Aylin

Nagel-Probe

Nagel-Probe

 

Die kleine Frau geht gebückt, als sie vom Einkauf zurückkommt. Grüßt knapp. Ihr Blick weicht den Nachbarn aus. Denn sie hat eine andere Meinung. Und die wollen nicht argumentieren. Sie wollen sich nur durchsetzen.

Die kleine Frau geht wie auf einem Nagelbrett und schaut auf die Magnolie, die sie selbst gepflanzt hat. Sie wird bald blühen, so, wie sie es jedes Jahr tat. So wie alle ihre Pflanzen es taten. Sie hat einen grünen Daumen, sagt man. Und eine Meinung, die die Mehrheit nicht teilt. Fast immer. Es war nie anders.

Sie denkt an das, was ihr Mann ihr über sein Leben in der DDR erzählte und an das, was Oma ihr über die Nazizeit berichtete. Sie beide hatten eine Meinung. Eine andere als die Mehrheit. Ihrem Mann bezahlte der Staat damals seinen Meister nicht. Seine Renitenz füllte Kaderakten. Am Knast schlitterte er nur vorbei wegen seiner Epilepsie. Man nahm ihn nicht für voll. Seinen Meister machte er dennoch, bezahlte ihn selbst.

Oma betrog man um ihr Erbe, als ihr zwangsweise zum Volkssturm eingezogener Mann im 2. Weltkrieg fiel. Seine Familie wusste, wo Oma hingehörte. In den Stall. Bereits direkt nach der Geburt ihres ersten Sohnes traktierte man sie mit harter Arbeit. Schweigend schleppte sie die Milchkannen. Doch ihre Meinung änderte sie nicht.

Die kleine Frau geht gebückt. Schiebt die schweren Taschen in ihren Wohnungsflur. Polternd fällt Vaters Bild von der Wand. War wohl der lange Rettich drangekommen. Das Bild von Vater, der lebenslang eine andere Meinung hatte als die Mehrheit. Die kleine Frau betrachtet den leeren Nagel und lächelt. Sie lächelt, zieht ihre gestern Abend zerknüllte Politsatire aus dem Papierkorb und stellt sie ins Netz.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.03.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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