Elisabeth Haubold

Der Tote

Die Whiskyflasche in der Hand wanderte ich langsam über den dunklen Friedhof.Der Mond war hinter einer Wolke verschwunden und ich fühlte mich, als ob ich in einer ewigen Finsternis, aus der es kein Entrinnen gibt, umherlaufen und verzweifelt einen Ausgang suchen würde.
Dabei war nur der Lichteinfall schwächer geworden.
Ich schaute auf die Flasche in meiner Hand. Sie war nur noch halb voll. Ich hatte sie aufgemacht als ich den Friedhof betreten hatte, um mir Mut anzutrinken. Aber der war auf einmal verschwunden. Im Dunkeln stieß ich an einen der Grabsteine.
Eine Sekunde später hatte sich der Mond wieder hinter der Wolke hervorgeschlichen und ließ sein helles Licht erneut auf den dunklen, verlassenen Friedhof scheinen. Doch anstatt mich besser zu fühlen, hatte ich das Gefühl, dass sie von allen Seiten nach mir greifen würden. Die Schatten der alten Bäume, die Grabsteine und die Seelen der Toten, die hier ihre ewige Ruhe finden sollten.
Ich ging weiter. Meinem Schicksal entgegen.
Rechts von mir erspähte ich einen winzigen Grabstein. Als ich näher trat, konnte ich die Inschrift lesen:
 
                                Maria Schubert
                                geb.: 1997
                                gest.: 2004
 
Was war wohl mit ihr passiert? Warum war sie als 7-jähriges Kind gestorben?
Ich nahm noch einen Schluck Whisky.
Ohne weiter über Maria Schubert nachzudenken, setzte ich meinen Weg fort. Ich kam wieder auf den Hauptweg, der, rechts und links von uralten Eichen begleitet, sich unbeirrbar seinen Weg durch den toten Ort suchte. Die Bäume lachten mich aus als ich dem Weg für fünfzig Meter folgte. Ich konnte nichts dagegen tun. Also setzte ich wieder die Flasche an.
Auf einmal sah ich den neuen, vielverzierten Grabstein vor mir.
Viel zu schnell hatte ich mein Ziel erreicht.
Bevor ich das Grab erreicht hatte, wurde mir die Flasche in meiner Hand zum ersten Mal richtig bewusst. Ich blieb stehen und schaute mich um. Ein Stück weiter zurück konnte ich die schemenhaften Umrisse eines Mülleimers erkennen. Ich ließ die Flasche hineingleiten und trat dann auf das Grab zu.
 
                                Alfred Baum
                                geb.: 1953
                                gest.: 7. Juni 2004
 Das war vor zwei Wochen gewesen. Lange starrte ich auf das Grab, auf dem irgendwelche Verwandten liebevoll Lilien und Stiefmütterchen gepflanzt hatten. Das helle Licht des Mondes ließ mich sogar die Farben erkennen. Weiße Lilien und rot-gelbe Stiefmütterchen. Ordentlich in drei Reihen gesetzt, immer abwechselnd. Eine Lilie, ein Stiefmütterchen. Eine Lilie, ein Stiefmütterchen.
Plötzlich wurde mir alles schlagartig klar. Alfred Baum war mein Schicksal gewesen. Und ich seines. Und das der kleinen Maria war es gewesen mit 7 Jahren zu sterben.
Man konnte ihm nicht ausweichen. Was kommen sollte, kam.
Ich blieb noch einen Moment stehen und starrte auf den Schriftzug in dem kalten, grauen Stein. Dann drehte ich mich herum und beeilte mich zum Ausgang zu kommen. Die Bäume waren mir egal. Sollten sie doch lachen.
Ich kletterte über das Tor auf die Straße und drehte mich noch einmal um. Auf dem Schild stand genau wie vorhin:
            „Hauptfriedhof West – Betreten außerhalb der Öffnung verboten!“
Ich schaute auf die Uhr. Wenn ich mich beeilte konnte ich die letzte U-Bahn noch kriegen.
Ich hatte Glück und war zehn Minuten später an der Haltestelle Hauptwache. Entschlossen stieg ich aus und ging direkt zur Polizeiwache „Hauptwache“, die sich eine Straße weiter befand. Ich zögerte keinen Moment als ich davor stand und ging sofort hinein.
Der diensthabende Polizist schaute mich fragend an.
„Guten Abend.“, sagte er.
„Guten Abend.“, sagte ich. „Ich möchte ein Geständnis ablegen. Für den Mord an Alfred Baum.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.04.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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