Der Schrei
(Christi Kreuzesworte, Marias Tränen
und die Tröstung des Simon Petrus)
Immer, wenn die Zeiten schwierig werden,
verbrennt man den Mann,
bis die Frau zur unkontrollierbaren Flamme wird.
Dann ruft man nach jemandem, der die Karre wieder aus dem Dreck zieht.
Einem starken Mann.
Alle rufen. Männer, Frauen, und irgendwann rufen auch die Tiere, die Pflanzen und die Natur.
Und dann entdeckt man den letzten Mann
irgendwo in einem Gefängnis,
und der, der ihn entdeckt, erinnert sich, dass es Christus ist.
Doch jener ausgezehrte Mann im Kerker
ruft nach einer Frau, seiner Geliebten, die er ewig nicht gesehen hat.
Er ruft drei Mal.
Und der Freund ist fürchterlich enttäuscht, dass er nicht ruft:
"Petrus, wie schön, dass du da bist!"
Er hört ihn drei verschiedene Dinge rufen.
Zuerst "Eli!"
Dann "Ela!"
Und dann: "Verpiss dich!"
Beleidigt zieht er von dannen, denn er glaubt,
Christus hätte alles vergessen,
wofür er angetreten war.
Doch was er nicht weiß,
ist, dass sie Christus im Kerker
Rauschtrank und Drogen gegeben haben,
von deren Dünsten auch er sofort angesteckt wurde, als er dort war,
doch dass er den Bann brach, sobald er eintrat.
Sofort hatten Christi müde Augen den Freund erkannt.
Doch seine Zunge lag schwer im ausgedörrten Mund.
Und er rief zuerst nach dem, was er am meisten brauchte.
Als der Freund gegangen war und traurig draußen verkündete:
"Christus ist gestorben!",
richtete er sich in seinen Ketten auf und schrie:
"Nein, du Idiot!"
Der Schrei hallte draußen wieder
und verfolgte den Freund wie ein Fluch.
"Verräter!", dröhnte es seinen Ohren,
und "Shimon, warum ausgerechnet du!"
Und der Freund lief und lief,
bis vor die Stadt.
Dann brach er zusammen,
und weinte bitterlich.
***
In der Welt machte dieser Schrei Furore als der Ausspruch Nietzsches
"Gott ist tot!",
und die Atheisten, die ihn für sich reklamierten,
überhörten den Halbsatz danach:
"Gott ist tot, und die Welt stürzt ins Dunkel.",
übersahen, dass dies kein Triumphschrei war,
sondern ein Ausruf tiefster Qual,
die Nietzsche in den Irrsinn führte;
der aber abgemildert wurde durch die Liebe vieler Menschen
und das Mitleid, das er mit einem geschlagenen Droschkengaul hatte.
***
In den Gelehrtenstuben diskutierte man,
ob Eli "Feuer" oder "Wasser" oder "Feuerwasser" hieß,
der Name eines Propheten,
einer Stadt,
oder des Getränks war,
mit der die Missionare und Eroberer
die Indianer abhängig machten,
während Bob Dylan auf der Bühne von Manchester schon sang:
"Du gehst bei Gelehrten ein und aus,
und sie schätzen deine Erscheinung,
mit berühmten Anwälten diskutierst du
Leprakranke und Verkrüppelte,
du hast dich durch alle Bücher von F. Scott Fitzgerald gearbeitet,
du bist sehr belesen, das ist bekannt;
aber hier passiert etwas, und du weißt nicht, was ist, nicht wahr, Mr. Jones?",
und wie von einer Ohrfeige getroffen taumelte,
als jemand im Publikum danach "Judas!" rief,
und er benommen antwortete:
"Ich glaube dir nicht, du bist ein Lügner!",
und sein zu seiner Band gewandter, vom Mikrophon noch aufgefangener Ausruf:
"Spielt verdammt laut!",
"Play fucking loud!"
in der Welt ringsum zu hören war als "Dylan goes electric!"
"Dylan spielt jetzt E-Gitarre!",
aber als Gemälde von Munch bereits im 19. Jahrhundert das ahnende Erschauern vor dem ersten Weltkrieg spüren ließ,
das C.G. Jung in einem Traum bereits wieder als blutiges Kreuz wahrnahm
und Europas Untergang befürchtete,
in Sarajewo zu den Schüssen auf den österreichischen Kronprinzen wurde,
um das Ende der Monarchie einzuläuten,
und
in den unterirdischen Katakomben widerhallte
als
"I am the God of hellfire
and I bring you...fire!",
sodass Angus Young zur Gitarre griff,
"Highway to hell" spielte,
und Chuck Berrys Duck Walk imitierte,
im völligen Einklang mit den gemordeten und misshandelten schwarzen Sklaven Amerikas,
aber dennoch herhalten musste als Vorbild weißer Rassisten und Satanisten,
die Black Metal spielten und in Norwegen Kirchen abfackelten,
weil sie sich die Rückkehr Odins und den Sieg der weißen Rasse wünschten,
da sie nur noch das Echo der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki hörten,
in dem die Stimmen von Goebbels und Hitler widerhallten,
die riefen:
"Wollt ihr den totalen Krieg?"
und
"Seit 5 Uhr 35 wird jetzt zurückgeschossen!",
während in Jerusalem 50 Tage nach Christi Tod blaue Flämmchen zu sehen waren,
die sich auf die Köpfe der Jünger setzten,
während Petrus seine Pfingstpredigt hielt,
von denen er wusste, dass es der angekündigte heilige Geist war,
der selbe Schrei zu hören war als Jesu Ruf nach der Geliebten ,
"Maria Magdalena!"
im Film "Die letzte Versuchung Christi",
der in der Begegnung beider im Garten vor dem Grab
zu einem überraschten "Rabbuni!"
und einem besänftigenden
"Sag es jetzt noch nicht."
wurde,
sich aber durch das freudige Verkünden Marias
bald wie ein Lauffeuer unter den Jüngern bekanntmachte,
zu einer Freude für das ganze Volk
und den abgewischten Tränen Petri wurde,
jedoch bald wegen Unglauben und Blasphemieverdacht
in die Steinigung des Stephanus,
jahrhundertelange Christenverfolgung,
Krieg, Hader und Zerwürfnisse führte,
die im Himmel von Maria Mutter aber umgewandelt wurden
in milde Wundsalbe
und gute Worte,
und die als tröstender Regen
auf die Leidenden und die trockenen Felder niederging,
und als Bob Dylans Tränen zu sehen war,
als er in Newport nach den Buhrufen
seine Akustikgitarre holte und
"Mr. Tambourine Man"
und
"It's all over now, Baby blue"
spielte,
und
Simon Petrus klar wurde,
was Jesus wirklich aus erstickter Kehle
murmelte, als er vor ihm stand:
"Wasser!"
© by Patrick Rabe, 29. Februar 2020, Hamburg.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.02.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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