waren sie zu dritt.
 
Fünf Männer gingen beim Wagen,
ihre Speere bereiteten Osar Unbehagen.
Sie hatten schmale Augen und waren von kleiner Statur,
nur in Leder gekleidet, die Häute gebunden mit einer Schnur.
 
„Was wollt ihr mit mir“, wagte Osar zu fragen,
doch er hörte sie nur etwas in einer fremden Sprache sagen.
Sie wirkten fröhlich, zufrieden mit ihrem Fang,
zeigten das deutlich mit ihrem stolzierenden Gang.
 
Bald schon erblickte Osar, wohin ihre Reise ging.
Er sah eine Stadt, wo der Fluss formte einen Ring.
Auf einem hohen Hügel, stolz sie stand,
mit einem hohen Holzwall am unteren Rand.
 
Stolz blickten die Männer zur Stadt hinauf,
einer schubste Osar und zeigte darauf.
Siehst dieses Prachtstück, schien sein Blick mitzuteilen,
dann zerrte er noch einmal an Osars Seilen.
 
„Itra-Kar“, sprach er nach vorne deutend,
es war der Name der Stadt, das war einleuchtend.
Man zwang Osar abzusteigen, was er willig tat,
sodass er gehend die eigenartige Stadt betrat.
 
Die äussere Pracht der Stadt täuschte, wurde Osar klar,
denn innerhalb der Mauern, sie viel bescheidener war.
Die langen, tiefen Hütten aus Lehm und Ästen angelegt,
die Strassen schmal und sehr chaotisch verlegt.
 
Doch mittendrin ein Schloss, rund und erhöht,
so prachtvoll, der Kontrast schien unerhört.
Viel zu sehen gelang es Osar nicht,
man führte ihn in einen Hof mit wenig Sicht.
 
Dann ging es in ein Haus rein,
und in einen dunklen Schacht hinein.
Hier auf rohem Boden war ihm der freie Gang verwehrt,
der Schachtzugang wurde mit einem Eisengitter abgesperrt.
 
In halber Dunkelheit, es schienen Ewigkeiten zu vergehen,
das wenige Tageslicht bekam er kaum zu sehen.
Das Essen wurde ihm in einem Korb gereicht,
war meist altes Brot, in Milch aufgeweicht.
 
„Was wollen sie mit mir?“, so fragte sich Osar doch täglich,
im kalten, engen Schacht so hilflos und so kläglich.
Er zählte die Tage und bald merkte Osar,
dass der fünfte Tag sein Geburtstag war.
 
Er erinnerte sich, was die Hexe Lola hatte ihm von Trojan gelernt,
der Tag des Gottes war nur einen Tag von seinem Geburtstag entfernt.
Trotz Müdigkeit, starren Gliedern und einem knurrenden Magen,
baute er um sich drei Türmchen aus Steinen, die am Boden lagen.
 
Als dann der Tag des Trojan endlich anbrach,
war Osar sehr früh schon wach.
Mit einer runden Linie verband die Türme er in einem Kreis zusammen,
und setzte sich ins Zentrum, so, dass diese rund um ihn zu liegen kamen.
 
Tief atmend suchte er die Ruhe in sich,
bis eine schwere Last von seinen Schultern wich.
Hoch konzentriert begann er zu Trojan zu sprechen,
um seine Angst und seien Schmerz zu brechen.
 
„Oh, Gott Trojan, als dein Seelensohn red‘ ich zu dir.
Hier sitze ich, eingeschlossen wie ein Tier.
Trojan, du Gottheit der Dreifaltigkeit,
spende Kraft und Mut in Ewigkeit.
Damit ich frei, wie in deinem Sinne,
mein eigenes Schicksal selbst bestimme.
Mein Drang nach Freiheit und nach einem Sinn im Leben,
soll mich antreiben bis zum Tode und meine Wege ebnen.
Und so erhöre mich, was ich aus meinem Kerker hier zu sagen habe,
und gib mir Kraft für meine Schicksalsgabe,
damit den wahren Weg ich zu wählen mag,
und wegen Hindernissen nicht versag‘…“
 
Nach diesem Hilferuf vergingen Tage,
bis sich bei Osar endlich änderte die Lage.
Männer zerrten ihn heraus aus dem Loch,
und liessen ihn sich waschen, da er bestialisch roch.
 
Zu ersten Mal an diesem eigenartigen Ort,
bekam er auch Fleisch und Käse, nicht nur eingeweichtes Brot.
Man liess ihn nicht so lange essen, schon wurde er erneut entführt,
und einem feierlich bekleideten und kleinen Mann vorgeführt.
 
Das Haus, wo er war, war gross und ungeteilt,
entlang der einen Wand waren Bänke eng verteilt.
In einer Ecke lagen Säcke, Stroh und Felle,
und in der Mitte eine grosse Feuerstelle.
 
Der Mann in Gewänden sass auf einem hölzernen Thron,
und sprach zu Osar in einem ernsten Ton.
Seine dunklen, schmalen Augen schienen Osar abzutasten,
keinen Augenblick wollten sie an einer Stelle rasten.
 
Des Mannes Worte waren fremd, Osar kannte nicht die Sprache,
durch Handzeichen doch, er glaubte zu verstehen die Sache.
Man führte ihn zu einem Platz, wo viele Leute sich befanden,
die eng gedrängt in einem Kreis um die Platzmitte standen.
 
Sie standen da, mit Blicken voller ungeduldiger Erwartung,
mit zurückhaltendem Respekt, Mitleid und Verachtung.
Der kleine Mann, der wohl der Häuptling war, kam ebenfalls,
mit einem schönen, weissen Stock und Ketten um den Hals.
 
Da waren viele Krieger, mit Speeren und Lederkleider tragend,
alle klein gewachsen, doch allesamt den Häuptling überragend.
Osar verstand, er hatte hier vor allen einen Kämpfer zu bezwingen,
nur auf diese Art er würde seine Freiheit schnell erringen.
 
Man führte ihn zu einem Tuch, wo viele Waffen lagen ausgebreitet,
schön hingelegt und auch seine Äxte waren da, schon vorbereitet.
Er ignorierte all die Schwerter, Schleudern, Speere, Messer,
nur mit seinem Beil und der doppelschneidigen Warägeraxt fühlte er sich besser.
 
Sich seiner Taten nicht bewusst, leicht unsicher nur,
band beide Äxte er zusammen mit einer Schnur.
Dann trat er in den Kreis, mit diesem dreischneidigen Gebilde in der Hand.
Er atmete den Wind der Freiheit, fühlte unter sich den kühlen Sand.
 
Mit einem Blick voll unterdrückter Freude,
trat ein Kämpfer aus einem anliegenden Gebäude.
An Osar er trat heran, ein Speer haltend in seinen Händen,
mit Kopftuch und einem Lederumhang um die Lenden.
 
War klein, doch muskulös, beweglich,
ein schwerer Gegner, sagte Osar zu sich selber.
Er wusste nicht, wer und was dieser Mann hier war,
ob kämpfte er für Freiheit oder nur für Ehre er gewann.
 
Doch für Osar selbst, es war eines klar,
der erste Zweikampf auf Leben und Tod es war.
Des Sieges sicher trat der Kämpfer vor,
mit Überlegenheit hob er sein Speer empor.
 
Osar dagegen, war müde, schwach,
gleichgültig hielt er sich mit Mühe wach.
Doch als der Kampf begann, so fühlte er die Kräfteflut,
der Drang nach Leben heizte auf sein Blut.
 
Der Fremde schwang geschwind, gezielt den Speer,
mit seinen Äxten setzte sich Osar zur Wehr.
Mit konzentriertem Blick schien er nur den Speerspitz zu sehen,
und schaffte es, ihn mit Gegenhieben aus seiner Todesbahn zu wehen.
 
Osar, die gegnerischen Stösse immer kräftiger und flüssiger abwehrte,
bis des Gegners Speer plötzlich zwischen den verbundenen Äxten klemmte.
Die Speerspitze kontrollierend, drückte sie Osar zu Boden und mit Kraft,
brach mit einem Fusstritt er entzwei den holzigen Schaft.
 
Der Gegner rasch ein langes Messer zückte,
und angriffslustig zu Osar rückte.
Doch als in Rage er weit nach vorne stach,
mit einem Axthieb Osar ihm das Handgelenk brach.
 
Der Kämpfer schaffte dennoch Osar zu verletzen,
bevor er aufheulte voller Schmerzen.
Da schlug Osar dem Mann die Faust ins Gebiss,
so kraftvoll, dass seine eigne Haut am Handrücken aufriss.
 
Betäubt fiel der Kämpfer wie ein Sack auf die Erde,
der Häuptling machte eine angewiderte Gebärde.
Nun warteten wohl alle auf Osars Todeshieb,
der aber bis auf weiteres ausblieb.
 
Osar liess seine Waffe aus den Händen gleiten,
da wurde er bejubelt von allen Seiten.
Rasch brachte man ihn in ein Haus,
versorgte seine Wunden, zog ihn aus.
Er wusch sich wieder, bekam zu essen viel,
bevor er in einen tiefen Schlaf verfiel.
 
Am nächsten Morgen wurde er sanft geweckt,
der Tisch war wieder voll gedeckt.
Ein Mann bedeutete dann Osar nach draussen zu gehen,
wo er sein Pferd aus Bolgar bekam zu sehen.
 
Der verletzte Kämpfer vom Vortag führte es am Seil,
beladen mit Osars Sachen, inklusive Axt und Beil.
Der Mann, mit respektvollem Blick Osar die Zügel übergab,
und mit huldigender Stimme eine unverständliche Rede von sich gab.
 
Erfreut nahm Osar sein Pferd wieder an,
und auch Nahrung und Wasser er bekam.
Sogleich ritt er los, erleichtert und frei,
gelobte im Stillen Trojans Götter drei.
 
Nicht einmal blickte zurück zu der Stadt,
wo man ihm so viel Unrecht und Leid getan hat.
Doch nun war er wieder frei auf Reisen,
liess das Vergangene hinter sich kreisen.
 
Mit seinem Blick stets nach vorne gerichtet,
vergass er bald, was man ihm hatte angerichtet.
Osar reiste weiter nach Osten, der Sonne und Sternen nach,
die Wälder noch immer unendlich, doch nicht mehr so flach.

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Konstantin von Gunten).
Der Beitrag wurde von Konstantin von Gunten auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.12.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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