Aylin

Die Erscheinung

Die Erscheinung

 

Es klingelt an der Wohnungstür. Gerade habe ich mich im Bett zum Mittagschläfchen eingemuckelt, meine obere Zahnreihe im Bad in die Dose gelegt. Das ist der Vorteil an dem schönen Gebiss, das ein verständnisvoller Zahnarzt mit vor sieben Jahren auf mein Drängen hin gearbeitet hat. Die anderen wollten meine Kronen und Brücken partout aufwändig sanieren. Aber ich wollte nicht. Ich konnte mich immer ganz gut im Leben von dem trennen, was mir anhaltend weh tat. Einen endgültigen Schnitt machen.

Der Mops wirft mir einen missbilligenden Blick zu: Wir wollten doch schlafen. Du wirst doch jetzt nicht aufstehen?! Weshalb ich es tue, weiß ich nicht. Ich erwarte niemanden. Nicht mal ein Paket. Aber manchmal kommt meine Tochter überraschend auf einen Sprung vorbei.

Es ist nicht meine Tochter. Im Hausflur steht ein mir unbekannter, alter Mann und lächelt. Monika Kowalski ? (mein Mädchenname) fragt er. Ich halte die Hand vor den Mund, hab ja keine Zähne drin, und antworte unfreundlich: Was wollen Sie von mir? Mein Hund bellt im Schlafzimmer. Mein Mann schläft und wenn der schläft, dann hört der nix mehr.

Der Fremde lächelt wieder. Ich bin’s doch, Jens Maase! Jens Maase, schießt es mir durch den Kopf, der war mal mit mir in der Schule. Einer der wenigen Jungen in der Asiklasse der Realschule, die umgänglich waren. Er hält mir einen Zettel hin. Da! - Ich möchte dich zum Klassentreffen einladen. Wir haben doch unseren 50ig-jährigen Abschluss dieses Jahr. Er sagt es, als wäre das etwas Wichtiges.

Soeben kommt die Nachbarin ins Haus, schließt ihre Tür auf, dreht sich um und gafft. Vermutlich wundert sie sich, weshalb ich im Hemd mit einem Mann spreche, den hier noch nie jemand gesehen hat. Irgendwie fühle ich mich überfallen, lasse Jens im Hausflur warten, während ich meine Zähne einsetze und mich anziehe. Dann bitte ich ihn in die Wohnung, lasse aber den Hund raus. Vorsichtshalber. Und da fährst du über hundert Kilometer, um mir die Einladung zu bringen, Jens? Erleichtert darüber, dass nicht der große Boxer, den er bei Fratzbook auf meinem Profil sah, auf ihn zustürmt, sondern ein kleiner Mops, streichelt er ihn verhalten. Nein, ein Held war Jens nie…

Ach, ich arbeite in Köln und man findet ja von dir nirgendwo eine Telefonnummer. Von manchen möchte man eben nicht gefunden werden, denke ich, antworte aber: Gibt es in Lüdenscheid keine Post mehr? Er lächelt wieder. Wir werden ja langsam alt und ich wollte dich noch mal wieder sehen. Und Horst Kretschmer auch.

Horst Kretschmer? höhne ich, das war doch der, der immer gleich zwei von den Hotpants-Mädchen im Arm hatte, die sich dann in einer dunklen Ecke mit den pickligen Jungs abknutschten?! Ich hätte jetzt nicht vermutet, dass der mich in den letzten fünfzig Jahren so vermisst hat.

Sowas hast du ja nie getan, schmeichelt Jens. Das fand ich immer toll an dir.

Jens hatte nie Pickel.

Jetzt schaue ich mir den alten Mann mit dem grauen Stiftekopp und den wasserblauen Augen genauer an. Nichts hat er mehr gemein mit dem 15-jährigen, rotwangigen Blonden, der aussah wie ein Holländer. Doch, er war immer nett gewesen, hatte beim Mobbing der anderen nicht mitgemacht. Aber er hatte mir auch nicht geholfen. Mein Hund sitzt neben mir und betrachtet ihn auch.

Ich erkundige mich nach Inge, meiner damaligen Freundin und Jens sagt, dass sie schon verstorben sei. Ich schweige bedrückt. Mein Hund schaut mich fragend an. Damals, als ich mit Inge aufs Gymnasium wechselte, hatte ich auch da einen Schnitt gemacht. Sie schloss sich der Gruppe jener Realschüler an, die von den alteingesessenen, althumanistisch geprägten Schülern des ehemals reinen Jungengymnasiums nicht akzeptiert wurden. Weil sie laut und prollig waren. Ich habe das von Inge nie verstanden, denn es waren gerade die, die auch sie gemobbt hatten. Sie vornehmlich wegen ihrer Optik. Ich denke, heute würde man sie wohl als divers einordnen. Mich wegen meiner fehlenden Anpassungswilligkeit. Ich trank keinen Alkohol, kiffte nicht und hatte meinen eigenen Kopf. Ich befreundete mich mit zwei Mädchen, die von einer anderen Realschule als ich kamen und die wie ich auch problemlos in die Reihen der Gymnasiasten aufgenommen wurden.

Ich genoss die Lernatmosphäre, die Stille im Klassenraum, die anständigen Mitschüler, die uns Mädchen mit einer ungekannten Höflichkeit begegneten.

Ich lernte mit Hingabe noch Latein und Altgriechisch, wollte alles mitnehmen, was sich mir bot. Und ich lernte, wie man die Großmäuler, die mich in meinem bisherigen Schulleben so oft abends in die Kissen hatten weinen lassen, mit Geist und Ironie in die Knie zwingen kann.

Die Leistungslehrer waren streng, konservativ und schienen irgendwie dem alten Film „Die Feuerzangenbowle“ entsprungen. Sie förderten die Begabten und ließen die anderen Realschüler nur mitlaufen. Nach der 11 gingen viele von ihnen bereits ab.

Jens war damals einem anderen Gymnasium zugeteilt. Er klagt, während ich ihm eine Cola eingieße, wie schlecht es ihm dort erging. Sein Blick wandert zu den antiken Porzellandosen auf meinem Regal. Ich nicke nur verständnisvoll. Und schweige. Jens, meine personifizierte Vergangenheit, die ich längst hinter mir gelassen glaubte. Sitzt an meinem Küchentisch wie eine Erscheinung. Ich fass es nicht.

Ich frage; Hast du den schönen Hof deiner Eltern noch? Er sagt kopfschüttelnd, dass der seiner Frau, mit der er seit 37 Jahren verheiratet sei, zu einsam war und sie ihn deshalb nach dem Tod der Eltern verkauft hätten. Ich spotte: Meine Güte 37 Jahre und das in Lüdenscheid. Ich gratuliere! Unverdrossen lächelt Jens, zeigt mir auf seinem Handy Fotos seiner Familie. Seine Frau sieht mir verblüffend ähnlich. Ich zeige ihm Fotos von meiner Familie im Wohnzimmer und sage: So einen Hof gibt man doch nicht ab. Ich hätte mir da einen Biohof draus gemacht. Echt? fragt Jens. Bedauern steht in seinem Blick.

Wieder betont Jens, wie unglaublich Horst sich bemüht habe, mich zu finden. Ich grinse und antworte knapp: Ich habe da meinen OP-Termin. Aber ich werde bestimmt an euch denken. Nur einmal warst du da, mault Jens und da war ich auf einem Seminar. Immer hast du irgendwas und kommst nicht.

Ja, ich erinnere das eine Mal, zu dem mich meine ehemalige Klassenlehrerin drängte mit den Worten: Geh hin, Kind. Zeig denen, wer du geworden bist. Damit du abschließen kannst und deinen Frieden mit ihnen machen. Ich war ihrem Rat gefolgt und war seitdem mit der Sache durch. Es interessiert mich einfach nicht, ob Martin ein Ferienhaus in Südfrankreich besitzt, Frank extra aus Amerika kommt oder Angelika fünf Kinder hat. Regen trommelt an die Scheibe. Dicke, fette Tropfen.

Jens wirkt irgendwie enttäuscht. Gibst du mir denn wenigsten deine Telefonnummer? Und ein Buch von dir? Beinahe tut er mir leid. Wahrscheinlich hat er meinen beißenden Spott nicht verdient. Oder doch? Er hatte damals nie mitgemacht beim Mobbing. Aber er hatte mir auch nicht geholfen…Wir können doch in Verbindung bleiben?! Ich nicke versöhnlich und verabschiede ihn mit den Worten: Und grüß mir die, die ich nie grüßen würde. Er lächelt. Warum lächelt der immer? Ist ja nervig.

Bevor ich zwei Stunden später zu Bett gehe, um noch etwas Ruhe zu finden, werfe ich die Einladung mitsamt seiner Telefonnummer in den Müll. In unruhigem Schlaf träume ich wildes Zeug von einer Demo für den Frieden.

Jens hält ein Schild hoch, auf dem steht: Alice-Schwarzer-Gehirnwäsche.

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.03.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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