Patrick Rabe

Der Barbesuch

Dies ist zwar eine Kurzgeschichte und kein Gedicht, ich stelle sie aber hier unter "Gedichte" ein, weil ich ihr viele Leser wünsche. Ich glaube, eine Altersfreigabenempfehlung kann ich mir allmählich schenken, oder? Meine Texte sind alle ab 18 bzw. ab 16. Für dreijährige dürfte kein einziger davon zu verstehen sein. 
Patrick Rabe





Der Barbesuch

 

Ich war in dieser Bar nur ein einziges Mal. Es war keine merkwürdige oder anrüchige Bar. Sondern eine, die zu meinen Zeiten allen Leuten offen stand. Dass ich auch in diese Bar ging, war also überhaupt nicht merkwürdig. Es war nicht mal eine Nachtbar, jedenfalls nicht auf den ersten Blick und nicht nach der Bezeichnung, die an der Tür stand.

 

Ich ging eines Nachts hinein, als das Rotlichtviertel stark belebt war, und ich wieder einmal gute Musik hören wollte. Seit Wochen schon hatte niemand mehr dorthingedurft, und nun war es endlich wieder erlaubt.

 

Ich trat ein, lüftete den Hut, und setzte mich, da bestuhlt war, in den Kneipenraum vor der Bühne. Seit Wochen durfte die Musik, die ich liebte, schon nicht mehr gespielt werden.  Die Regierung hatte verkündet, das läge daran, dass die Menschen von dieser Musik grüne und blaue Beulen bekamen, sowie Zahn-und Haarausfall.  Es war der übliche Unsinn, und diente nur dazu, meine Berufsgruppe – ich bin Schriftsteller – zu schikanieren, und sie dazu zu zwingen, zu schreiben, was der Staat wollte.  An diesem Wochenende hatte Kanzler Rohbald aber wieder einmal die Pandemie, die durch die angeblich von mir preferierte Musikrichtung ausgelöst worden war, für beendet erklärt.  Das hatte er getan, damit wieder Geld in die Staatskassen floss. Denn wenn die Leute immer nur glaubten, krank zu sein, gaben sie gar kein Geld mehr aus. Jedenfalls nicht für staatstragende Dinge.

 

Nun war ich also da. In dieser dunklen, angenehm verrauchten Bar. Und sie spielten Vinal-Salunze, die Musik, auf die ich wirklich stand. Sie war zwar laut Wirtschaftsminister Gimmir Gelt nicht besonders marktfähig, aber die Realität bewies ständig anderes. Und Zahn-und Haarausfall bekam auch niemand davon,  geschweige denn grüne und blaue Beulen.

 

Neugierig sah ich auf die Band, die gerade spielte. Es war eine Mädchenband, bis auf den Pianisten, der, wie es bei Vinal-Salunze üblich war, an einer Art galgenähnlicher Vorrichtung kopfüber an den Füßen hing, und mit bunten Aufsätzen an den Fingernägeln das Spinett bearbeitete, das für echte Vinal-Salunze aus dem 17. Jahrhundert stammen musste. Die drei Mädchen allerdings spielten nicht, wie es bei dieser Musik sonst üblich war, wilde, verzerrte Töne an Gummisaiten, die zwischen ihren Brüsten gespannt waren, sondern fummelten sich andauernd in ihren Haaren herum, die sie mittels kleiner Plastikspangen immer wieder an der Bühnenbeleuchtung elektrostatisch aufluden.

 

Ich empfand das als etwas zu progressiv, denn ich mochte lieber Oldschool- Vinal-Salunze, aber der Sound war fast derselbe, und ich fand halt, dass die Mädchen auch ziemlich sexy aussahen. Sie hatten Vinal-Salunze im Plattenschrank ihrer Eltern entdeckt, und spielten nun ihre eigene Version davon.  Mir gefiel die Sache. Und die Mädels auch. Nu dachte ich manchmal insgeheim, dass es kein Wunder war, wenn manche Leute von dieser Musik Haarausfall bekamen, vor allem die Künstlerinnen selber. Doch dann begannen sie mit einem Lied, das mir sofort zeigt, wie sie die Sache meinten.  Es hieß „Reiß‘ dir an den Haaren rum, sie sind zu schön!“ und war ein Protestlied gegen die Regierung. Ich jubelte und klatschte. Einige andere Leute im Publikum fingen allerdings an, leise zu murren.  Den Mann neben mir hörte ich raunen: „Wenn die so weiter machen, haben wir bald wieder die Polizei da, und es müssen Krankenwagen kommen.“ Ich drehte mich zu ihm um und sagte freundlich:  „Sie dürfen nicht alles glauben, was die Regierung sagt. Diese Pandemie existiert nicht. Es hat noch nie jemand von einer Musikrichtung Beulen oder Haar-und Zahnausfall bekommen.“ 

 

„Sie sind wohl Schriftsteller, was?“, fragte der Mann etwas unhöflich.  „Ja.“, sagte ich. „Sieht man an ihrem Hut.“, bemerkte der Mann. „Den können sie hier drin abnehmen. Es regnet hier ja nicht.“.

 

Ärgerlich konzentrierte ich mich wieder auf die Bühne. Kurz fragte ich mich, ob es an meinem Hut liegen mochte, dass ich noch alle Haare hatte. Die Mädchen tanzten wild um den Pianisten herum, und schaukelten ihn an seiner galgenähnlichen Vorrichtung umher, um es ihm zu erschweren, die richtigen Töne zu treffen. Das machte man immer bei Vinal-Salunze so in der Mitte des Sets bei den wilden Liedern. Und zwar, damit sie für Radio-Hit-Hörer nicht mehr erkennbar waren, sich alteingesessene Fans dieser Bands darüber ärgerten, und alle gezwungen waren, ganz genau auf den Text zu achten, in den dann oft noch etwas ganz Subversives eingebaut wurde, was in der Radio-Version nicht vorkam. Zu dem gerade gesungenen Protestlied passte es ganz ausgezeichnet. Die Leadsängerin sah, dass ich gebannt auf die Bühne starrte. Sie grinste und rief: „Los, komm doch rauf!“. Ich stand auf, legte meinen Hut auf den Stuhl, auf dem ich gesessen hatte, und ging auf die Bühne. Dann ging alles ganz schnell.

 

Ich glaube heute, dass ich diese moderne Variante von Vinal-Salunze einfach nicht verstanden habe, und vielleicht doch auf den Rat meiner Mutter und meines Doktorvaters hätte hören sollen, die immer zu mir gesagt hatten: „Bleib immer gut behütet.“.

 

Jedoch, sobald ich auf den Bühne war, griff mir die Sängerin, die in der Mitte stand, mit vollen Händen in den Haarschopf und riss mir mit gewaltigen Kräften und irre lüsternem Blick mit einem einzigen Ruck alle Haare aus. Dann warfen die drei Mädchen die Klamotten ab, pressten mich gegen ihre nackten Brüste, an denen Knöpfe angebracht waren,  mit denen die typische Brustwarzenmusik der Vinal-Salunze gespielt wurde, und indem sie immer geiler und geiler wurden, wurde die Musik immer chaotischer und der Pianist an seinem Galgen baumelte bald wild herum und gelangte mit seinen Händen gar nicht mehr ans Spinett, dafür aber immer wieder auch an meinen oder den Körper einer der drei Sängerinnen.  Die drei Ladys warfen mich auf das Spinett und rissen mir die Kleider vom Leibe. Das letzte, an was ich mich erinnerte, war, dass der Pianist in meine Richtung schwang,  mit seinem Kopf gegen meinen knallte, und mir bei dem Aufprall alle Zähne aus dem Mund geschlagen wurden.  Dann kochte der Saal über und alle prügelten sich.

 

Der Arzt, der mich am nächsten Tag behandelte, sah mich nachdenklich an. „Sie müssen schon sehr lange an Vinal-Salunzitis leiden, nicht wahr?“ , fragte er.  „Nein.“, sagte ich, „Ich war gestern in einer Bar, da haben sie meine Lieblingsmusik gespielt, und ich hab‘ auf die Schnauze bekommen.“.  „Mhhh.“. Der Arzt runzelte die Stirn. „Offenbar löst die Gamma-Variante dieses Virus auch noch Lügen aus.“. Er krickelte irgendwas in seine Akte.

 

Ob die Bar, in der ich nur einmal gewesen bin, noch existiert, weiß ich nicht. Ich höre mir jetzt lieber wieder Vinal-Salunze zuhause an. Die jungen Leute, die das heute performen, verstehen diese Musik ja offenbar nicht mehr so richtig. Kanzler Rohbald wurde durch Kanzler Garbald ersetzt. Es wurde immer heißer. Der heißeste Sommer seit über hundert Jahren.

 

 

***

 

 

 

Patrick Rabe, September 2021, Hamburg.

 

© by Patrick Rabe, April 2022.

 

Meine Geschichte enthält natürlich Hinweise auf die Zeit der späten Weimarer Republik und auf die Jetzt-Zeit. Keep your eyes open. Don’t believe everything they tell you. Use your own head.

 

Patrick Rabe, 2. April 2022, Hamburg.

 

© by Patrick Rabe, April 2022.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.04.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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