Andreas Vierk

Oden an die Einsamkeit


Anmerkungen vorab: Mit „Oden“ meine ich hier keine antiken sapphischen oder pindarischen Metren, sondern lediglich „Lobgesänge“ im Sinnverständnis der Deutschen Romantik bis heute. Die hier dargebotenen fünf Sonette sind nicht zyklisch in Form einer Kette verknüpft, sondern lediglich thematisch miteinander verbunden. – Zum sogenannten „Lyrischen Ich“: Ein solches existiert nur als Schutzmechanismus in der Psyche der Leserinnen und Leser, sonst nirgends.
 

I

Vorm nächsten Bahnsteig spring ich aus dem Zug
mit seinen Jacken voller Selbstbetrug
und seinen toten Amseln im Getriebe.
Ich roll ins Gras, als gäbe es die Liebe.

Der Wind entkleidet mich in Brombeerreben.
An meinen Armen bleiben Blätter kleben.
An allen Dornen lass ich meine Haut,
bis dass mein Selbst als Apfel aus mir blaut.

An meinen Schenkeln heulen Fuchs und Wiesel.
Die Sohlen bluten Flammen ins Geschiebe,
so leuchten vogelbeerenrot die Kiesel.

Mein Flug ist frei, weil ihn kein Wind mehr hält.
Und wenn mein Atem in ein Lächeln fällt
wird alles hell, als gäbe es die Liebe.

 

II

Nur das ist Glück: für mich allein zu sein.
Ein stetes Reiten auf vertrauter Welle.
Am Morgen weckt mich meine Seelenhelle
kaleidoskopisch über Bucht und Hain.

Wie geht das: nimmer die Balance verlieren?
Auf langer Farbenreise mich verträumen?
Im Krebsgang zwischen Wald- und Ufersäumen
mich mit den Blüten meines Selbst zu zieren?

Mich wie das Echo über Schluchten schwingen,
mit einem Lächeln durch den Schützengraben
wie von Girlande durch Girlande gehen –

Nur das ist Glück: mich selbst zum Freund zu  haben,
im Sonnensturm das Menschsein zu zerwehen,
nur, um als Lied mich selbst darin zu singen.

 

III

Mein Schritt lässt auf Pangäa Wege wachsen.
Aus meiner Schulter wächst die Pfefferschote
und unter meinem Blick entstehen Boote,
und Sonnenräder gehn an goldnen Achsen.

Kein Du ist hier, um daran zu verbittern.
Die Schienen gehen still ins weite Land:
sie führen meinen Puls zum Meeresstrand,
auf dem wie Kugeln Räume lustvoll zittern.

Im Flussquarz ging der Daseinssinn verloren:
er plätschert mit den Bachforellen hin,
als wenn sie wie Sekunden ewig wären.

Und keine Mutter hat mich je geboren,
weil ich im Bienenschwarm wahrhaftig bin
und oben in den blauen Montgolfieren.

 

IV

Was braucht der Mensch? – Nur leben, schwimmen, treiben,
nur zwischen beiden Uferspiegeln bleiben,
sich selbst entziffern und im Innern lesen,
ganz ichlos, dulos, Atem, Licht und Wesen,

ganz nahe am Verlöschen ewig sein,
für sich allein das ganze Sein erfüllen,
das Füllhorn, Gottes Atemquell enthüllen,
sich auszuhauchen, weltlos und allein,

die Finger Kormorane werden lassen
und zwischen ihnen mit Libellen spielen
und Engeln, die aus ihrem Jenseits fielen,

bis Schwarm und Wellenlicht den Leib durchdringen,
dann ist kein Mensch und nichts kann ihn erfassen,
dann braucht er nichts als sterben, atmen, singen.

 

V

Ich fühle weiße Stille um mich strudeln,
als wäre mein Erwachen eine Reise.
Das Blässhuhn stößt an meine Wange leise,
doch Zeit und Wasser kann es nicht besudeln.

Ich werde transparente Monde pflücken
und jeder soll wie eine Stunde sein.
Sie wachsen schon in meinen Mund hinein.
Ich treibe in die Weite auf dem Rücken.

Wer stieß mich an und trieb mich in die Zeit?
Wer legte Feuer, ließ es auf mir brennen?
Wer sprach das Amen, als ich mich gebar?

Wann ist mein Herz zum Glockenschlag bereit?
Wann wird die Stunde meinen Puls erkennen?
Wann weitet sie sich in ein Vogeljahr?

 

VI

Es ist so lind im See. Die sachte Welle
ist eine laue Hand in meinen Haaren
und liegt quecksilbern in den Kapillaren,
in Perlmuttschimmer, Dämmerlicht und Helle.

Wo ist ein wahrer, wo erträumter Ort?
Ich weiß in Ufernähe eine Stelle:
im Schilf erwacht Libelle um Libelle.
Da ist mir wohl, denn heut‘ ertrank ich dort.

 

 

 

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Andreas Vierk).
Der Beitrag wurde von Andreas Vierk auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.04.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

Bild von Andreas Vierk

  Andreas Vierk als Lieblingsautor markieren

KI freie Literatur bei e-Stories.de

Buch von Andreas Vierk:

cover

Septemberstrand: Gedichte Taschenbuch von Andreas Vierk



Andreas Vierk schreibt seit seinem zehnten Lebensjahr Prosa und Lyrik. Er verfasste die meisten der Gedichte des „Septemberstrands“ in den Jahren 2013 und 2014.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (7)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Escapistenlyrik" (Gedichte)

Weitere Beiträge von Andreas Vierk

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Aphorismus von Andreas Vierk (Aphorismen)
Findungen von Frank Guelden (Escapistenlyrik)
da helfen keine Pillen von Ursela Seitz (Humor - Zum Schmunzeln)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen