Patrick Rabe
Angezählt
(Da ja vielleicht auch Kinder hier draufschauen: Ich würde den Text gemäß Jugendschutzgesetz ab 18 freigeben. Und für Jugendliche, die literarische Texte schon einordnen können, und ihn hinterher mit Eltern oder Lehrern besprechen können. Also ab 16. Verhindern, dass Kinder das hier lesen, kann ich nicht. Die ganze Seite e-stories ist eigentlich für Erwachsene. Bis auf den Themenbereich "Gedichte für und von Kindern". Daher werde ich sicher nicht immer daran denken, über jedes meiner Gedichte, eine Altersleseempfehlung zu schreiben. Danke.)
Angezählt
In traumlogischer Fließbewegung schlängelt sich der Zähler in meinen Raum.
Ich rechnete nicht mit ihr, denn es war eine sie.
Sie brach die Nacht auf, wie das Rütteln eines Streichholzes
an der verschlossenen Tür
meiner stählernen Hassmonster.
Gurkentierartig beugte sie sich über mein vollgeschissenes Klo,
und fürchtete,
von mir mit dem Gesicht da hineingedrückt zu werden,
und dann von hinten vergewaltigt zu werden.
Das ist ja auch ganz normal, dass man das mit Zählerinnen macht.
Dass es allerdings nicht so ganz normal ist,
dass Zählerinnen um 19 Uhr erst kommen,
stand nicht zur Debatte.
Angesagt war es zwei Tage vorher um 7 Uhr morgens.
Kann ja auf einer Zeigeruhr mit arabischen Zahlen auch dasselbe sein.
Aber ich fragte mich genau das, was sich 1996 Dirk von Lowtzow fragte,
nämlich, ob es an der Zeitumstellung liegt,
und jodelte ihr ihre außerirdische Glühenergie
aus dem Kopf in alle nur verfügbaren technischen Geräte mit Funksignalen,
und erwürgte die Unlogik ihrer Worte,
sie wisse nicht genau, welchen Zähler sie ablesen solle,
den an der Heizung, den an der Wasserleitung,
oder die an meinen beiden Rauchmeldern
mit reiner Freundlichkeit,
indem ich ihr einfach alle zeigte, und ihr anbot,
auf alle davon einmal zu drücken,
und als ich sah, dass sie an die Feuermelder einfach nicht rankam,
gab ich ihr eine Tritt
leiter, mit der sie an die Melder tippte.
Ich verstand sie.
Sie dachte wohl einfach, es wäre die Leiter aus „The Ring“,
und dass man nicht unter Leitern durchlaufen soll.
Vor allem nicht unter unisoliert runter hängenden Stromleitern.
Da krachte wieder der Geduldsfaden
meines Nachbarn als wasserschadenhafte Glasnudel durch die Decke,
wodurch die Zählerin einen appallischen Schock erlitt.
Total professionell faltete ich sie als oranges Origamischiffchen zusammen,
und streichelte sie mit den zarten Worten:
„Ja, ich weiß, du kommst selber aus der Klinik,
und sollst lernen, wieder ohne Angst zu fremden Männern
in die Wohnung gehen zu können.“
„Nicht ganz“, grinste sie spitzbübisch,
„Ich soll meine Angst vor Überwachung
und technischen Geräten verlieren.
Wir werden doch nicht überwacht?“
„Sag bitte nicht immer ‚wir‘. Das erinnert mich an Viren.“,
stotterte ich, was ich sonst nie machte.
Tief drang ich in sie ein,
was man schon fast invasiv
und übergriffig nennen konnte,
aber nur mental,
um den wahren Grund
ihres Kommens herauszufinden.
„Sie haben vor anderthalb Jahren den Zensus vergessen, nicht?“,
sagte ich begütigend.
„Den WAS?“.
Das Origamischiffchen entfaltete sich wieder.
„Die Volkszählung.“, sagte ich freundlich,
und mit einem warmen, wenn auch etwas schiefen Lächeln.
„Das, was sie damals in Nazareth, Bethlehem und Jerusalem machten.
Damals kam ja auch noch mal König Herodes hinterher,
der sich immer in der Zeit irrte,
und nicht merkte, dass seine abgelaufen war.
Der wollte ja eigentlich auch nur noch mal die Babys zählen.
Leider hatte er dafür nicht die englischen,
sondern die amerikanischen Hells Angels engagiert.
Also, falls du deswegen hier sein solltest:
Hier wohnt nur eine Person, männlich,
und Jesus bin ich nicht.“
„Schade.“, sagte sie.
„Sie sind so intelligent.“
„Wie heißt du eigentlich?“,
fragte ich schnell noch.
Sie hatte den Türgriff schon in der Hand, um zu gehen.
Und irgendwie war sie wirklich hübsch.
Man konnte ja nie wissen.
Es konnte ja auch die Einsamkeit sein,
die einen so wunderlich machte.
Aber sie war praktisch schon draußen.
„Salome.“, sagte sie freundlich.
„Und; ich kenne die Bibel.“.
Sie schloss die Tür.
Es war stockdunkel.
Ich hörte draußen etwas durch die Luft sausen
wie einen Husarensäbel.
Erschreckt riss ich die Tür wieder auf.
Mein Nachbar hatte sein Samuraischwert
aus der Wohnung nach der Zählerin geworfen,
und es war in der gegenüberliegenden Wand stecken geblieben.
„Eins, zwei, eins zwei.“, sagte die Zählerin vor sich hin
und nahm ihren Igelball aus der Tasche
um ihn fest in ihre gerötete Hand zu pressen.
„Gut, dass sie ihre Skills hat.“, dachte ich.
Und dann noch:
„Salome sagte lächelnd: ‚Du wirst mir alles geben, was ich will, wenn ich für dich tanze, Herodes?
Dann gib mir den Kopf von Johannes dem Täufer auf einer silbernen Schale.‘ “.
„Ich bin angezählt!“,
schrie mein Nachbar.
„Ja.“, sagte ich, und sah ihn seufzend an.
„Vir alle.“
© by Patrick Rabe
Freitag, 14. Januar 2022, Hamburg.
Da ich ja sonst immer so lange Linernotes zu meinen Texten schreibe, hier mal die Kurzversion. Namen, die ihr nicht kennt, könnt ihr ja googeln, oder welche Suchmaschine ihr sonst auch immer benutzt. Oder ihr guckt in ein Lexikon. Ist manchmal besser als Wikipedia.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.01.2022.
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