Hartmut Wagner
Kraniche: Nach Süden! Nach Süden!
Am Ufer der Ruhr radele ich von Ergste nach Schwerte,
ein lichter, sonniger Nachmittag, 2017, novemberfrisch.
Da höre ich sie, ganz hoch oben, irgendwo über mir! Lebensfreudemusik!
Schreie, Sehnsucht nach Abenteuer, Ferne und Liebe, unverwechselbar, laut!
Nach Süden! Nach Süden! Sonne und Farben!
Wärme und Weite! Wind, Sand und Sterne!
Ich halte an, blicke hinauf in milchiges Herbstblau.
Kraftvoll durchpflügt den Himmel ein riesiger Kranichschwarm,
wohl geordnet zum windschnittigen Keil.
Die Kraniche rufen, erzählen, singen und reden
von sanften Wellen, sandigen Stränden am Meer, heißen Wüsten,
ihren kurvigen Dünen und glühenden, einsamen Steinen,
den breiten, gigantischen Flüssen des tropischen Afrikas,
gelblehmigen Fluten, Krokodilen, Flusspferden, Fischen, Kongo, Nil, Niger.
Die Vögel erblicken uns unten, ameisenklein, winzig.
Zäune und Grenzen, Verbots- und Verkehrsschilder, Ämter, Behörden,
Anträge, Formulare, Ausweise, Steuernummern, Kreditkarten?
Was ist das? Brauchen wir das? Vom Winde verweht!
Die Kraniche fliegen und fliegen, nach Süden, nach Süden, ohne Gepäck!
Wild sind sie, mutig und frei und viele, sehr viele!
Jeder Einzelne ein Anderer und doch mit den Vielen zusammen!
Manchmal, da kreisen die Vielen an einem Ort, ab und zu ziemlich lange.
Der Flugkeil zerfließt zu scheinbar chaotischem Schwarm!
Doch plötzlich, weiter und weiter! Der Weg wieder klar! Nach Süden, nach Süden!
Ich sehe die Vögel und höre, bestaune sie immer wieder,
siebzig Mal schon und mehr, stets aufs Neue im Herbst.
Ich liebe sie, den kühnen Höhenflug, ihren Vorwärtsdrang, ihre Gesänge
und wünsche ihnen viel Glück für die Reise,
warmweiche Nester im grünprächtigen, üppigen Regenwald.
Die Kraniche ziehen im Oktober, November, verlassen uns,
Nebel, Regen und Schnee, blattlose Bäume, graue, lichtlose Tage so kurz,
finstere Dunkelheit, endlose Nächte. Uns bleiben Träume!
Vom lieblichen Frühling und Sommerhitze. Nach Süden! Nach Süden!
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.11.2017.
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