Aylin

Unverbraucht

Unverbraucht

 

Du bist noch so unverbraucht, sagte einer zu mir. Was mich erstaunte.

Gerade heute kommen mir da Zweifel. Meine Beine wollen nicht laufen, ich kann mich nicht bücken. Weil ich wieder über meine Grenzen gegangen bin. Das habe ich immer getan. Und tue es noch. Ich mache meine Arbeit fertig, ziehe meinen Sport durch, auch wenn ich eigentlich nicht mehr kann.

Es ist ein Kampf zwischen meinem Kopf und meinen Arthrosegelenken. So lang ich denken kann. Ich bin der Boss, nicht meine Knochen! empöre ich mich. Vielleicht.

Und will noch so viel. So viel mehr. Ich will tanzen, mit dem Hund rennen und Erdbeeren pflanzen. Ich kann nicht nur auf der Couch sitzen und nichts tun. Das konnte ich noch nie. Das wäre nicht ich und ich will nicht eine andere sein, nur, weil ich es muss. Es beleidigt mich. Meine Natur.

Du bist noch so unverbraucht, sagte einer zu mir. Doch ich weiß, dass ich Maß halten muss. Beim Laufen, beim Putzen, beim Qualmen. Und tue es doch nicht. Wozu auch? Nur, um zu sein? Was zu sein?

Ich werde achtundsechzig. In dem Alter war mein Vater schon vier Jahre lang tot. Dabei wirkte er so unverbraucht. Er hatte nicht eine Falte im Gesicht. Wie ich. Er starb und wirkte so unverbraucht.

Ich habe viel um ihn geweint, doch heute weiß ich, dass er Glück hatte. Er starb nicht als Wrack, nicht als Last für sich selbst und seine Liebsten. Er starb einfach. Unverbraucht. Als sein Herz plötzlich aufhörte zu schlagen. Niemand weiß, warum.

Er ging als der, der er immer war. Durfte er selbst bleiben. Für ihn war es Glück, denn nicht anders hätte er es gewollt. Ist lebenslang seinen eigenen Weg gegangen. Wie ich auch.

Du bist so unverbraucht, sagte einer zu mir. Einer, der nichts von mir wusste.

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.05.2025. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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