Patrick Rabe

Californischer Wein

 

(ein amerikanischer Hymnus in 4 Teilen)

 

 

Aion of Noia

 

„Mir ist langweilig!“, sagte das kleine Mädchen.

„Du störst mich in wichtigen Überlegungen.“, sagte der Vater.

„Bei was denn?“, fragte das Mädchen.

„Das verstehst du nicht.“, sagte der Vater.

“Du bist klein, und du bist ein Mädchen.“

 

Ihm, dem berühmten Theologen,

der jahrelang in seiner Kirche darum gekämpft hatte,

dass man „Metanoia“  nicht mehr mit „Buße“,

sondern mit „Neu verstehen“ übersetzen müsste,

war aufgefallen,

dass das zweite Wort davon, „Noia“

rückwärts gelesen „Aion“, also „Zeitalter“ bedeutete.

Am Ende des Zeitalters,

so hieß es in der Bibel,

würde Jesus wiederkommen.

 

Seine Tochter sah ihn unverwandt aus neugierigen Augen an.

Und er konnte nicht anders.

Versonnen murmelte er:

„Weißt du, was Noia heißt?“

 

„Ja!“, sagte sie,

„Mädchen!“

 

Der Vater sprang vom Stuhl auf

Wie von der Tarantel gestochen.

 

„Du ungehöriges kleines Ding!

Das heißt ‚Verstand‘!“

 

„Versteh ich nicht!“,

rief das Mädchen.

 

Wütend schlug der Vater

ihr mit der flachen Hand

ins Gesicht.

 

„Geh in dein Zimmer, du ungehörige Göre!“

 

Weinend lief das Mädchen raus.

 

Seine Ehefrau,

die mit dem Essen beschäftigt war,

stellte das Radio an.

 

„Weiterhin Unruhen zwischen der Black Lives Matter-Bewegung, Polizei und Regierungstruppen.“,

sagte der Sprecher.

„Der Corona-Virus breitet sich rasend schnell aus.

Das Institut für die Erforschung psychischer Krankheiten in Washington

meldet einen drastischen Anstieg

von paranoider Schizophrenie

mit politischen und religiösen Inhalten.

Das Wetter: Strahlender Sonnenschein mit goldener Corona.“

 

Plötzlich klopfte es an der Tür.

Der Vater ging hin.

Draußen standen Soldaten.

 

„Sie haben doch einen wehrpflichtigen Sohn

von 21 Jahren

namens William John?

Wir müssen ihn zum Dienst im eigenen Land einziehen!“

 

„Sie liegen daneben.“, sagte der Vater,

„Ich habe eine 12-Jährige Tochter

namens Billie Jean.“

 

„Das ist doch dasselbe.“, sagte der Soldat

und schob sich eine Paranuss in den Mund.

 

„Wie bitte?“

 

Dem Vater blieb der Mund offen stehen.

 

„Alles eine Frage des Standpunktes!“,

sagte der Soldat.

„Wir müssen ihre Tochter jetzt einziehen.“

 

„Haben sie dafür überhaupt einen dokumentierten Befehl,

den sie mir zeigen können?“,

 

fragte der Vater.

 

„Brauchen wir nicht mehr.“, sagte der Soldat,

„Das wurde wegen der nationalen Lage

und wegen Gefahr in Verzug

abgeschafft.“

 

„Wir brauchen nur eine Unterschrift von ihnen,

falls ihre Tochter noch nicht volljähig ist.“

 

„Sie spinnen wohl!

Die kriegen sie nicht!“

schrie der Vater.

 

„Verweigerung, oder?“,

fragte der eine Soldat seinen Kameraden nuschelnd,

und schob die Paranuss in die andere Backe.

 

„Jep!“, sagte dieser nüchtern,

zog das Gewehr

und schoss dem Vater in den Bauch.

Mit einem erstickten Schrei

fiel er auf die Dielen

des Eingangsbereiches seines Hauses.

 

Die beiden Soldaten sahen einander mit glasigen Augen an.

„Nichts weiter zu tun, oder?“, fragte der eine.

„Nö.“, sagte der andere.

„Die Order gibt nix anderes her.“

 

Die beiden grinsten sich an,

und gingen.

 

Drinnen stellte die Mutter das Essen auf den Tisch.

„Lecker, Mami!“, rief die Tochter.

Voller Vorfreude setzten sich die Beiden

und füllten das Essen auf die Teller.

 

Im Hausflur stöhnte der Vater.

 

Die Mutter zuckte mit den Achseln,

 und begann, zu essen.

 

Zum ersten Mal seit unzähligen Jahren

hatten Mutter und Tochter

vorher nicht gebetet.

 

 

***

 

 

Worterklärungen:

 

Noia, altgriechisch: Verstehen, Verstand.

 

Noia, katalanisch: Mädchen, Langeweile, langweilige Person, Störung.

 

Metanoia, altgriechisch (biblisch): Umdenken, weiter denken, neu verstehen,

von einer höheren Warte aus verstehen.

Luther und alle folgenden deutschen Bibelübersetzer übersetzten dieses Wort mit „Buße“.

 

Paranoia/Paranus: Neben dem Verstand. In der Psychologie und Psychiatrie ein Begriff für eine Erkrankung bzw. psychische Störung, in der der Patient wahnhaft alles auf sich bezieht und überall Verschwörungen politischer oder spiritueller Art wittert.

 

Aion: Zeitalter, biblisch auch „Weltzeit“ oder generell „Zeit“. Damit ist der Ablauf der Zeit von Jesu Himmelfahrt bis zu seiner Wiederkunft gemeint. Luther übersetzte „Aion“ einfach mit „Welt“. Daher kommen auch die ganzen Vorstellungen von einem „Weltuntergang“ im Zusammenhang mit „Armageddon“ und der Offenbarung (Apokalypse) des Johannes. Die Griechen und andere Völker und Religionen verstanden unter „Aion“ einfach nur ein Zeitalter im Sinne einer geschichtlichen Epoche, nach dessen Ablauf ein neues kommt.

 

 

***

 

Als die Alligatoren die Gullis verließen

…kamen die Ratten aus ihren Löchern

 

(Amerika, Update 2020)

 

Hab nie gesagt, ich bin subtil

und sanft wie eine Feder,

ein veritables Krokodil

bin ich und zieh vom Leder.

 

Und dabei bleibt es dann auch nicht,

sagt ihr es auch der Presse,

ich lösch euch euer Funzellicht,

und schlag euch in die Fresse.

 

Denn wer mir vor den Karren pisst,

den hau ich von der Straße,

bin kein Poet, kein Mensch, kein Christ,

ich mess mit ander‘m Maße.

 

Das Tier in mir, das war erwacht,

als sie mein Türholz brachen,

 da wusste ich: `s heißt „Gute Nacht!“,

die sprechen and’re Sprachen.

 

Und nicht in Zungen, engelsgleich,

sondern mit Faust und Knarren,

die Diktatur, das vierte Reich,

ganz ohne Hitlers Schnarren.

 

Man schütze Staat und Republik,

Demokratie und Recht,

erlaubt sei mir ja die Replik,

würd mir beim Sterben schlecht.

 

Ich könnt‘  die Polizei verklagen,

grinst fröhlich-frech der Bulle,

dürft nur nichts gegen Bullen sagen,

und haut mich platt wie Stulle.

 

Das sind Momente, da vergisst man

glatt das zarte Dichten.

Demokratie braucht Klartext:

Einen Feind muss man vernichten.

 

Und wer mir meine Tür zerschlägt

und nachts mich überrumpelt,

mich unsanft auf die Fresse legt,

der ist mir nicht verkumpelt.

 

Schreist du zu laut: „Demokratie“,

nimmst ihre Werte ernst,

dann schlachten sie dich ab wie Vieh,

damit du etwas lernst.

 

Zum Beispiel, dass es sie nicht gibt,

sondern, dass „Oben“ siegt,

und dass ein Herrscher es nicht liebt,

wenn er nicht oben liegt.

 

Am besten lernt man ja als Toter,

wusste schon Britney Spears,

entpuppst du dich als echter Roter,

kein Schläger sich mehr ziert.

 

Und ungläubig, weil du was glaubst,

so blinzelst du zur Sonne.

Sie stimmt dir zu: kein Licht du raubst,

der Müll kam aus der Tonne.

 

Man hatte wohl die Eigenliebe

mit Hitler weggeschmissen,

 das Kind im Bad, gesunde Triebe…

Ergebnis ist beschissen.

 

Hab nie gesagt, ich bin subtil

und singe süße Lieder,

ich sah noch nie ein Krokodil,

doch es trägt kein Gefieder.

 

 

***

 

Staubsturm

 

Es klopft an der Tür. Wer da?

"Gestatten, ich bin der vielköpfige Affenmensch,

der die Monde seiner Mörder wie Fußbälle

im Fischernetz über dem Rücken trägt."

 

"Danke, angenehm", sagt die Kleine mit den blutroten Lippen,

"Ich bin Sweet Little Sixteen. Treten sie ein."

 

Und ich trete ein.

Als erstes trete ich die gute Kinderstube von Sweet Little Sixteen ein.

Nichts bleibt davon übrig.

Die wohlerzogene Kleine wird vollends zur geilen Konkubine,

bereit, die bürgerliche Bravheit dieses Ortes mit brennendem Blick

im Schlangengift der Königskobra zu ertränken.

 

Vater, Mutter und zwei kleine Schwestern.

Vater höflich, aber argwöhnisch, Mutter nervös und servil.

 

Abendbrottisch. Wir beten.

"Sei höflich.", sagt der Vater, "Reich dem Herrn die Butter."

Sweet Little Sixteen reicht mir die Butter

und Herz, Lippen und Muschi

über den Tisch.

Vater spricht von Politik.

"Unser Präsident ist so ein guter, gottesfürchtiger Mensch."

Ich nicke und sage: "Auf eine weitere republikanische Amtszeit."

Die schwarze Sklavin schenkt uns Quellwasser ein.

Voodoo Child.

Wir gehen ins Bett.

 

Mein Jagdmesser steht schwanzsteif in äffischer Hand.

Jetzt bin ich ihr Herr und mein Messer ihr Abschiedsgeschenk.

Ich bade meinen Penis in ihrem Blut.

 

Morgens entlasse ich die schwarze Sklavin

und fliehe auf dem dreckigen Schimmel des Hausvaters.

Hinter mir die Kleine mit den blutroten Lippen.

Sie presst sich schwitzend an mich,

Sweet Little Sexteen,

ihre Brüste sind Munition in meinem Rücken.

Und wir reiten in den Staubsturm,

von der Sonne gegerbt.

The men don't know, but the little girls understand.

 

 

 

Inspiriert von den Dust Bowl Ballads des Amerikas der großen Depression.

 

***

 

Merica (Süße Californen)

 

Siehst du nicht, der süße Wein

wird für dich gemostet?

Ich werd weiter bei dir sein,

bis du ihn gekostet.

 

Blut und Feuer in der Nacht,

schwarze Früchte fallen,

da hast du mich angelacht:
„Liebe gehört allen!“

 

Und der bleiche Leichenzug

Wackelt durch das Dunkel,

ihre Stimmen sind wie Trug

in unserm Gefunkel:

 

„Ja, mit Messern ritzen wir

alle Aktivisten,

opfern sie dem großen Tier,

ficken sie zu Christen!“

 

Wer es sah, America,

ist vor ihm geflohen,

kam erst westwärts wieder klar,

in des Satans Lohen.

 

Schob sich seine Leiche rein

in die eig’ne Möse,

rief mit zitterndem Gebein:

„Christus, komm, erlöse!“

 

Doch ich brannte, und ich bleib,

leg ihn dir zu Füßen,

meinen dir geweihten Leib,

und den Most, den Süßen.

 

Und ich tauche in dich ein,

fahre tief hinab,

immer will ich bei dir sein,

in der Sonne Grab.

 

Und sie leuchtet, und sie scheint

in geheimen Bornen,

und dort essen wir vereint

süße Californen.

 

*****

 

(Bllie Eilish gewidmet)

 

 

© by Patrick Rabe,  August 2020, Hamburg

 

 

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Patrick Rabe).
Der Beitrag wurde von Patrick Rabe auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.08.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Patrick Rabe als Lieblingsautor markieren

Buch von Patrick Rabe:

cover

Gottes Zelt: Glaubens- und Liebesgedichte von Patrick Rabe



Die Glaubens-und Liebesgedichte von Patrick Rabe sind mutig, innig, streitbar, vertrauens- und humorvoll, sie klammern auch Zweifel, Anfechtungen und Prüfungen nicht aus, stellen manchmal gewohnte Glaubensmuster auf den Kopf und eröffnen dem Leser den weiten Raum Gottes. Tief und kathartisch sind seine Gedichte von Tod und seelischer Wiederauferstehung, es finden sich Poeme der Suche, des Trostes, der Klage und der Freude. Abgerundet wird das Buch von einigen ungewöhnlichen theologischen Betrachtungen. Kein Happy-Clappy-Lobpreis, sondern ein Buch mit Ecken und Kanten, das einen Blick aufs Christentum eröffnet, der fern konservativer Traditionen liegt.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Abenteuer" (Gedichte)

Weitere Beiträge von Patrick Rabe

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Entspannung in Altbauwohnungen (Deutschland, 80er Jahre) von Patrick Rabe (Gesellschaftskritisches)
WILDER KAISER von Paul Rudolf Uhl (Abenteuer)
Surreales... von Paul Rudolf Uhl (Reime)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen