Aylin
Das Tor zur Seele
Weit ist der Weg. Zum Paradies. Und mancher ist schon auf halber Strecke umgekehrt.
Die Sonne brennt. Gespiegelt vom Salz erscheint sie mir kräftiger, zehrender. Ich gehe vorbei am Deich. Rechts ducken sich unzählige Campingwagen auf der Wiese. Wie Ameisen wuseln ihre Besitzer drum herum. Wie unscheinbar doch alles wirkt vor dem Hintergrund des mächtigen Wattenmeeres, das still da liegt in Erwartung der Flut. Einige Priele füllen sich schon mit Wasser. Das Meer naht. Bedächtig, als habe es alle Zeit der Welt.
Der erfrischende Küstenwind fehlt heute, dunstige Schwüle legt sich um mich. Mein Hund hechelt. Er spürt es auch. Weit ist der Weg. Vorbei an ehemaligen Fischerhäusern hinter verblühten Rhododendrenhecken. Es wirkt, als würden sie sich unter ihren vorgezogenen Dächern verstecken. Ich kenne ihre Geschichten. Das mit der abgeblätterten Fassadenfarbe war jahrzehntelang eine Post, dann eine Pension. Nun steht es verwaist da. Aus dem schmuck renovierten Nachbarhaus hört man Kindergeschrei. Seit den Sechzigern war es immer ein Heim für kranke Kinder, die sich hier in den Ferien erholen sollen. Ich denke an eine kritische Doku über solche Heime, die ich im Fernsehen sah und wische die Gedanken fort. Ich bin auf dem Weg ins Paradies. Dies alles ist nur Randwerk. Dinge, die man passiert und hinter sich lässt.
Schon sehe ich die Künstlerklause, wo namhafte Maler ihre Bilder ausstellten, das alte Kurhaus, das zu Kaisers Zeiten eine noble Adresse war und seit langem eine Anlaufstelle für Drogensüchtige ist. Es hat seine besten Zeiten hinter sich. Die Promenadengeländer hier sind rostig. Der Weg ist beinahe zugewachsen. Die Natur hat sich ihren Besitz zurück erobert. Dies ist nicht mehr der glanzvolle Badeort, dies ist der Rand. um den Verlorenheit weht.
Ich setze mich auf eine der wackeligen Bänke, gebe meinem Hund zu trinken und nehme selbst auch einen kräftigen Schluck Wasser. Baumgreise spenden uns Schatten. Paare laufen vorbei, schauen uns mitleidig an, weil mein Hund und ich allein unterwegs sind. Und ich schweige. Muss nicht erklären, dass es Wege gibt, die man allein mit seinem Hund gehen möchte.
Alle meine Hunde haben mich dorthin begleitet. Dieser ist erst vier Jahre alt und das erste Mal mit mir auf dem Weg zum Tor zur Seele. Ein Stückchen noch. Die Sonne knallt. Wir laufen durch ein Mischwäldchen mit verwunschenen Eichen und verwildertem Buschwerk. Selten geht hier noch jemand weiter. Weil es keinen Weg mehr gibt. Aber ich kenne die Schneise. Mein Hund folgt mir. Er würde mir überall hin folgen, durch Dick und Dünn. Wir überwinden wilde Himbeersträucher, sich aus dem Boden wölbende Baumwurzeln. Und plötzlich, wie durch Zauberhand öffnen sich rechts zwei Büsche wie ein Tor. Die Zweige einer alten, krummen Kiefer bilden das Dach. Da ist es: Das Tor zur Seele.
Wir schreiten hindurch. Feierlich beinahe und das Watt empfängt uns mit offenen Armen. Sonnenstrahlen tanzen auf der weichen, scheinbar unendlichen Fläche. Mein Blick schweift bis an den Himmel und zurück.
Ich atme durch. Tauche ein in die barmherzige Stille dieser Landschaft. In das ihr eigene, mystische Lichterspiel von Hell und Dunkel. In das friedliche Bild, wo nichts endet, wo alles ineinander übergeht. So, als wäre alles eins.
Mein Hund sieht mich fragend an, als würde er die besondere Stimmung spüren. Wir setzen uns an den schmalen Sandstreifen. Schauen und genießen. Ich weiß nicht, wie lange. Zeit verliert sich dort. Wird unwichtig.
Wir lauschen. Dem, was man nicht hört. Uns selbst. Mein Blick streichelt das sanfte Bild, das sich mir wie ein Gemälde offenbart und tiefer Frieden durchströmt mich.
Irgendwann reiße ich mich los. Ich weiß, es muss sein. Die Netze eines Krabbenkutters winken nah und mahnen mich, zu gehen. Denn bald schon wird das Meer dieses Fleckchen überspülen.
Gestärkt marschieren wir zurück. Dorthin, wo einige wenige Menschen am Strand sitzen. Ich leine meinen Hund ab und wir beide rennen durch das Wasser, übermütig, ausgelassen. Toben am Strand und werfen uns in den Sand. Mein Hund wälzt sich und wedelt glücklich mit den Beinen.
Wir ignorieren die missbilligenden Blicke der Touristen am Pier, die mir so gerne sagen möchten, dass Hunde hier verboten sind. Aber es ist genau das Stück Freiheit, dass mich selig macht. Und das lasse ich mir nicht nehmen. Vielleicht spüren sie es ja. Mein Glück. Denn als wir uns auf den Rückweg machen und ich die steile Treppe hinaufklettere, die ich vor vierzig Jahren schon erklommen habe, da lächeln sie. Irgendwie berührt.
Mein Hund ist sandverklebt, meine Hose wattverschmiert. Genau so machen wir uns auf den Weg zur Eisdiele, auf dessen Terrasse nicht wenige alte Damen aus Wilhelmshaven ihr Morgenkränzchen halten. Piekfein angezogen. Der Kellner, der Sohn des Besitzers, der mir als Junge den Weg zu seinem Lieblingsort, dem Paradies, verriet, fragt lächelnd: Signora Mona, wieder im Paradies gewesen? Wie immer - dreifaches Milchshake Vanille und Wasser für den Hund? Ich nicke und gebe meinem Hund eine Knabberstange.
Die Damen mustern mich. Hinauf von meinen knallgrünen Mokassins, aus denen der Sand rieselt, an meiner schmutzigen Hose entlang bis zu meinem wattfleckigen, grünen Ringelshirt. Blicke, die an mir abgleiten. Und die doch letztendlich irritiert hängen bleiben an meinem Lieblingsanhänger, einem großen, 5-karätigen, facettierten Tansaniten.
Tiefblau funkelt er in der Sonne. Als wäre er magisch aufgeladen.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.09.2024.
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