Andreas Melhorn

Moderne Kunst

Ich klingelte. Es war bereits das vierte Mal in diesem Jahr, daß ich vor der blau lackierten Tür dieses hübschen Einfamilienhauses in einer Vorstadt Chicagos stand, und wir hatten erst den 9. Januar. Das wäre sicherlich nichts Besonderes, wenn ich dort gewohnt hätte, aber ich war "nur" ein sehr guter Freund von Tom Meadows, dem Hausbesitzer und wahrscheinlich verrücktesten Künstler auf dieser Seite des Michigansees. Er lebte hier mit seiner Frau Elisabeth und seiner wunderhübschen kleinen Tochter Mary, die ich, gerade als ich dachte, Eiszapfen würden sich an meiner Nase bilden, auf die Tür zurennen hörte. Die Tür wurde aufgerissen, und mit einem Sprung, dem ich diesem achtjährigen Fräulein niemals zugetraut hätte, landete sie auf meinem Arm. "Hallo Onkel Phil!" Sie drückte mich ganz kurz, doch bevor ich ein Wort sagen konnte, fing sie schon wieder an zu zappeln. Ich ließ sie wieder herunter. Sie rannte quer durch die kleine Diele, wobei sie den Schnee, den ich noch vor kurzem auf dem Mantel hatte, gleichmäßig auf dem Boden und den Möbeln verteilte. "Papa, Onkel Phil ist da!" Noch während ich die Tür schloß, beschlug meine Brille so, daß ich nichts mehr sehen konnte. Ich mußte also warten, denn ohne Brille bin ich fast so blind, wie ein Maulwurf. Drinnen im Wohnzimmer lief der Fernseher. Der Nachrichtensprecher erzählte gerade die Kurzmeldungen des Tages, und draußen vor dem Fenster fielen große, weiche Schneeflocken auf einen dicken lockeren Schneeteppich, der fast alles bedeckte. Alle Geräusche waren gedämpft, sogar, die der vorbeifahrenden Autos. Nach einiger Zeit konnte ich endlich meine Brille wieder aufsetzen und praktisch gleichzeitig kam Tom durch die Tür in den Flur. "Entschuldige, Phil, aber ich mußte unbedingt noch die letzten drei Pinselstriche an meinem Bild anbringen. Es ist endlich fertig, ich werde es dir zeigen, wenn wir gegessen haben." Den letzten Satz hatte er mir zugeflüstert. Schon seit einigen Monaten malte er an einem neuen Bild, ohne daß er mir erzählen wollte worum es ging, noch warum er so ein Geheimnis daraus machte. Normalerweise redete er über seine neuen Werke sehr viel. Er sagte während des Erzählens kämen ihm die besten Ideen, er würde davon inspiriert. Seine gesamte Umwelt mußte darunter leiden, und ich glaube, Elisabeth und ich waren zu der Zeit die einzigen, die seine Monologe länger als eine halbe Stunde ertragen konnten. Aus dem Fernseher klang immer noch die Stimme des Nachrichtensprechers. Mit monotoner, sehr dunkler Stimme erzählte er die üblichen Gewalttaten. Das klingt ziemlich hart, als wäre mir so etwas gleichgültig, aber glauben Sie mir, wenn man lang genug in einer Großstadt, wie Chicago lebt, gewöhnt man sich an solche Meldungen; jeden Tag die gleichen Katastrophen: Raubüberfälle, Morde auf offener Straße (meistens nur wegen ein paar Dollar) und Jugendbanden, die ohne Grund harmlose Passanten zusammenschlagen. Es wird schon nur noch das Allerschlimmste berichtet, was aber nur zur Folge hat, daß man als unbeteiligter Zuhörer noch weiter abstumpft und selbst über solche Meldungen nur ein wenig den Kopf schüttelt. "Gut, daß du kommst, wir haben schon auf dich gewartet. Tom, mach doch bitte endlich den dämlichen Fernseher aus, wir wollen essen." Mit diesen Worten kam Elisabeth aus der Küche, begleitet von einem phantastischen Geruch, der mir wieder mal den größten Unterschied zwischen ihr und Tom vor Augen führte: Sie konnte unglaublich gut kochen. Auf einem Tablett trug sie ein großes dampfendes Stück Fleisch , zusammen mit einigen gut gefüllten Schüsseln. Nach einiger Zeit war dann auch Mary gefunden und wir konnten beginnen. Während des Abendessens war Tom sehr nervös. Er wackelte auf seinem Stuhl hin und her, wie ein kleines Kind, das auf die große Überraschung wartet, die Papi ihm für nach dem Essen versprochen hat. Er sah immer wieder auf die Uhr, als könne er die Zeit nicht abwarten, endlich aufstehen zu dürfen. Ich bemerkte, wie Elisabeth ihn stirnrunzelnd beobachtete, während sie sich mit mir über Silvester unterhielt, welches wir zusammen mir einigen Freunden in der Innenstadt Chicagos verbracht hatten. Es war nicht gerade die gelungenste Feier des Jahres gewesen, denn einige unserer Bekannten waren im Suff ganz schön aus der Rolle gefallen. Als das Thema erschöpft war, schien sich Eli gezwungen zu sehen, sein seltsames Verhalten zu kommentieren: "Er kann es nicht abwarten, uns sein großes Meisterwerk zu zeigen. Schon den ganzen Tag hat er von nichts anderem gesprochen." Sie drehte sich zu Tom, der eine fragende Miene aufgesetzt hatte; er war mit seinen Gedanken völlig woanders gewesen und hatte nicht auf unser Gespräch geachtet. "Willst du uns nicht langsam mal erzählen, was so Besonderes an deinem komischen Bild ist?" Sein Gesicht verkrampfte sich. "Es ist nicht mein komisches Bild!" Er richtete sich auf, während er aufgebracht fortfuhr: "Ich arbeite jetzt seit fünf Monaten an diesem Werk, habe meine gesamte Kreativität und meinen ganzen Ehrgeiz hineingelegt, und du nennst es mein komisches Bild?" Die letzten Worte hatte er so laut gesprochen, daß Mary entsetzt aufsah. Es mußte schon lange her sein, daß er das letzte Mal seine Stimme erhoben hatte. Sie blickte sich hilfesuchend nach Ihrer Mutter um. Er war schon immer etwas empfindlich, was seine Werke anbetraf (besonders, wenn sie noch neu waren; später konnte er etwas konstruktive Kritik durchaus vertragen), aber so etwas hatten wir noch nie bei ihm erlebt. Schon nach wenigen Augenblicken peinlichen Schweigens, schien ihm aufzugehen, wie albern er sich benahm. "Tut mir leid", sagt er ohne dabei jemandem in die Augen sehen zu können. Die Spannung hatte sich gelegt. Sofort fing Mary wieder an zu plappern, wie eigentlich schon den ganzen Abend, sie war mindestens genauso aufgeregt, wie ihr Vater, was bei ihr allerdings keine Besonderheit war, sondern eher der Normalzustand. Der Rest des Abendessens verlief völlig normal. Tom hatte sich wieder gefangen und begann uns ein wenig zu erzählen, was er die letzten fünf Monate gemacht hatte. Eigentlich war absolut nicht Besonderes an dem zu erkennen, was er mit großen Ausschweifungen und überschwenglichen Worten über seine Arbeit berichtete. Seine Beschreibung wirkte, wie die einer ganz normalen Arbeit, eine, von denen er schon Duzende angefertigt hatte. Ein Ölbild auf Holz. Auch seine Gedanken über die Kompositionen und den Bildaufbau waren nicht allzu ungewöhnlich oder aufregend. All das machte mich natürlich nur noch neugieriger darauf, es zu sehen und Elisabeth schien es nicht anders zu gehen. "Ich finde wir sollten uns das Meisterwerk lieber selbst ansehen, bevor du noch die ganze Überraschung verdirbst", sagt sie an Tom gewandt. "Du hast uns jetzt wirklich lang genug auf die Folter gespannt, meinst du nicht?" In seinem Redeschwall etwas unterbrochen, schwieg er erst kurz, dann stand er ohne weitere Verzögerung auf. "Folgt mir!" Nervös, wie ein kleines Kind, daß seinen Eltern die tolle Sandburg zeigen will, die es gebaut hat, ging - oder besser gesagt schritt - er in den Keller, wo sich sein Arbeitsraum befand. Er öffnete die Tür und schaltete das Licht an, eine Spezialbeleuchtung, die ein Licht erzeugte, was dem der Sonne sehr ähnlich war. In dem großen, fensterlosen Raum herrschte ein unglaubliches Durcheinander: Holzplatten, die in allen Ecken verstreut herumlagen, Farbtuben, Pinsel, Spachtel und allerlei andere verschiedenartigste Materialien, die auf der Arbeitsbank herumlagen, und Werkzeuge wunderhübsch gleichmäßig verteilt, als wäre das schon die eigentliche Kunst. Wir hatten uns schon alle an diesen Anblick gewöhnt, so daß er uns nicht weiter überraschte. In der Mitte des Raumes stand eine Stafette mit einer Holzplatte. Darauf befand sich das so stark angepriesene Meisterwerk: Chicago aus der Vogelperspektive. Die fast schon fotografische Genauigkeit der Malerei erstaunte mich, sonst malte er sehr verschwommene dicke Striche, die erst, wenn man sie sich aus sehr weiter Entfernung ansah einen Sinn ergaben. Oft konnte man erst dann erkennen, was eigentlich dargestellt war. Dieses war völlig anders. Mit feinsten Pinselstrichen, hatte er die Illusion erzeugt, es handele sich um eine große Fotografie, aufgenommen aus eine Flugzeug, das vom Michigansee auf Chicago zufliegt. Ich fragte mich, warum er bei seinen ausschweifenden Erzählungen nicht erwähnt hatte, daß er eine neue Technik ausprobiert, seine alten Stil völlig über den Haufen geworfen hat. Mit einem großen Lob auf den Lippen drehte ich mich zu ihm um. "Junge, Junge. Wirklich klasse! Jetzt weiß ich endlich, warum du so ein Theater gemacht hast. Das ist wirklich mal was ganz anderes." Ich ging noch näher heran, um es mir genauer anzusehen. Mary, die schon sonst sehr leicht zu begeistern ist, mit allem, was ihr Vater macht - wobei ihr natürlich die Sachen, die er speziell für sie gemacht hat, wie z.B. die Kinderbuchillustrationen letztes Jahr, mit Abstand am besten gefallen - war außer sich. Sie umarmte sein Bein und sagte: "Papi, das ist ganz toll! Kannst du so was auch für mich malen? Bitte, bitte! Ich will so ein Bild für mein Zimmer, aber eins mit Blumen ... und einem Elefanten ... und ich muß auch drauf vorkommen. Papi, was ist denn los?" Als ich diese Frage hörte, wandte ich mich von dem Bild ab und drehte mich zu Tom um. Er stand fassungslos mitten im Keller und starrte auf die Stafette. "Was soll das?" fragte er plötzlich. "Warum habt ihr das getan? Ihr habt doch genau gemerkt, daß ich mir unglaubliche Mühe gegeben habe, euch zu überraschen! Warum mußtet ihr mir das verderben?" Elisabeth, die ich schon eine ganze Weile, nämlich seit wir den Keller betreten haben, nicht mehr beachtet hatte, hatte anscheinend schon vor Mary bemerkt, daß etwas nicht stimmte. Sie fragte: "Was meinst du? Gar nichts haben wir gemacht. Du weißt, daß ich noch nicht einmal einen Fuß in deine heiligen Hallen setze, wenn du nicht grünes Licht gibst. Was ist also los?" "Das frage ich euch! Dies dort ist jedenfalls nicht das Bild, was ich gemalt habe!" Er wurde schon wieder aufgeregt und begann lauter zu werden. Mary schaute ängstlich zu ihrer Mutter, als hätte sie Schuld daran, daß Tom sauer war. Jetzt mischte auch ich mich in das Gespräch ein: "Willst du uns allen ernstes erzählen, dies dort ist nicht dein Bild?" Es wurde still. Langsames Begreifen drang tastend in unsere Hirnwindungen ein und machte sich in unseren Köpfen breit. Nach einer scheinbar endlos dauernden Ruhe, in der man die Holzwürmer in den morschen Balken des Hauses arbeiten hören konnte, war endlich wieder eine Stimme zu hören. Es war Toms. "Das ist kein schlechter Scherz von euch? Ich dachte ihr hättet die Bilder ausgetauscht, um mir einen Streich zu spielen." "Du weißt genau, daß wir so etwas nie tun würden!" Mary löste sich vom Bein ihres Vaters und ging zu Elisabeth, die jetzt das Wort ergriff. Wie üblich war sie die Einzige, die in einer verzwickten Situation wie dieser, einen kühlen Kopf bewahrte. "Laßt uns hoch gehen und in aller Ruhe über alles reden. Es hat keinen Sinn, wenn wir uns hier unten angiften und Mary Angst machen. Komm Mary, wir gehen nach oben." Sie nahm das kleine, immer wieder fragend zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater hin- und herguckende Mädchen auf den Arm, und wir gingen gemeinsam wieder ins Wohnzimmer. Tom wirkte schockiert, Mary wußte nicht worum es genau ging, sie merkte nur, daß etwas nicht stimmte. Elisabeth war zumindest nach außen hin gelassen, sie wollte wie üblich nicht die Kontrolle über die Situation verlieren. Sie haßte es die Kontrolle zu verlieren; eine Eigenheit, die meistens sehr praktisch, aber unter manchen Umständen auch sehr anstrengend war. Wir setzten uns auf die gemütliche Couch, die vor dem immer noch brennenden Kamin stand, und Eli holte uns allen einen Schnaps. Den konnten wir wohl alle vertragen. Ich selbst war mir meiner Gefühle nicht ganz im Klaren. Was war vorgefallen? Das Bild, welches da unten friedlich auf der Stafette stand, konnte schlecht durch die Gegend wandern oder sich verwandeln. Es mußte eine logische Erklärung für das alles geben. Vielleicht hatte er es an eine andere Stelle gestellt, wo er meinte das Licht wäre besser und hat es dann vor lauter Aufregung vergessen. Eine eigentlich sehr unlogische Variante, denn so groß war der Kellerraum nun auch nicht und wir hätten sicherlich bemerkt, wenn irgendwo etwas gestanden hätte, was wir noch nicht kannten. Andererseits hatte ich mich nicht genauer umgesehen, so fasziniert war ich von Toms neuem Werk (War es denn überhaupt sein neues Werk?). Ich hoffte inständig, es würde sich alles aufklären, während Eli mit den Getränken zurückkam. Für uns brachte sie drei Schnapsgläser mit einer farblosen Flüssigkeit, wahrscheinlich Wodka, (wir tranken oft Wodka) und für Mary ein Glas Cola. Nachdem sie sich gesetzt hatte, nahmen wir alle unsere Gläser und schütteten den Inhalt auf einmal unsere Kehle hinunter. Es war wirklich Wodka, der sich jetzt langsam warm auf den Weg in den Magen machte und, obwohl er noch gar nicht wirken konnte, trotzdem einen beruhigenden Einfluß auf mich hatte. Mary trank natürlich langsamer. Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, war sie jetzt nur noch neugierig auf das Ergebnis unseres Gesprächs und schaute gespannt, ohne einen Ton von sich zu geben, in die Runde. Wir fingen an zu diskutieren, was eigentlich geschehen war. Es war ein sehr langes Gespräch, bei dem nicht viel herauskam, nur daß wir beim besten Willen keine Erklärung für den ungewöhnlichen Vorfall hatten. Tom hatte die letzten Pinselstriche an seinem Werk angebracht und es wie es war auf der Stafette stehen lassen (die Ölfarbe mußte erst noch trocknen, was wohl noch ein paar Tage dauern würde). Dann hatten wir gegessen, es wäre also gar keine Zeit für uns gewesen, das Bild mit einem anderen zu vertauschen, selbst wenn wir auf diese dämliche Idee gekommen wären. Er beschrieb, was er die letzten fünf Monate in seine Räumen gemacht hatte. Es sollte eine ungewöhnliche Landschaftsdarstellung werden, das Bild einer Stadt aus der Vogelperspektive. Als solches nichts Außergewöhnliches, aber gemalt in seinem ganz eigenen Stil, der sich normalerweise mehr für moderne Darstellungen eignete, die eine bestimmte Stimmung zum Ausdruck bringen, nicht für Landschaften oder Portraits. Das große Stück Holz, das da unten auf der Stafette stand, zeigte zwar den gleichen Ausschnitt von Chicago, den er gewählt hatte, Sears Towers am rechten Bildrand, war aber völlig anders gemalt. "Ich glaube, heute werden wir wohl zu keinem Ergebnis mehr kommen", sagte Elisabeth seufzend, nachdem wir fast eine Stunde diskutiert hatten. "Ich kann mir das alles jedenfalls nicht erklären. Außerdem muß Mary dringend ins Bett. Ihr beide müßt wohl eine Weile ohne mich auskommen." Sie nahm ihre kleine Tochter, der die Diskussion schon nach fünf Minuten langweilig geworden war und die daraufhin erst unruhig und dann müde wurde, bei der Hand und ging mit ihr nach oben, wo sich die Schlafzimmer befanden. "Und trinkt nicht den ganzen Wein aus bis ich wieder unten bin", rief sie uns noch zu während sie aus dem Zimmer ging. Tom nahm eine der Weinflaschen, die er in einer Redepause geholt hatte, grinste mich an und schenkte uns die Gläser noch einmal richtig voll. Der Streß und die Wut hatten sich gelegt. Sie wurden von Ratlosigkeit ersetzt, etwas womit Tom wesentlich besser klar kam. Niemand hatte sich an seinem Bild vergriffen, das war inzwischen eindeutig bewiesen und damit eine der wenigen Sachen aus der Welt geschafft, die ihn wirklich in Wut versetzen konnten. Wir schwiegen eine Weile und ließen den Wein in kleinen Schlucken unsere Kehlen hinunterrinnen. Dieses kühle köstlich Getränk bewies mir, indem es langsam in meinen Magen vordrang und meinen Hals von innen kühlte, daß ich nicht träumte, sondern wirklich hier in diesem Zimmer saß und über etwas nachdachte, was unmöglich geschehen sein konnte und sich doch vor fast zwei Stunden abgespielt hatte. Draußen heulte der Wind und drückte gegen die Fensterscheiben, auf denen noch einige Eiskristalle von der letzten Nacht zurückgeblieben waren. Sie glänzten im Licht der Straßenlaternen. "Laß uns noch einmal nach unten gehen", unterbrach ich nach einiger Zeit die Stille. "Ich will es mir noch mal ansehen und vielleicht finden wir im Keller doch noch eine Erklärung." Er stimmte zu, wir erhoben uns und betraten einige Augenblicke später den ominösen Arbeitsraum, in dem sich so unerklärliche Dinge ereignet hatten. Das Licht brannte noch. Tom hatte wohl vergessen es auszuschalten. Ich erwartete, das Bild nicht mehr vorzufinden, verschwunden, wie ein schlechter Traum am nächsten morgen. Oder zumindest eine Veränderung, irgend etwas. Sogar ein haariges Werwolfswesen, wie aus dem letzten Kinofilm den ich gesehen hatte, welches sich gerade über das Bild beugt, um dann im Nichts zu verschwinden, hätte mich nicht verwundert. Aber es stand noch da, ohne jede Veränderung und zeigte den Himmel über Chicago. Ich betrachtete es noch einmal ganz genau. Die Sterne schienen richtig zu leuchten. Man konnte fast die Geräusche auf den Straßen zu hören, der Lärm von Autos, die ihre Fahrer mehr oder weniger sicher zum Ziel brachten, das Geklapper von Schuhen hektisch über den Gehweg eilender Menschen, das Hupen von Taxis und laute Diskussionen zwischen den Beteiligten eines Auffahrunfalls. Alles wirkte so unglaublich echt, als müsse man nur hineingreifen, um sich einen der winzigen Bewohner dieser Straßen zu schnappen, um ihn herauszuziehen. Das Bild strahlte eine unheimliche Faszination auf mich aus, zog mich in seinen Bann. Ich weiß nicht wie lange ich es angestarrt habe, bis mich ein Geräusch wieder in die Wirklichkeit riß. Tom hatte begonnen den Keller zu durchwühlen. Er kramte, wie ein Besessener in Schränken und Kartons, in Schubladen und Werkzeugkästen. "Irgendwo muß doch etwas zu finden sein!" sagte er immer wieder, während Dinge, die er nur kurz untersuchte, fallengelassen wurden und polternd auf dem Boden landeten. "Irgendwo muß etwas sein!" Als ich aufblickte hatten sich schon ansehnliche Haufen auf den mit Farben bespritzten Fliesen des Kellers gebildet. Trotz meiner Hilfe fanden wir nichts, was uns auch nur einen Schritt weiterbrachte. Alles war so, wie es sich gehörte, kein einziges Werkzeug nicht an seinem Platz, kein Gegenstand, den Tom nicht selbst nach hier unten gebracht hätte. Und vor allem kein Bild, das Chicago aus der Vogelperspektive darstellte. Wo war es? Wo war sein Bild? Und wie war das andere nach hier unten gekommen? Nach einer halben Stunde kam auch Eli nach unten, um uns zu helfen. Nichts. Es hatte keinen Sinn, für diesen Tag mußten wir aufgeben. Im Wohnzimmer brannte immer noch der Kamin und verbreitete wohlige Wärme. Auf uns hatte er aber an diesem Abend nicht die beruhigende Wirkung, wie sonst. Es wurde noch viel geredet und getrunken. Erst sehr spät in der Nacht bestellte ich mir ein Taxi und fuhr nach Hause. Wirrste Träume begleiteten in dieser Nacht meinen Schlaf. *** Am nächsten Tag mußte ich zum Glück arbeiten. Das lenkte mich von den Ereignissen des vergangenen Tages ab. Voll auf die Arbeit konzentriert begannen die Geschehnisse zu verblassen, und auf dem Heimweg war ich mir schon sicher, wir hätten uns das alles eingebildet. Leider war dem nicht so, denn kaum hatte ich die Tür meiner kleinen Wohnung in der Stadt aufgeschlossen, da klingelte auch schon das Telefon. Tom war am anderen Ende der Leitung. Er wirkte sehr aufgeregt, seine Stimme überschlug sich fast als er sagte: "Du mußt herkommen, schnell. Beweis mir, daß ich nicht verrückt geworden sind." "Was ist passiert?" "Es hat sich schon wieder verändert! Komm her und sieh es dir an. Bitte! Ich kann das am Telefon nicht erzählen." Nach einigen beruhigenden Worten, die nicht die geringsten Auswirkungen zu haben schienen, setzte ich mich sofort wieder ins Auto. Auf den Straßen tobte das Chaos. Seit gestern abend hatte es nicht aufgehört zu schneien. Die Räumungsfahrzeuge kamen gegen diese Schneemassen nicht an, und so waren die Straßen zu reinen Eisbahnen geworden. Im Schrittempo fuhr ich durch die Häuserschluchten der Innenstadt. Die Landschaft war bedeckt mit einer dicken weißen Decke. An den Rändern der Gehsteige braun gewordener Matsch wurde sofort wieder von einer frischen Schicht aus Puderzucker bedeckt. Fußgänger gingen wie auf Eiern durch die Straßen. Hier und da war jemand festgefahren und helfende Hände mußten anschieben, um ein Fortkommen zu ermöglichen. Die Fahrt erforderte meine ganze Konzentration. Konzentration, die ich nur mit Mühe aufbringen konnte. Tom hatte gesagt, das Bild hätte sich schon wieder verändert. Wie war das möglich? Es war ein Ölbild! Es konnte sich nicht einfach verändern! ... Andererseits hatte es das schon einmal getan oder nicht? Es krachte. Trotz der gefährlichen Verkehrslage war ich in Gedanken versunken gewesen. Jetzt schreckte ich hoch und betrachtete mit Schrecken die Szene vor mir. Vor mir hatte sich ein kleiner Stau gebildet, wahrscheinlich weil sich ganz vorn jemand festgefahren hatte. Das Scheppern wurde verursacht von einem Kombi, der, durch das Eis unfähig zu bremsen, auf seinen Vordermann aufgefahren war. Aus seinem Kofferraum ragte eine alte Holzleiter, mit einer roten Fahne gekennzeichnet. Man sah auch einige Kartons mit Farbe hinten stehen, wahrscheinlich war der Fahrer unterwegs um Bekannten beim Renovieren ihrer Wohnung zu helfen. Passanten drehten nur gelangweilt die Köpfe, ein Bild wie dieses war seit ein paar Tagen keine Seltenheit mehr. Die kleinen Glassplitter des Sicherheitsglases seiner Windschutzscheibe flogen durch die Luft und verschwanden in den großen Schneehaufen am Straßenrand. Einige Sekundenbruchteile später stand ich mit beiden Füßen auf der Bremse. Nichts geschah. Meine Reifen blockierten und ich rutschte, ohne daß auch nur eine kleine Bremswirkung zu spüren gewesen wäre auf den Wagen vor mir zu. Und auf die Leiter, die ein ganzes Stück auf die Straße herausragte. Ratternd sprang das ABS meines Autos an, aber schon jetzt konnte ich sehen, daß ich keine Chance hatte rechtzeitig zum stehen zu kommen. Wie in Zeitlupe kam die Leiter immer näher. Ich konnte jeden einzelnen Riß in dem alten ausgetrockneten Holz erkennen. Kleine weiße und gelbe Farbspritzer hafteten auf den dunkelbraunen Sprossen. Nur Augenblicke später traf sie auf das Glas meiner Windschutzscheibe. Mit einer Genauigkeit, die nur in Situationen wie diesen möglich war, beobachtete ich das Spinnennetz der Risse, das sich über meine Scheibe ausbreitete. Kleine Glassplitter brachen das einfallende Licht tausendfach und rieselten geräuschvoll über das Armaturenbrett. Endlich verließ mich die Starrheit und mit einem Ruck riß ich meinen Kopf zur Seite und warf mich auf den Beifahrersitz. Es krachte zum zweiten Mal innerhalb weniger Sekunden, nur das diesmal mein Wagen das Geräusch verursachte. Die Leiter drückte gegen den Fahrersitz, der sich ächzend widersetzte. Er gewann den seltsamen Zweikampf und mit einen splitternden Geräusch (das Dritte in so kurzer Zeit) brach die Leiter, als der Lieferwagen, der hinter mir fuhr meinen Kofferraum eindrückte. Schon wieder das Aufheulen von Metall, dem durch rohe Gewalt eine neue Form gegeben wurde. Man sagt, am schlimmsten wären die Schweißausbrüche danach. Eine der zutreffendsten Aussagen, die ich je gehört habe. Langsam fand ich wieder zu mir und versuchte mich wieder aufzurichten, immer noch schwer atmend und wahrscheinlich kreidebleich. Es ging nicht. Über mir steckte die Leiter im Sitz, so daß ein einfaches Aufsetzen unmöglich war, und mein Gurt verhinderte, daß ich mich darunter hervorwandt. So mußte ich liegenbleiben bis mich jemand befreite. Ein junger Mann mit einer karierten Hose - später im Krankenhaus erzählte er mir er sei Student der Tiermedizin - öffnete die Tür und half mir beim abschnallen. Kurze Zeit später hatte er mich aus dem verunstalteten Innenraum meines Autos gezogen. "Wie geht's ihnen? Haben sie Schmerzen?" "Alles o.k. ... glaube ich. Mir fehlt nichts." Es waren die Wort eines Fremden, die da an mein Ohr drangen. "Da haben sie ja noch mal richtig Glück gehabt. Die Leiter hätte bestimmt nicht viel von ihnen übrig gelassen, oder sie wären jetzt zweimal auf der Welt." Er grinste mich an. Erst jetzt wurde mir bewußt, was geschehen wäre, wenn ich mich nicht rechtzeitig beiseite geworfen hätte. Die Füße der Leiter hatten den Sitz durchbohrt und waren erst von der untersten Sprosse aufgehalten worden. Da ich für mein Auto eigentlich zu groß bin - ich fuhr damals einen kleinen Gebrauchtwagen -, hätte mich die Leiter knapp unterhalb der Achselhöhlen fein säuberlich in zwei Teile geteilt oder zumindest meinen Brustkorb in blutigen Matsch verwandelt. Noch heute frage ich mich manchmal, ob diese Bemerkung ein schlechter Versuch war mich aufzumuntern, oder ob dieser Tiermediziner mit der karierten Hose schon immer eine etwas verrückte Art von Humor hatte. Zu diesem Zeitpunkt war es mir jedenfalls egal. Ich wollte mich nur irgendwo hinsetzen und einen Schluck trinken, meine Kehle war völlig ausgedörrt von dem Schreck. Ich hatte den Gedanken noch nicht ganz zu Ende gedacht, da drückte mir der Tiermediziner - es tut mir leid, ich kann mich an seinen Namen einfach nicht erinnern, nur an diese Hose - eine Dose Pepsi in die Hand. "Hier. Hab' ich aus dem Automaten da hinten. Sie sollten einen Schluck trinken." Dankbar nahm ich die Dose und trank - nur um mich fürchterlich zu verschlucken. Ich wurde von einem regelrechten Hustenkrampf geschüttelt, so schlimm, daß fast die Hälfte des bräunlichen Getränks im Schnee landete. Nachdem ich mich beruhigt hatte, trank ich den Rest langsam und vorsichtig in kleinen Schlucken. So verstrich die Zeit bis es endlich ein Krankenwagen und die Polizei geschafft hatten bis zu uns vorzudringen. Vorher rief ich allerdings noch bei Tom an, ein Gespräch, an das ich mich noch lange erinnern werde. *** Der Unfall ereignete direkt neben einer Telefonzelle. Eigentlich war es ein Wunder, daß niemand bei diesem Massenzusammenstoß dort hineingeschoben worden war. Ich hatte kein Kleingeld dabei und das dämliche Ding nahm keine Kreditkarten, deshalb mußte ich mir ein paar Münzen von dem Studenten leihen (wenn der Kerl nur nicht so eine häßliche Hose angehabt hätte). Das erste Freizeichen war noch nicht ganz verklungen, da hielt Tom den Hörer schon in der Hand. Er schrie fast ins Telefon als er fragte: "Phil, bist Du das? Geht es dir gut?" Seine Stimme klang furchtbar, sie zitterte und überschlug sich fast. Er klang, als hätte gerade eine Katastrophe um Haaresbreite seine Familie ausgerottet. "Ja, mir geht es gut. Ich hatte gerade einen Unfall, aber mir ist nichts passiert. Das Schlimmste war der Schreck, und mein Auto ist im Arsch." Ich bemühte mich locker und entspannt zu klingen, als wäre nichts weiter passiert. Aber noch bevor ich richtig ausgesprochen hatte, kam ein seltsames Geräusch aus der Telefonmuschel, welches ich nicht richtig deuten konnte. Dann war es weg. Nur ein schweres Atmen verriet mir, daß Tom noch auf der anderen Seite der Leitung war. Es war das schnelle Hecheln eines erschreckten Tieres. Als er mir endlich antwortete, schien er sich wieder gefangen zu haben, aber die Worte kamen nur langsam aus ihm heraus. Er mußte sich anscheinend auf jedes einzelne Wort konzentrieren. "Eine Leiter wurde dir durch die Windschutzscheibe gestoßen, stimmt's? Sie ragte einem dunkelblauen Kombi aus dem Kofferraum und du bist hinten draufgerutscht, weil es so glatt ist." Ein Blick über die Schulter auf die Unfallstelle verriet mir die Farbe des Kombis. Ich hatte bisher wirklich nicht darauf geachtet, wie das Fahrzeug lackiert war, daß mich fast meine Lungenflügel gekostet hätte. Er war dunkelblau. Jetzt bekam ich eine grobe Vorstellung, was los war. "Das Bild?" "Vorhin am Telefon habe ich dir doch erzählt, es hätte sich verändert." "Ja." "Es hat den Unfall gezeigt. Zuerst war nichts genaues zu erkennen, nur ein Stau auf der Straße. Man konnte von oben senkrecht darauf sehen. Als ich bei dir Anrief war die Entfernung noch zu groß, um etwas genaues zu erkennen, es hat ja auch geschneit. Nach dem Telefonat bin ich wieder in den Keller gegangen, um mir noch mal alles genau anzusehen. Die Szene hatte sich schon wieder verändert. Ich war viel näher dran und konnte jetzt genau erkennen, was unten auf der Straße geschah. Dein Auto, der Kombi, die Leiter, sogar die Telefonzelle von der du wahrscheinlich anrufst, einfach alles. Du kannst dir sicherlich vorstellen, wie ich mich erschrocken habe. Natürlich hab ich sofort versucht dich anzurufen, aber es war nur dein Anrufbeantworter dran. Seit dem warte ich drauf, daß du dich endlich meldest. Was für ein Dreck!" Er schwieg kurz. Ich wollte gerade etwas erwidern, als er weiter sprach. "Kommst du heute noch rüber? Du weißt ja, daß Eli mit Mary in die Stadt gefahren ist, um ihre Tante Iselda zu besuchen. Nach all dem habe ich keine große Lust den ganzen Abend allein rumzusitzen. du mußt einfach kommen und mir beweisen, daß ich nicht spinne." Er klang viel zu mitgenommen, als das ich hätte absagen können. Ich versprach ihm also auf jeden Fall noch vorbeizukommen, egal wie lange es noch dauern würde. *** Nach und nach wurde es vollkommen dunkel. Während sich die Sonne bis vor Kurzem nur hinter grauen Wolken versteckt hatte, hatte sie nun den Kampf gegen die Nacht aufgegeben und sich hinter den Horizont zurückgezogen, um neue Kraft für den nächsten Tag zu sammeln. Die Straßenlaternen warfen fahles Licht auf die Szene, welches von den tanzenden Schneeflocken tausendfach gebrochen wurde. Die Polizei nahm alle Zeugenaussagen für die Akten auf, notierte sich alle Adressen, verteilte Strafzettel für "nicht an die Straßenverhältnisse angepaßte Geschwindigkeit" und half den Leuten vom Rettungsdienst, wo immer es nötig war. Der Student in der karierten Hose lief mehr oder weniger ziellos umher, und versucht so weit es ging zu helfen. Nach dem die Straße wieder halbwegs aufgeräumt, und alle Fahrzeuge auf ihrem Weg zum Schrottplatz oder in die Werkstatt waren, wurden wir gebeten, uns auf eventuelle Spätschäden des Unfalls untersuchen zu lassen, und wir sollten uns innerhalb der nächsten Tage für eine detaillierte Zeugenaussage im Revier melden. *** Nach etlichen Stunden war ich endlich beim Haus der Meadows angekommen. Tom erwartete mich bereits. Unter normalen Umständen hätte ich mich nicht getraut so spät noch zu klingeln, aber er hatte mich schließlich gebeten noch zu kommen. Es war fast elf Uhr, und ich fühlte mich hundeelend. Die Nachwirkungen des Schocks machten mir mehr zu schaffen, als ich es für möglich gehalten hätte. Und es hatte eine Ewigkeit gedauert bis ich ein Taxi gefunden hatte. Auf dem Tisch im Wohnzimmer lag ein Pizzakarton, Elisabeth war also schon vor dem Essen weggefahren. Der ganze Raum wirkte kalt und ungemütlich, obwohl sich seit gestern eigentlich nicht viel verändert hatte. Auf dem Tisch standen neben dem Pizzakarton noch ein Glas und eine Flasche schottischer Whisky, etwas, das sich Tom nur unter ungewöhnlichen Umständen gönnte, und die Beleuchtung war auffällig hell. Fast alle Lampen waren angeschaltet und nur der Kamin war leer und dunkel. Aber ich glaube am meisten hat Toms Gesicht zu der schlechten Ausstrahlung des Zimmers beigetragen, es war bleich wie ein Leichentuch. Wir setzten uns auf die Couch, und er bot mir auch einen Whisky an, den ich dankbar annahm. Erst nach mehreren Minuten Schweigen fing Tom an zu erzählen. "Ich wollte sowieso nicht, daß sie fährt." Tom hatte die Unterhaltung so unvermittelt begonnen, daß ich aus meinen Gedanken aufschreckte, ohne mitbekommen zu haben was er sagte. "Wie bitte?" "Ich sagte, ich wollte nicht, daß sie zu Tante Iselda fährt. Aber sie mußte sie unbedingt heute besuchen. Du weißt ja, was ich von "der guten Tante" halte. Sie hat Mary völlig um den Finger gewickelt. Mit ihren dauernden Geschenken an die Kleine geht sie mir furchtbar auf die Nerven. Man kann alles übertreiben." Tom konnte die Tante seiner Frau wirklich noch nie leiden, schon am ersten Tag an dem sie sich kennenlernten, hatte es Streit gegeben. Das war einige Tage vor ihrer Hochzeit gewesen. Tom hatte ein halbes Jahr vorher einen Job als Comiczeichner bekommen (das war bevor er von seiner Kunst leben konnte) und wollte möglichst in die Nähe seines Arbeitsplatzes ziehen, was auch den Ausschlag gegeben hatte endlich zu heiraten. Immerhin wohnten sie schon fünf Jahre zusammen, hatten aber die Planung für eine Hochzeit immer herausgeschoben, obwohl sie schon oft davon gesprochen hatten. Die ganze Hochzeit war ziemlicher Streß, weil sie erst kurz vorher ihre damalige Wohnung gefunden hatten und der Umzug mit den Hochzeitsvorbereitungen kollidierte. Und dann wollte Eli noch ihre Tante Iselda besuchen, die in Chicago lebte. Ich möchte diese ziemlich langweilige Geschichte nicht zu lange auswalzen, deshalb jetzt nur noch die Kurzfassung: Der Streß und die zugegeben nicht ganz einfache Art der besagten Tante haben bei dem Besuch einen ziemlichen Streit ausgelöst, so daß Tom schon bei der Erwähnung des Namens rot anlief. Oder mindestens ganz schnell das Thema wechselte. Sein einziger ständiger Kommentar war "Allein dieser Name...". Ich habe diese starke Feindseligkeit nie richtig verstanden und schiebe es auf den Streß damals, aber man kann wirklich nicht sagen, daß es Toms alleinige Schuld war, denn eine gewisse Feindseligkeit auch von seiten der Tante, war nicht zu übersehen. Jetzt ließ sich Tom, der auf einmal einen Redeschwall hatte, den ich im Laufe unserer langen Freundschaft schon lange nicht mehr erlebt hatte, zu einer Haßtirade sondergleichen hinreißen. Jeden Vorfall der letzten Jahre schien er wieder aufzuwärmen und erzählte ihn ausschweifend. Zuerst wunderte ich mich, daß er nicht mit einem Wort das Bild und den heutigen Vorfall erwähnte und er hatte mich auch noch nicht in den Keller gebracht, damit ich mich mit eigenen Augen von seiner Geschichte überzeugen konnte, aber dann fiel mir auf, wie wenig Lust ich selbst hatte dorthin zu gehen. Es war ein regelrechter Widerwillen in mir, näher als unbedingt nötig an dieses teuflische Gemälde heranzugehen. Ihm ist es wahrscheinlich nicht anders ergangen. Also saßen wir beide da, redeten über Tante Iselda (eigentlich redete er) und vermieden das Thema vollkommen. Irgendwann entschied ich mich einen Anfang zu machen und stand auf. "Laß uns nach unten gehen, ich will es mir ansehen." Das war gelogen. Ich wollte es mir nicht ansehen, aber irgendwie war mir klar, daß endlich etwas geschehen mußte. Wir mußten eine Lösung finden oder zumindest herausfinden, wie das alles geschehen konnte. Und vor allem, was überhaupt geschehen war. Die Kellertreppe wirkte etwas zu dunkel und das Knarren der Holzstufen, das ich im Laufe der Jahre gelernt hatte zu überhören, hallte unheimlich durch den Treppenschacht. Mit übertriebener Hast betätigte Tom den Lichtschalter nach Öffnen der Tür zu seinem Arbeitsraum, und wir traten ein. Tom hatte hier unten nichts verändert. Die Stafette stand noch immer mit der Rückseite zu uns - es sollte ja eine Überraschung werden -, auf dem mit Farbe bekleckerten Fliesenboden lagen immer noch die Überbleibsel der hektischen Suche nach Hinweisen, und in der Luft lag ein unangenehmer Geruch von aus zertretenen Tuben hervorgequollener Ölfarbe. Mit einer Vorsicht, die jeder Logik widersprach näherten wir uns dem Bild. Es zeigte die fotorealistische Darstellung eines Teils der Stadt Chicago aus der Vogelperspektive, wie schon bei meinem ersten Besuch, aber der Ausschnitt hatte sich verändert. Es war als wäre eine Kamera langsam nach Westen geschwenkt, über die City hinweg (dort wo mein Unfall stattgefunden hatte), bis zu der Wohngegend im Westen der Stadt. Man konnte genau die ruhigen Straßen erkennen, um Mitternacht selten vom Geräusch fahrender Auto gestört, und dunkle Häuser, in denen Menschen schliefen, um sich für den kommenden Tag auszuruhen. Aus einem Fenster am Rande des Bildausschnittes kam Licht und beleuchtete einen weinroten Chevy, der sich in eine Schlange parkender Wagen vor dem Haus einreihte. Wahrscheinlich feierten die Bewohner und die Autos gehörten den Besuchern. Ich war erstaunt. Obwohl mir Tom die unglaublichen Veränderungen des Bildes beschrieben hatte, wollte ich nicht glauben, was ich da sah. "Das ist wirklich dasselbe Bild von gestern?" "Aber ja. Es ist das Bild. Es verändert sich ständig. Ich glaube es ist eine kontinuierliche Veränderung, zu langsam für unser Auge." "Wie meinst du das?" "Es verändert sich die ganze Zeit, aber so langsam, daß wir es nicht sehen", wiederholte er. "Es ist wie bei den Zeigern einer Uhr, sie bewegen sich, und trotzdem sehen wir diese Bewegung nicht. Aber nach einer Weile stehen die Zeiger trotzdem anders als vorher." Was war, wenn das stimmen würde (und daran war eigentlich nicht mehr zu zweifeln)? Ein sich gleichmäßig veränderndes Ölbild, welches auch noch Dinge zeigt, die sich gerade oder in naher (?) Zukunft abspielen. Ein faszinierender und auch erschreckender Gedanke. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Was für Möglichkeiten taten sich auf? Was für Gefahren verbargen sich hinter einer solchen Erscheinung? Was sollten wir damit tun? Es vernichten? Es erforschen und nutzbar machen? Und was dann? Wenn es erforscht wäre, müßten wir es den Behörden melden, die versuchen würden eine wissenschaftliche Erklärung für das Phänomen zu finden, damit experimentieren und es dabei höchstwahrscheinlich zerstören würden. Die Auswirkungen einer öffentlichen Bekanntgabe des Vorfalls waren unmöglich abzusehen, das ganze Leben meines Freundes, seiner Familie und auch meins würde sich höchstwahrscheinlich schlagartig ändern, wobei Reporter, die das Haus umlagern wahrscheinlich noch das Harmloseste wären. Aber konnte man so eine Entdeckung für sich behalten? War das alles nicht zu wichtig, um nicht veröffentlicht zu werden? Und wo kam das Bild her, oder wie konnte es sich so verändern? "Sag mal Tom, hast du irgendeine Erklärung, wie so etwas zu stande gekommen sein kann? Kann es an der neuen Maltechnik gelegen haben?" Tom antwortete gereizt: "Ich habe keine neue Technik verwendet! Das habe ich euch doch schon gestern erzählt." Als ihm sein Tonfall klar wurde, senkte er die Stimme etwas und lächelte entschuldigend. "Ich habe mir schon den ganzen Abend darüber den Kopf zerbrochen und finde einfach keine logische Erklärung. Das Bild wurde gemalt, wie jedes andere bisher. Ich habe vorhin mit Elisabeth telefoniert, sie hat versprochen morgen gegen Mittag zurückzukommen, wollte aber bei ihrer Tante bleiben, bis sich das Unwetter gelegt hat." Mir entging nicht das er Tante Iseldas Namen nicht ausgesprochen hatte. "Ich weiß einfach nicht, was wir tun sollen. Wir können doch nicht einfach nichts tun, oder?" Sein fragender Blick suchte Widerspruch, den ich nicht geben konnte. Ich sah wieder auf das Bild, es hatte sich wahrhaftig verändert: Die "Kamera" war weiter nach links gewandert, so daß sich der beleuchtete weinrote Chevy nicht mehr ganz im Bild befand. Seine gesamte Kühlerhaube war nicht mehr zu sehen, was auf der Holzfläche des Ölbildes zwei oder drei Millimetern entsprach. Tom hatte also wirklich recht. Jetzt hatte ich es mir eigenen Augen gesehen und konnte es unmöglich noch leugnen. Ich zeigte es ihm. "Ja, so war es vorhin auch, wie ein ganz langsamer Kameraschwenk." Wir blieben noch ein paar Augenblicke in seinem Arbeitsraum und gingen wieder nach oben, als der Chevy ganz verschwunden war, und nach kurzer Zeit wollten wir beide ins Bett. Es war ein ereignisreicher Tag gewesen, der nun seinen Tribut forderte. Tom richtete mir das Gästezimmer her, denn es war zu spät und verschneit, um noch nach Hause zu fahren. Eine Stunde später war ich eingeschlafen, obwohl ich beim Hinlegen dachte ich würde kein Auge zutun. *** Es war noch fast eine halbe Stunde bis zum Sonnenaufgang, als ich von einem Alptraum erwachte. Ich hatte Mühe beim Atmen. Eine riesige Eisenklaue schien, um meinen Brustkorb gelegt, zu versuchen, mich zu ersticken und ein Schweißfilm auf meinem Körper ließ mich frösteln. Ich wußte nicht mehr, was ich geträumt hatte, nur eine schwere Beklemmung in Form dieser Eisenklaue war übrig geblieben, so stark, daß ich Angst hatte wieder einzuschlafen und eventuell weiterzuträumen. Also blieb ich liegen, und versuchte mein Herz ein wenig zu beruhigen. Obwohl ich es nicht wollte, drifteten meine Gedanken sofort wieder zu dem Bild. Der Alptraum beeinflußte die Szenerie, die sich in meiner Gedankenwelt auftat nachhaltig, und so stellte ich mir brutale von der Mafia angeheuerte Mörder vor, die versuchten mit allen Mitteln an das Ölbild zu kommen, skrupellose Hintermänner der Regierung, die keine Gemeinheit ausließen, um das gleiche Ziel zu erreichen und riesige Heere von gnadenlosen Reportern, die alle gleichzeitig in das ehemals friedliche Haus der Meadows stürmten. Es dauerte ziemlich lange - jedenfalls kam es mir lange vor, wahrscheinlich waren es nur einige Minuten - bis ich es schaffte einigermaßen nüchtern und logisch über unsere Situation nachzudenken. Ich drängte alle Gefühle der Bedrückung und andere Auswirkungen des Unfalls und des Alptraums in den Hintergrund und fragte mich schließlich ob wirklich alles so schlimm und ausweglos war, wie es schien. Von ein wenig Farbe auf einer polierten Holzplatte konnte keine direkte Gefahr ausgehen, auch wenn es den Anschein hatte, sie würde über einen eigenen Willen verfügen. Wenn also überhaupt eine Gefahr für uns bestand, dann konnte die Quelle dafür nur aus anderen Menschen bestehen, die etwas davon erfuhren, und es für ihre eigenen Zwecke nutzen wollten. Aber niemand wußte von dem Bild außer mir, Tom, Elisabeth und Mary. Mary würde in der Schule ausgelacht, wenn sie von einem prophetischen Werk ihres Vaters erzählte und wir anderen drei konnten schweigen. Damit wäre schon einmal die Gefahr der Reporterscharen, der Mörder und der rücksichtslosen Regierungsbeamten ausgeschaltet, die es eventuell auf das Bild abgesehen haben könnten. Bei der Vorstellung einer Stampede von trenchcoatbemantelten Reportern, die eine dunkle Staubwolke hinter sich herziehend auf das Haus zurennen und dabei laut irgendwelchen Blödsinn durcheinanderbrüllen, mußte ich anfangen zu kichern. "Mr. Meadows, wollen sie in die Weltpolitik mit ihren Weissagungen?" "Spielen sie Lotto?" "Verkaufen sie mir ihren Fernseher?" Es wurde fast zu einen Lachanfall als nun auch noch Kermit der Frosch durch mein Gedankenbild hüpfte, mit seinem alten Mikrophon und dem braunen Hut, um einen Bericht für die Sesamstraßennachrichten zu machen. Plötzlich tauchte auch noch Supergrobie auf, der über die Reporterscharen flog und in die Eingangstür des Meadow-Hauses einschlug, wie eine Rakete. Mir tat bald der Bauch weh. Ich wollte nicht laut loslachen, es war noch zu früh. Immer mehr Figuren der Sesamstraße und der Muppetshow bevölkerten die Landschaft meiner Vorstellung: Schlemil versuchte Ölfarbe zu verkaufen, Gonzo vollführte akrobatische Kunststücke mit seinen dressierten Hühnern, Fossi-Bär erzählte schlechte Witze über Künstler und Ms. Piggy machte eine neue Folge von "Schweine im Weltall" mit dem Titel "Farbverändernde prophetische Mutantenbakterien bedrohen die Menschheit". Mein Bauch schmerzte immer stärker. Ich war sicher knallrot im Gesicht und ein neuer Schweißfilm bildete sich auf meiner Stirn, noch bevor der Angstschweiß des Alptraums richtig getrocknet war. Aber ich konnte mich nicht beruhigen und lachte bis ich keine Luft mehr bekam. Die Tür des Nachbarraums, das ehelichen Schlafzimmer von Tom und Eli, wurde langsam geöffnet und wieder verschlossen. Tom war also auch schon wach. Die Treppe knarrte leise und wenig später war das Rauschen des Wasserhahns in der Küche zu hören, bald gefolgt vom Gurgeln der Kaffeemaschine. Wieder das Knarren der Treppe, dann das Klappen der Badezimmertür. Nachdem ich mich nun doch langsam von meinem hysterischen Gelächter beruhigen konnte, beschloß ich auch aufzustehen und ging nach draußen, als ich hörte, wie Tom wieder aus dem Bad kam. Erst nach dem Waschen traute ich mich in den Spiegel zu sehen, wurde aber positiv überrascht. Die Ringe unter meinen Augen waren lange nicht so ausgeprägt, wie ich befürchtet hatte. Nachdem ich fertig war, ging ich in die Küche. Dort saß schon Tom auf einem der beigefarbenen Plastikklappstühle und starrte Löcher in die Luft. Ich wünschte ihm einen guten Morgen. "Du hast wohl genauso beschissen geschlafen, wie ich, hm?" Er sah auf, dachte kurz nach, als hätte er die Frage nicht verstanden und antwortete schließlich: "Es ging so, nur etwas zu kurz." Er deutete auf einen der anderen Stühle. "Setz dich! Willst du auch einen Kaffee?" Etwas später hielten wir beide eine Tasse mit unglaublich starkem Kaffee in der Hand. Langsam wurden unsere Lebensgeister geweckt und wir bekamen Hunger. Das Frühstück zog sich bis in den späten Morgen hinein, wobei wir wenig sprachen, aber wenn, dann ging es um "unser" Thema: das Bild. Leider ergab sich immer noch keine Lösung, aber wir waren uns einig, daß wir gestern wohl etwas überreagiert hatten. Mehr aus Neugier als ein bestimmtes Ziel verfolgend gingen wir später noch einmal in den Keller. Die unheimliche Stimmung von gestern war wie weggeblasen. Der Schlaf hatte es uns ermöglicht, ein wenig von den gestrigen Ereignissen Abstand zu nehmen, so daß wir jetzt mit der Gewißheit nach unten gehen konnten, uns ein etwas seltsames Bild anzusehen, keinen verkleideten Dämon. Tom und mir war klar geworden, daß keine direkte Gefahr von dieser Landschaftsdarstellung ausgehen konnte, und so wirkte der Keller auf einmal so freundlich wie immer, und nur noch ein fast schon wohliges Gruseln überkam uns, als wir den Arbeitsraum Toms betraten. Wir konnte ja nicht ahnen, was Tom sehen würde, als er um die Stafette ging. Ich warf erst einen Blick auf das Bild, als Tom schon an mir vorbei nach oben gerannt war. Dieser kurze Blick verriet mir sofort, warum er implosionsartig Luft eingesogen hatte, und ihm Schweißperlen auf die Stirn geschossen waren, wie Wassertropfen aus einem Duschkopf. Das Bild hatte seine Kameraeinstellung wieder völlig geändert. Es zeigte eine Straßenszene, wie sie sich jeden Tag wohl einige Duzend Male in Chicago abspielten. Nur eine einsame schmale Straße war zu erkennen. Die Sonne beleuchtete nur einen kleinen Teil davon und wurde von einer Coladose widergespiegelt, die neben einer alten Zeitung auf einem Schneehaufen lag. Direkt unter einer Straßenlaterne hing ein Zigarettenautomat. Ein junger Mann in Jeans und Turnschuhen drehte ihm den Rücken zu und holte gerade aus, um einer Frau ein Messer in die Brust zu stoßen. Zwei weitere Männer standen neben ihm. Das Bild war so exakt gemalt, daß man die Gesichtszüge der Personen genau erkennen konnte. Ich hätte den Messerbesitzer jederzeit identifizieren können. Ein großer Pickel leuchtete rot auf seinem unrasierten Kinn, und dicke Ringe thronten unter den roten haßverzerrten Augen. Auch seine beiden Freunde sahen nicht viel besser aus. Alle waren totenblaß und wirkten ungewaschen. Wahrscheinlich handelte es sich um Junkies, die Geld für einen neuen Schuß stehlen mußten. Auch die Frau war sehr gut zu erkennen. Auf ihr Gesicht, welches bleich vor Angst die Räuber ansah, viel helles Sonnenlicht und hob sie auf diese Weise aus der Szene hervor. Es war Eli. Jetzt rannte auch ich. Oben angekommen hörte ich poltern aus der kleinen Abstellkammer, die neben der Küche als Lagerraum für Werkzeuge und einige Lebensmittel genutzt wurde. Tom kam bereits wieder heraus. In seiner Hand hielt er einen 38. Revolver und einen kleinen Kasten mit Patronen. "Was hast du vor?" rief ich, während er an mir vorbei zur Haustür rannte. "Was glaubst du wohl?" Er griff nach dem Schlüsselbund. "Hinfahren natürlich!" Noch bevor die Worte ausgesprochen waren, hatte er schon die Tür aufgerissen und lief zum Auto. Ich folgte ihm. Die Straßenverhältnisse hatten sich seit der letzten Nacht wesentlich verbessert. Es hatte schon vor einigen Stunden aufgehört zu schneien, was den Räumungfahrzeugen Gelegenheit gegeben hatte, den Asphalt von Schnee und Eis zu befreien. Man konnte sehr viel schneller fahren als gestern, ohne seinen Hals zu riskieren. Genau das tat Tom jetzt auch. Er stieß aus der Einfahrt auf die Straße, wobei er sich nicht die Mühe machte zu gucken, ob er jemandem vor die Nase fuhr, schaltete in den ersten Gang und raste die Straße hinunter. Ich werde mich nicht mit langen Beschreibungen der Fahrt aufhalten. Sie war grauenhaft. Tom trieb den Wagen bis zum Äußersten an und nahm auf die widrigen Straßenverhältnisse keinerlei Rücksicht. Wenn er nicht ein so guter Fahrer gewesen wäre, hätten wir unser Ziel wohl nicht erreicht. Aber so schafften wir es in Rekordzeit. Eine Strecke für die man bei guten Wetterverhältnissen und halbwegs freier Straße eine viertel Stunde braucht, fuhr er in noch nicht einmal zehn Minuten, und das bei denkbar schlechten Straßenverhältnissen. Aber selbst das war mehr als knapp. Nach den Überlegungen, die ich anstellte, hatte er auf meinen Anruf ungefähr eine halbe Stunde gewartet. Es waren bei mir etwas über zwanzig Minuten verstrichen, bevor ich vom Unfallort bei ihm anrief. Das waren knappe zehn Minuten, die das Bild in die Zukunft geweist hatte. Falls diese Zeitspanne immer gleich war, konnten wir es eigentlich gar nicht schaffen rechtzeitig bei Eli zu sein. Und wir wußten auch nicht wie lange diese Szene schon zu sehen gewesen war, bevor wir in den Keller kamen. *** Bei Tante Iselda angekommen, sprang Tom aus dem Auto und rannte zu ihrer Haustür. Ich wartete im Wagen, damit wir ohne Verzögerung weiterfahren konnten, um Eli zu suchen. Hoffentlich war Mary bei ihrer Tante geblieben. Wir hatten sie zwar auf dem Bild nicht gesehen, was aber nicht heißen mußte, daß sie nicht bei ihrer Mutter war. Immerhin zeigte das Bild immer nur einen Ausschnitt der jeweiligen Szenen. Nach einer kurzen hektischen Unterhaltung mit der grauhaarigen Tante kam Tom zurück. Erst als wir schon wider die Straße hinunterrasten, sagte er mir wohin es ging: zu dem Zigarettenautomaten, den wir auf dem Bild gesehen hatten. Unsere schlimmsten Befürchtungen hatten sich also bestätigt. Das Bild hatte zumindest in einem Punkt nicht gelogen, also war es wahrscheinlich, daß auch der Rest stimmte. Auf meine Frage nach Mary antwortete er nur kurz: "In Sicherheit." Seine ganze Konzentration war auf die Fahrt gerichtet. Noch nicht einmal eine Minute später bogen wir in die Straße ein, in der der Zigarettenautomat hing. Sie war ziemlich lang, wenn auch sehr schmal. Ungefähr in ihrer Mitte waren einige Gestalten zu erkennen, die sich um etwas scharrten, was auf dem Boden lag. Tom fuhr direkt auf sie zu. Sein Gesicht zeigte keine emotionale Regung. Sein Gesicht hatte aber alle Farbe verloren, und seine Hände waren so stark um das Lenkrad verkrampft, daß es den Eindruck machte, er wolle es abbrechen. Einer von ihnen blickte hoch. Auf sein Gesicht viel die Sonne, so daß ich es trotz der verhältnismäßig großen Entfernung erkennen konnte. Es war das unrasierte Gesicht des Messerschwingers. Er sah uns an. Ein paar gerufene Worte zu den anderen, und sie stoben auseinander. Auf der Straße liegend blieb etwas zurück, was wie ein Körper aussah. Ich war vor Entsetzen wie gelähmt, aber Tom reagierte sehr schnell. Sein Gesicht hatte sich in eine Fratze verwandelt, verzerrt vor Angst und Haß. Er raste weiter und bremst scharf vor dem auf der Straße liegenden Körper. Wir sprangen zeitgleich aus dem Auto. Es war Eli, die da am Boden lag. Ich kniete mich auf dem Asphalt neben ihr nieder. Sie hatte die Arme um ihren Bauch geklammert, und zwischen ihnen Quoll Blut hervor. Ihr Atem ging nur schwach. Als sie mich bemerkte, lächelte sie. Ein Geräusch ließ mich aufblicken. Tom war zum Auto zurückgerannt und kramte im Handschuhfach. Sekunden später stand er wieder auf der Straße, in seiner Hand der Revolver. Sein Gesichtsausdruck war noch der gleiche, wie vor einer Minute: eine Maske des Hasses. Die Junkies hatten sich getrennt und waren in verschiedene Seitengassen gelaufen, von denen hier viele in den Wohnblock hineinführten. Die Wege waren so schmal, daß ein Auto kaum durch sie hindurchfahren konnte. In die uns am nächsten gelegene Gasse war der Messerschwinger gelaufen. Tom nahm die Verfolgung auf. Ich wußte nicht, was ich machen sollte. Eli hatte sehr viel Blut verloren, und ich konnte sie unmöglich hier alleine liegen lassen. Aus ihrem Mundwinkel lief ein roter Faden auf die Straße. Ich hoffte verbissen, daß man sie geschlagen hatte, und es sich nicht um Blut aus ihrer Lunge handelte. So saß ich auf der Straße, hielt Elis Hand und hatte Angst. Angst um Tom, Angst um Eli und Angst, daß ich einen Fehler machte, wenn ich nicht hinter Tom hinterherlief, um ihn zurückzuholen. Die Verbrecher waren doch wirklich egal, Hauptsache Eli wurde gerettet. Wir haben später noch oft davon gesprochen, warum er hinterhergelaufen war, und je mehr dieser Tag in die Vergangenheit rückte, um so unsicherer wurde Tom, was seine eigentlichen Gründe gewesen waren. Bereut hat er es schon nach kürzester Zeit. Ich hatte noch nicht lange Zeit gewartet, als ich Schüsse hörte, und bevor ich auch nur eine Chance hatte mich zu entscheiden doch in die Gasse zu laufen, um Tom zu helfen, kam er schon wieder heraus. Die Pistole hielt er noch in der Hand. Ohne ein Wort zu sagen kniete auch er sich neben Eli, und begann sofort beruhigend auf sie einzureden. Auf meine leise Anfrage, was geschehen sei reagierte er nicht, wahrscheinlich stand er völlig unter Schock. Da Eli nun nicht mehr allein war, konnte ich endlich Hilfe holen. *** Sie starb um 14 Uhr 34 im Krankenhaus. Der Junge, der übrigens völlig unter Drogen gestanden hat, hatte mehrere Male auf sie eingestochen. Der Blutverlust, zusammen mit den inneren Verletzungen waren zuviel gewesen. Die Ärzte konnten nichts mehr tun. Ich weiß nicht, ob ich sie hätte retten können, wenn ich nicht so unentschlossen neben ihr sitzen geblieben wäre. Der Arzt, der sie operiert hat, versicherte mir zwar ich hätte richtig gehandelt, und diese geringe Zeitersparnis hätte sie auch nicht gerettet, aber ich bin mir nicht so sicher, ob er mir nicht vielleicht nur mein Gewissen beruhigen wollte. *** Tom hatte den Junkie erschossen. *** Die nächste Zeit war, wie sie sich sicher denken können, nicht gerade einfach. Es gab Untersuchungen von der Polizei, und Tom mußte sogar in der Anfangszeit eine Nacht in einer Zelle verbringen. Aber der Untersuchungsrichter berücksichtigte zum Glück die Situation, in der Tom sich befand und ließ Ihn während der Untersuchungen zu Hause wohnen. Tante Iselda gab Tom die Schuld am Tod seiner Frau. Wir sahen sie zum Glück nicht oft in dieser Zeit. Ich weiß nicht was geschehen wäre, wenn sie die Möglichkeit gehabt hätte, diese Anschuldigungen Tom Angesicht zu Angesicht an den Kopf zu werfen. Sie machte es über das Telefon. Meist rief sie mit der Ausrede an zu erfahren, wie es Mary ginge. Aber wenn Tom das Pech hatte ans Telefon zu gehen, wurde er von ihr auf das Gemeinste beschimpft. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht und über das geredet, was vorgefallen war. Das Bild haben wir eine ganze Zeit gar nicht mehr beachtet, zu sehr waren wir mit der gegenwärtigen Situation beschäftigt. Aber einige Wochen nach Elis Beerdigung, Tom war gerade von einem Gerichtstermin zurück, lenkte ich das Gespräch auf das Bild. Nach kurzer Diskussion beschlossen wir es zu vernichten. Eine Diskussion konnte man es eigentlich gar nicht nennen. Auf meine Fragen hin, was damit geschehen solle, sahen wir uns nur kurz an und wußten beide, was der andere dachte. Nachdem wir es dann auch ausgesprochen hatten, ging Tom eine Axt holen und wir wandten unsere Schritte in Richtung der Kellertreppe. Der Arbeitsraum war seit unserer überstürzten Abfahrt nicht mehr betreten worden. Uns war beiden nicht wohl bei dem Gedanken das Bild auch nur anzusehen, geschweige denn anfassen zu müssen. Ich sah Tom an, daß es ihm genauso erging wie mir, auch wenn er es nicht zugeben wollte. Auch ich tat viel mutiger als ich war. Es war ein ziemlich kindisches Verhalten, was wir da an den Tag legten. Als erwachsener Mann muß man seine Gefühle besser unter Kontrolle haben. Aber wir hatten beide, ausgehend von diesem Bild, schreckliche Dinge erlebt und hatten sie so kurze Zeit später noch nicht genug verarbeitet, um völlig rational vorzugehen. Eine beträchtliche Staubschicht bedeckte inzwischen den Boden und die Gerätschaften in dem Raum. Sie unterstrich noch unsere dunklen Gedanken. Trotz allem betraten wir den Raum, aber nicht bevor Tom nicht alle Lichter angeschaltete hatte, die von der Tür aus zu bedienen waren. Nicht wenige, denn es sollte hier unten eine möglichst tageslichtähnliche Beleuchtung herrschen. Wir betraten den Raum. Tom hatte die Axt erhoben, als bestände die Gefahr angegriffen zu werden, und ging auf die Stafette zu, in der immer noch das Bild ruhte. Mich überkam eine gewisse Neugier. Obwohl man seine Zukunft nicht wissen sollte, und die Nachrichten des Bildes bisher nie positiv gewesen waren, hätte ich gern noch einen letzten Blick darauf geworfen. Im nachhinein betrachtet, eigentlich eine seltsame Anwandlung, nachdem wir es wochenlang vermieden hatten auch nur darüber zu sprechen. Vor den ersten Verhören bei der Polizei hatten wir das Abkommen getroffen mit niemandem über dieses seltsame Kunstwerk zu reden, es hätte uns sowieso niemand geglaubt. Das war auch der Grund, warum sich die Untersuchungen so lange hingezogen hatten. Unsere Aussage war nicht sehr glaubhaft gewesen. Wir haben uns darauf geeinigt einen Anruf bekommen zu haben, der Eli betraf. Wir mußten sie daraufhin sofort aufsuchen, um mit ihr die Neuigkeit persönlich zu besprechen. Nach langer Überlegung hatten wir uns auch endlich geeinigt, worum es in dieser Nachricht gehen sollte. Sie war mehr oder weniger an den Haaren herbeigezogen und betraf die familiären Hintergründe der Familie Meadows. Es würde zu weit führen sie hier genauer zu erläutern. Tante Iselda unterstützte uns, wie sich sehr schnell herausstellte, obwohl sie uns nicht glaubte. Sie hatte den panischen Anruf von Tom selbst erhalten, und unsere Geschichte rechtfertigte ihn in keinster Weise. Aber in ihrer Aussage spielte sie ihn herunter. Ob sie es aus familiärem Pflichtbewußtsein tat, oder weil sie glaubte Eli hätte es so gewollt, weiß ich nicht. Das einzige wirklich Problem, das eventuell hätte entstehen können, war die Autofahrt. Tom hatte wahrscheinlich alle Verkehrsregeln gebrochen, die es gab, aber wie durch ein Wunder war die Polizei nicht darauf aufmerksam geworden. Wir waren nicht geblitzt oder sonst irgendwie angezeigt worden. Die Fahrt schien für die Polizei einfach nicht stattgefunden zu haben. Toms Anwalt, der auf Notwehr plädiert hatte, versicherte uns, daß die Gefahr einer Verurteilung praktisch gleich Null wäre. Also konnten wir das Bild vernichten, bevor es noch mehr Unheil anrichten konnte. Tom hatte die Palette umrundet. Auch er wollte es nicht zerstören ohne einen Blick darauf geworfen zu haben. Dann spielte sich eine Szene ab, die ich noch immer viel zu gut in Erinnerung habe: Tom starrte für einige Augenblicke wie ein Geisteskranker auf das Bild, bevor er sich umdrehte und wie vom Teufel gehetzt die Treppe hochrannte. Er sagte kein Wort, noch hat er irgendein anderes Geräusch von sich gegeben - doch in seinen Augen war panische Angst zu sehen. *** Damit ist meine Geschichte eigentlich schon beendet. Ich vergleiche diesen Abend immer wieder mit dem Tag, an dem uns der Tod von Eli vorausgesagt wurde, und frage mich, ob ich ihn oder seine Folgen in irgendeiner Weise zu verschulden habe. Das ist auch der Grund warum ich die ganze Geschichte aufgeschrieben habe, ich wollte mir die Zusammenhänge noch einmal völlig klar machen. Außerdem mußte ich es einmal erzählen. Bisher kennt niemand die waren Hintergründe dieser Tage. Wir haben aus gegebenem Anlaß das Bild an diesem Abend nicht mehr zerstört, das tat ich erst sehr viel später. *** Diese Sekunden waren wohl die schrecklichsten meines Lebens, als ich mit zitternden verschwitzten Händen um die Stafette herumging, um mir anzusehen, was Tom so in Panik versetzt hatte. Aber selbst diese Schritte waren nichts im Vergleich zu den Empfindungen die ich verspürte, als ich auf die bemalte Holzplatte sah, denn das Bild zeigte meinen damals besten und einzigen Freund Tom auf dem elektrischen Stuhl.  

(copr 1997 by A. Melhorn)

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.10.1999. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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