Hartmut Wagner

Meine Mutter

Sie sagte nie, vor langer, langer Zeit zum Kind,

das ich einst war, wie moderne Mütter zu modernen Kindern

in modernen Filmen aus Amerika:

Hab dich lieb“, oder „Ich lieb dich!“

Nein, das nicht!

 

Sie liebte mich nur einfach an jedem neuen Tag,

in jeder Stunde und Minute und Sekunde.

Doch manchmal umarmte Luise, so der mütterliche Name,

mich sehr sacht und sprach: „Mein Junge,

du mein alleroberster und liebster Bester auf der Welt.“

 

Das stimmte und stand fest, so fest.

Und ich, ich hörte diese Worte gerne

und war glücklich und zufrieden.

Ja, das war meine Mutter, und alles, alles gut und schön und wahr.

Das würde auch so bleiben, immer.

Das war ganz klar. Das wusste ich genau.

 

Und einmal, auf Besuchstour zu meiner Lieblingstante Mimi

ins Ruhrgebiet nach Gladbeck,

es dämmerte, der Mond, die gelbe Scheibe, strahlte,

bemerkte ich, altklug wie je ein Junge von acht Jahren:

Guck mal Mutti! Der Mond springt auf und ab.

Er geht mit und begleitet uns.“

 

Ach, mein kleiner Schlaumeier!

Das sieht nur so aus.

Der hängt dort schon seit vielen, vielen tausend Jahren,

umkreist ganz langsam unsere alte Erde.“

Die Mutter lachte. Sie blickte freundlich auf das weise Kind herab.

 

Und ich dachte: Mann, ist meine Mutter schlau!

Sie weiß ja alles! Und wie schön sie ist! Mit dem großen blauen Hut,

den Seidenstrümpfen und dem blauen Glockenmantel,

den blauen Schuhen, den großen grauen Augen

und den weißen Lederhandschuhen, die meine Hand so gerne fühlt.

 

Ja, meine Mutter ist die Größte, Klügste, Beste,

Schönste und die Aller-, Allerliebste,

meine Mutter!

Und jeden Abend vor dem Schlafengehen

Mutter und Sohn, ein absoluter Höhepunkt,

sie kam und betete mit mir.

 

Lieber Gott, mach mich fromm,

dass ich in den Himmel komm!“,

doch nur bei wenig Zeit, sonst:

Oh, Jesu meine Freude, breit aus die Flügel beide

und nimm dein Küchlein ein. Will Satan mich verschlingen,

lass deine Englein singen. Dies Kind soll unverletzet sein!“

 

Das Beten, formaler Akt, Ritus, äußerlich, ich, inzwischen 73, Atheist,

viel wichtiger war die Mutter, diese liebevolle Frau!

Mein Stern, mein Anker, Ein und Alles!

Dann ging sie. Doch die Schlafzimmer-, die Küchentür,

sie blieben einen Spalt weit offen.

 

Die Mutter klapperte mit Tellern. Sie war da, und alles gut.

Geschirr-, Besteckmusik, sie klirrten leise,

und wiegten mich in einen

tiefen Kinderschlaf weitab von allen Nöten,

so selig friedlich.

 

Doch einst an einem kalten, dunklen Januarmorgen,

da saß die Mutter wie krank in ihrem Sessel, weinte.

Und dicke Tränen rollten lautlos über ihr Gesicht.

Ganz ruhig saß sie da und weinte, weinte, weinte,

erschöpft und kraftlos, nieder gedrückt vom Alltag, Mühen, Ängsten, Sorgen.

Meine Mutter weinte!

 

Das war völlig unmöglich! Unerhört!

Und doch, die Mutter, meine, weinte!

Aber mit jeder Träne wuchs sie immer tiefer mir ins Herz.

Dann kam der Abschied und sie ging für immer

in das Schreckenstal, den finsteren Schlund des Todes.

Welche Qual und welches Leid!

 

Sie starb an einem trüben Tag im März des Jahres 1986,

lag später ruhig, ein leichter zarter Vogel,

in der Leichenhalle des kleinen Ergster Sembergfriedhofs.

Von draußen sackten schwarze Drosseltöne in die Ewigkeit.

Und alles war des Todes, auch in mir.

 

Nur eines nicht: Die Liebe meiner Mutter

blüht und blüht und blüht noch immer

in meinem Inneren, der Seele und dem Herzen,

und blüht für

Menschen, Tiere, Pflanzen und die ganze Welt.

 

Die Worte strömten mir, dem mittlerweile 73 Jahre alten Greis,

jetzt wie früher Mutterliebe zu,

auf einer Liege des Hotels Sensimar, Mallorca, im Oktober

und die Meereswellen plätschern und die Sonne scheint.

 

 

Cala Ratjada, 28.10.2017, Donnerstag , acht Uhr morgens

Ich war das jüngste von fünf Kindern, und mein Vater starb schon im Winter 1943, also vor meiner Geburt am 10.7.1944, an einer Kriegsverletzung Was es heißt, in dieser schrecklichen Zeit fünf Kinder groß zu ziehen und 1954 ein eigenes Haus zu bauen wie meine Mutter, das kann nur ermessen, wer in dieser ärmlichen Zeit aufgewachsen ist.

Meine Mutter hatte keinen Beruf erlernt und bis zur Eheschließung als Hausmädchen gearbeitet. Sie hat sich unglaublich darüber gefreut, dass ich, ihr Jüngster, einen Universitätsabschluss erlangt habe. Leider hat sie nicht mehr erlebt, dass eine ihrer Enkelinnen sogar mit der besten Note promoviert hat und heute als Biologieprofessorin arbeitet. Und sicher hat meine Mutter in ihrem Leben mehr als ich und vielleicht sogar mehr als meine professorale Nichte geleistet, aus Liebe. 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.10.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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