Dazu, lieber Hans, ein Text von Arno Gruen (nicht Anselm Grün).
Mit herzlichen Grüßen vom August.
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Arno Gruen
(* 1923 Berlin, 1936 USA, 1979 Zürich)
"ICH WILL EINE WELT OHNE KRIEGE"
Um Kriege zwischen Nationen zu verstehen, müssen wir uns auch den Kriegen stellen, die wir meistens anstandslos als Teil unseres alltäglichen Lebens hinnehmen - am Frühstückstisch und im Klassenzimmer, auf den Straßen, in den Medien, am Arbeitsplatz.
Klett-Cotta 2006 ... ISBN: 978-3-608-94270-7 ... 3. Auflage, 2010
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ÜBERLEGUNGEN ZUR NATUR DES MENSCHEN
(Seiten 41 bis 44)
Die Erfahrungen, die ... Menschen in ihrer Kindheit durchleben, werden im allgemeinen weitergegeben, wenn sie einmal Eltern sind. Wenn sie selbst nichts anderes erlebt hatten, werden sie dazu neigen, auch ihre eigenen Kinder von oben herab, d. h. ohne Respekt und Einfühlung zu behandeln. So wird über Generationen Lebensfeindlichkeit weiter "vererbt" - nicht über Gene, wie heute viele wähnen, sondern über Eltern-Kind-Beziehungen, die von Arroganz, Ablehnung und Unterdrückung geprägt sind. Die destruktiven Verhaltensmuster, die daraus resultieren, sind uns so selbstverständlich geworden, dass wir sie als unveränderlichen Bestandteil unserer Existenz hinnehmen. Entsprechend akzeptieren wir unhinterfragt jene Pseudowahrheiten, die Kriege einer egoistischen menschlichen Natur zuschreiben, die von Aggressionen beherrscht sei und deshalb den Kampf suche:
Die Vorstellungen, die wir von der menschlichen Natur haben, sind in Wahrheit jedoch vorgeformte Ideen und Ideologien, die mit kulturellen Prinzipien wie Männlichkeit und Stärke, Besitz und Wettbewerb zu tun haben. Das Gerede über die "böse" Natur des Menschen hat mit gesicherten Erkenntnissen wenig zu tun. Wenn man sich mit der menschlichen Entwicklungsgeschichte beschäftigt, entdeckt man auch immer Beispiele, dass Menschen anders miteinander leben können. So gab es in den von Frauen bestimmten matriarchalen Gesellschaften vor 8.000 bis 10.000 Jahren weder Kriege noch Verteidigungssysteme.
Anthropologen haben außerdem darauf hingewiesen, dass frühe Vorfahren wie die Neandertaler sehr fürsorglich mit ihren Mitmenschen umgingen und miteinander ein friedliches Leben führten. Der Skelettfund eines Neandertalers weist darauf hin, dass dieser Mensch über einen langen Zeitraum gepflegt und versorgt worden war. Nur so war die Heilung einer Verletzung, die sein Schädel aufwies, erklärbar.
Ein Überleben der menschlichen Spezies wäre ohne emotionale Verbundenheit und Zusammenhalt nicht möglich gewesen. Auch dafür gibt es wissenschaftliche Hinweise. Sie deuten darauf hin, dass nicht aggressives Gegeneinander, sondern auf Kooperation ausgerichtetes Verhalten das gesellschaftliche Leben unserer frühesten Ahnen bestimmte. Erst die Sozialisation unserer modernen Zivilisation führte zu Herrschaftsverhältnissen und Rivalität, die uns heute so "normal" vorkommen. Wir schauen abschätzig auf unsere Vorfahren als primitive Wesen zurück und erkennen nicht, dass unser Bild, das wir von ihnen entworfen haben, falsch ist und vor allem unser eigenes Selbstbild als überlegene Krönung der Evolutionsgeschichte bestätigen soll.
Wettbewerb und Dominanz sind typische Merkmale unseres heutigen Zusammenlebens. Zwar sind Herrschaftsstrukturen in demokratischen Gesellschaften nicht gerade offensichtlich. Sie prägen jedoch von der Erziehung der Kinder bis zum Berufsleben unseren Alltag. Soziale Hierarchien sind so selbstverständlich, dass wir sie nicht mehr bemerken. Das Vergleichen mit anderen ist als Prinzip in unserer Kultur eingeschrieben. Wir gelten nicht als das, was wir sind, sondern immer als mehr oder weniger, besser oder schlechter, schlauer
oder dümmer, attraktiver oder weniger attraktiv.
Rivalität und ein Gegeneinander sind quasi als Erhaltungsprinzipien in unsere gesellschaftlichen Strukturen eingebaut. Das hat nicht nur tragische Konsequenzen für den einzelnen Menschen und das soziale Klima, das von Spannungen, Misstrauen, Feindseligkeit und Angst bestimmt wird. Langfristig gesehen sind Gesellschaften, die nicht das Miteinander, sondern das Gegeneinander fördern, zum Untergang verurteilt. Um Kriege zwischen Nationen zu verstehen, müssen wir uns auch den Kriegen stellen, die wir meistens anstandslos als Teil unseres alltäglichen Lebens hinnehmen - am Frühstückstisch und im Klassenzimmer, auf den Straßen, in den Medien, am Arbeitsplatz.
Wenn Kooperation und sozialer Zusammenhalt eine Gemeinschaft charakterisieren, kann jedes Mitglied sein eigenes Potential entfalten und der Allgemeinheit zur Verfügung stellen. Das aufeinander bezogene Miteinander führt - das lässt sich sogar in Gruppen von Schimpansen aufzeigen - zur Entwicklung von verantwortlichem Verhalten, denn jeder einzelne ist unmittelbar mit den Auswirkungen seines Tuns konfrontiert und kann sein Verhalten entsprechend korrigieren.
Auf Dominanz ausgerichtete Gesellschaften dagegen schwächen sich selbst, da sie die positiven Entwicklungsmöglichkeiten ihrer Mitglieder hemmen, aber deren zerstörerische Tendenzen stärken. Bösartige Aggressionen sind ein fester Bestandteil solcher Strukturen, da immer eine Verachtung für die "Schwächeren" sowie Neid und Hass auf die in der Hierarchie höherstehenden angeregt werden. Auf individueller Ebene fördert Dominanz Isolation und psychologische Distanz - beides Zustände, die dem Zusammenhalt einer Gruppe entgegenwirken.
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