Julia Atzmanstorfer

Ein Herz für Löwen

Der Zoodirektor faltete die abgearbeiteten Hände beinahe in einer Geste der Demut und blickte sorgenvoll aus moosgrün verhangenen Augen in die Runde seiner Mitarbeiter, die schon wußten, was jetzt kam, kommen mußte. Er seufzte tief und blickte betrübt zu Boden. Dann sah er auf und schaute mich hilflos an.
„Es ist schon wieder zu wenig Geld da für das Futter der Zoobewohner“ sagte er traurig, „und dabei haben wir erst den zwanzigsten.“ Ich mochte den alten Mann, der die Tiere im Zoo Zoobewohner nannte, und ihn traurig zu sehen, versetzte mir jedes Mal einen krampfigen Stich in der Magengegend. Er, der so viel für die artgerechte Haltung der Tiere geleistet hatte, und mit dem Zoo einen naturnahen Lebensraum geschaffen hatte, mußte nun miterleben, wie man ihm vom Bund und von den Ländern die Mittel für das Futter kürzte und sie von Jahr zu Jahr so verringerte, daß bald nichts mehr übrigbleiben würde. Er war in den letzten Monaten von Instanz zu Instanz gelaufen, hatte gebettelt, alles versucht. Es hatte nichts genützt: wenn es so weitergehen würde, würden die Tiere wohl verkauft werden müssen an einen großen Zoo, der ihnen ein paar Quadratmeter kümmerlichen Lebensraum gewähren würde, der diese Bezeichnung nicht verdiente. Meine Faust ballte sich unwillkürlich. Als die Konferenz aus war, ging ich meinen letzten Kontrollgang für heute.

Ich kam bei den Löwen vorbei. Der Zoo hatte bereits geschlossen, und ich konnte den scharfen Geruch der Raubtiere riechen. Er war fast physisch anwesend und hing wie ein wilder Geist in der schon grauen Luft. Sam und Arlene räkelten sich träge auf den noch warmen Steinplatten. Als sie mich roch, stand Arlene langsam auf und dehnte sich. Sie kam in meine Richtung und blieb hoheitsvoll einen Meter vor den Gitterstäben stehen. Aus schrägen Katzenaugen blinzelte sie mich wie spöttisch an und ein Zittern flog über ihre schmale Flanke. Die Löwin gähnte und zeigte mir ihr mächtiges Gebiß. Sam, aufmerksam geworden, setzte sich auf und trottete zu seiner Gefährtin. Die beiden fixierten mich und ich konnte mich nicht abwenden. Die riesenhaften Tiere saßen wie Sphinxen und nur ihre gelben Augen schimmerten durch die Dämmerung, in der sich ihr beißender Geruch festhielt. Ein Stern blitzte plötzlich durch die zerfetzten Wolken, die schwarz über den Himmel rasten und in der Ferne grollte Donner. Ein paar Schweißtropfen hatten sich auf meiner Oberlippe gebildet und ich schmeckte ihren salzigen Geschmack. Arlene wandte sich ab und ging ohne Geräusch zu einer Gruppe niedriger Büsche. Sie holte mit der Tatze einen schwarzen Klumpen hervor, eine mächtige Rinderkeule, die schon halb abgenagt war. Ein heißer Windstoß fuhr mir von hinten ins Haar, als sie sich niederließ und mit ängstlichen und demütigen Seitenblicken auf Sam das eingetrocknete Fleisch mit ihren riesigen Zähnen vom Knochen riß. Der Löwe hechelte nur und schlug mit dem Schwanz nach ein paar lästigen Fliegen. Die Blätter der riesigen Platane knisterten metallisch und ein paar Fledermäuse stürzten durch die aufgeladene Luft. Ich erschrak, als mich etwas von hinten an der Schulter berührte und wirbelte herum. Der Zoodirektor hob beschwichtigend die Hände. „Entschuldigung, ich wollte sie nicht erschrecken“
„Sie sind wunderschön“, murmelte ich. Er nickte und der Wind durchfuhr sein weißes dichtes Haar. „Das sind sie“, sagte er mit seiner leisen, melodischen Stimme. „Sie sind vielleicht Gottes gelungenste Kreaturen, wild und unberechenbar. Der Inbegriff von Freiheit. Eigentlich eine Sünde, sie einzusperren.“ Ich nickte. Sam kam auf die Beine und wanderte unruhig durch das Gehege. Ein paar Tropfen netzten mein Gesicht, das ich dankbar in die Luft hielt. An meinem Rücken klebte das T-Shirt. Im Osten zuckten erste Blitze violett.
Der Zoodirektor blickte mich an. Sein Gesicht war sehr schmal geworden in den letzten Wochen, die Wangenknochen warfen Schatten auf seine wie gegerbte Haut, die unter ihrer Bräune etwas krankes, blasses hatte. Er schaute erschöpft aus. Seine moosigen Augen lagen in tiefen Höhlen und schimmerten mit einem Mal feucht. „Wir müssen Sam und Arlene verkaufen“ sagte er und schaute weg. Ich schloß die Augen. „Nein...“
Er nickte bloß und ein Geräusch wie rauhes Aufschluchzen mischte sich mit lautem Donner. „Wenn nicht bald etwas passiert, müssen wir sie verkaufen“ wiederholte er und wischte sich heftig über die Augen. Er wandte sich abrupt ab. Ich schaute ihm zu, wie er gebeugt zu den Stallungen mit den Zwergziegen ging. Die Löwen trollten sich in den kleinen Wald, den der Zoodirektor für sie angelegt hatte, sie wollten nicht mehr länger gestört werden. Ich drehte mich um und ging zu meinem Landcruiser.

Auf der neun Kilometer langen Fahrt nach Hause ging mir der gequälte Gesichtsausdruck des Zoodirektors nicht aus dem Kopf. Mein Herz krampfte sich zusammen beim Gedanken, daß er Sam und Arlene wirklich würde verkaufen müssen. Die Löwen. Sein ein und alles. Die schwarze Landschaft wurde jetzt fast pausenlos von weißen Blitzen erhellt und der Wind, der durch die beiden geöffneten Wagenfenster ins Auto wehte, kühlte mein Gesicht allmählich. Ich kam in die kleine Stadt, in der ich wohnte und parkte vor einer kleinen Bar um noch eine Kleinigkeit zu essen. Es regnete noch immer nicht und das Gewitter blieb im Nachbarort. Ich stieß die Tür auf und sofort umhüllten mich lautes Lachen, Bierdunst und Rauch. Mir war der Appetit irgendwie vergangen und ich stellte mich an die Bar, wo ich Bier bestellte und der Vernunft wegen einen Toast. Arlenes gelbe Augen glänzten wie ein Nachbild durch mein Denken und ich beendete rasch und lustlos meine Mahlzeit. Ich bezahlte und fuhr nach Hause. Dort fiel ich nach einer Dusche wie ein Stein ins Bett.

Anderntags wachte ich zerschlagen auf. Ich hatte geträumt und der Traum hing noch in meinem Bewußtsein fest. Während der Kaffee in der Küche brodelte, putzte ich mir die Zähne und sah meinen routinierten Bewegungen im Spiegel zu. Mein Haar hing strähnig um mein Gesicht, das richtig mager geworden war in den letzten Tagen. Ich schloß die Augen und sah Arlene und Sam über die weiten Steppen Afrikas laufen, über ihnen ein feuerroter Himmel, auf dem in Zeitraffer-Geschwindigkeit hohe Wolken jagten. Eine spinnwebenfeine Falte hatte sich auf meiner Stirn gebildet, als ich die Augen wieder öffnete. Ich gurgelte und spie das Wasser ins Waschbecken. Draußen gleißte die Sonne vom reingewaschenen Himmel. Ich war schon spät dran und fuhr in den Zoo.
Dort angekommen, fiel mir die Hektik auf, die heute herrschte. Tom kam mir aufgeregt entgegen. „Verdammt,“ knurrte er hastig: „sie haben drei Zwergziegen gestohlen, wer immer das auch war!“ „Ja“, pflichtete Susanne, die Kleintierwärterin bei. „Und stell’ dir vor, der Täter muß einen Schlüssel besessen haben. Es fehlen jegliche Spuren von Gewaltanwendung. Sie sind nur einfach spurlos verschwunden.“ Sie hasteten weiter ohne mich noch zu beachten. Mit seltsamen Gefühlen ging ich zum Löwenkäfig, wo das Pärchen in der Sonne lag. Sam blickte kurz auf und putzte sich maliziös seine Pranken. Ich winkte dem Zoodirektor, der mir zunickte.
Am dreißigsten berief der Zoodirektor eine außerordentliche Konferenz ein. Er war gespenstisch blaß, abgemagert, verfallen. Mit tonloser Stimme teilte er uns den unausweichlich scheinenden Verkauf von Sam und Arlene mit. Am Abend würde ein Mitarbeiter eines Zirkus kommen, um die beiden zu begutachten. Die Löwen waren noch relativ jung. Immerhin könnte man sie mitführen und herzeigen. „Mein Gott, es geht einfach nicht mehr anders.. Sie brauchen so viel, ich weiß keinen anderen Ausweg mehr“. Verzweifelt ballte er die Fäuste, in seinem Gesicht zuckte es. „Es müßte schon ein Wunder passieren“, sagte er, und mir brach schier das Herz entzwei.

Wie betäubt fuhr ich nach Hause. Setzte mich vor den Fernseher, schaltete ihn wieder aus, ging zum Fenster, schaute auf die Straße. Die Sonne versank grell blutend im Westen und zerfloß in den Schäfchenwolken zu einem afrikanischen Traum. Ich schaltete den Fernseher wieder ein und sein Geblubbere legte sich murmelnd auf meine Gedanken. Sam und Arlene in einer kleinen Box mitführen, sie gaffenden Leuten als wilde Bestien präsentieren. Ein Verbrechen. Der afrikanische Himmel, unter dem sie in meinem Traum gefegt waren über das kurze harte Steppengras, und die Silhouetten der Affenbrotbäume. Sam und Arlene. Eine Träne löste sich schwer hinter meinen geschlossenen Lidern und rann meine Wange hinunter, salzig und naß.

Ich mußte eingenickt sein, denn als ich aufwachte, war es beinahe Mitternacht. Im Fernsehen Krieg. Ich schaltete ihn aus und ging zum Fenster. Es hatte zugezogen und die schwüle Luft schien stillzustehen. Unten ging ein lachendes Pärchen vorbei. Mit einem Mal war ich hellwach. Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht, nahm kurz entschlossen die Autoschlüssel und schlüpfte in meine Turnschuhe. Den großen Schlüsselbund vom Zoo, den ich als Wärterin besaß, nahm ich auch mit. Ich ließ den Motor an und fuhr los.
Das Gelände lag ruhig und dunkel da. Ich ging durch die Allee vorbei am Wildgehege und an den Kleintierstallungen, kam beim Schlangenhaus vorbei und an der Vogelabteilung. Es war still. Plötzlich begannen die Affen fürchterlich zu kreischen. Ich änderte meine Richtung und lenkte meine Schritte in Richtung Affenhaus. Im Kühlhaus, das gleich angebaut war, brannte Licht. Ich stutzte und blieb im Schatten einer Platane stehen. Jetzt trat eine Gestalt in den Lichtkegel, eine großgewachsene schlanke Männergestalt, die einen länglichen, schlaffen, mannsgroßen Gegenstand über den Boden ins Kühlhaus schleifte. Eiskalter Schweiß rann meine Wirbelsäule hinab. Ich hielt die Luft an. Die Affen hatten sich beruhigt und außer dem nervösen Zirpen der Grillen wurde es wieder still. Die schwarze Wolkenbank war einem bläulichen Vollmond gewichen Mit einem Mal begriff ich alles. Die Zwergziegen waren erst der Anfang gewesen. Ich rannte hinüber zu den Löwen, die im silbrigen Licht leise knurrend um das beste Stück stritten, wobei Arlene mit eingekniffenem Schwanz klein beigeben mußte.

Sams Mähne war feucht von einer schwarz aussehenden Flüssigkeit und der wilde, beißende Geruch wich einem sauberen Duft von Gras und feuchter Erde, als sich die Hand des Zoodirektors bedächtig auf meine Schulter legte. In seiner linken blitze es silbern auf und um sein abgearbeitetes Gesicht spielte ein bedauerndes Lächeln. „Ich bin eigentlich müde, viel zu müde für das hier“, sagte er seufzend. Und dann sanft: „Aber sie haben solchen Hunger. Und wir alle müssen unsere Opfer bringen.“
Er drückte meine Schulter ein wenig, fast zweifelnd, doch dann nahmen seine Augen einen unerbittlichen Ausdruck an und als das Messer auf mich niederschlug, war das letze was ich wahrnahm, der rote Himmel über der endlosen afrikanischen Steppe meiner Träume und die gelben Katzenaugen der hungrigen Arlene...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.03.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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