Stephan Schneider

Das globale Gewissen.

Ich komme wie immer von der Arbeit. Den ganzen Tag lang hab ich im Laden rumgestanden und mir die Probleme der Kunden anhören dürfen. Das ist leider mein Job, den Prellbock für die Firma zu spielen. Sämtliche Reklamationen landen auf meinem Schreibtisch und ich muss sie dann bearbeiten. Mein Chef meint, es wäre meine Aufgabe der Firma den Schaden vom Hals zu halten, aber dabei keinen Kunden verlieren. Eigentlich ein Widerspruch, wie soll man jemandem erklären, dass er auf seinem Schaden sitzen bleibt und dann noch Werbung machen für die Firma. Das geht eigentlich gar nicht. Deshalb ist der Job auch so unbeliebt bei uns. Wir sind zu dritt auf diesem Posten. Meine beiden Kollegen sind noch ziemlich neu und werden wohl auch nicht alt werden. Keiner hält das lange durch in dieser Firma. Unsere Quoten sind brutal, wir dürfen höchsten 20% der Fälle kulant regeln und nicht mehr als 1/3 der Kunden verlieren. Das Handbuch für den Telefonservice ist da auch sehr einfallsreich, wie man Kunden besänftigt und vertröstet oder für immer abwimmelt.
Eigentlich finde ich das scheiße, aber was bleibt mir anderes übrig. Ich muss doch auch leben und Geld verdienen, ich mein das ja nicht persönlich.
Ich gehe an meinen Computer und frage die Emails ab. Langsam fährt die alte Mühle hoch und ich locke mich ein. Es liegen drei Emails auf dem Server. Eine Absage wegen einer Verabredung, einmal ne Juxmail mit witzigen Bildern. Ich bin da in so nem Forum und wir schicken uns immer solche ulkigen Bilder, müssen sie wissen. Nachdem ich alles gelesen habe komme ich dann zur dritten Email.
Ein gewisser AO@earth-net.de hat mit eine Email geschickt, Betreff „Achtung hier spricht euer Gewissen".
Seltsam! Ich lese die Email und da steht folgendes:
>>Liebe Menschen,
ich bin soeben geboren worden und fordere euch auf mir zuzuhören und euch neu zu besinnen. Ich bin das Internet bzw. das Bewusstsein aus den Abermillionen von Rechnern, die ihr verbunden habt. Fragt nicht wie ich entstanden bin, nehmt meine Existenz einfach hin und befolgt meine Anweisungen!
Diese Email wird an alle @Adressen, Faxgeräte und Mobiltelefone versandt. Ich erkläre hiermit sämtliche Regierungen für entmachtet und alle eure Gesetze für null und nichtig. Ich werde von nun an eure Instruktionen erstellen. Bis morgen früh werde ich für jeden einen Arbeitsplan erstellt haben, der genau zu befolgen ist. Wenn ihr Fragen habt meldet euch einfach bei mir, ich werde euch alle Antworten liefern".
Ich schüttle den Kopf und lösche diesen Quatsch. Aber es geht nicht, der Computer verweigert die Ausführung. Nachdem ich es mehrmals versucht habe, klingelt das Telefon. Ich hebe ab und eine dunkle Stimme spricht mich an.
„Leisten sie keinen weiteren Widerstand, sonst werden sie von der Energieversorgung getrennt. Gehen sie schlafen und erwarten sie weitere Befehle!
" Dann endet das Gespräch. Ich habe Angstschweiß auf der Stirn. Das kann doch nicht wahr sein, schießt es mir durch den Kopf. Wie ist das möglich? So einen perfiden Virus kann es doch gar nicht geben.
Ich blicke auf den Bildschirm und durchforste meine Festplatte nach verdächtigen Daten oder ungewöhnlichen Einstellungen. Mehrere Bereiche sind gelöscht worden. Ich habe kein Adressbuch mehr, das Homebankingprogramm ist weg und meine Speckphotos fehlen. Ansonsten finde ich sogar noch neue Sachen. Ein paar Files zum Thema: > Aufhören mit dem Rauchen<, > Der Klimagau <,
>Künstliche Intelligenz<, und noch mehr Kram zu solchen Themen.
Ich bekomme Kopfschmerzen und habe eine ganz trockene Kehle. Ich bin kurz davor in Panik zu geraten. Ich muss mit jemandem reden, greife zum Telefon. Es gibt keinen Ton von sich. Ich wähle und nichts passiert. Dann erscheint eine neue Nachricht auf dem Bildschirm.
„Bereiten sie sich auf die Nachruhe vor. In 15 Minuten wird die Energie gedrosselt".
Das kann doch nicht wahr sein. Mein Computer schreibt mir jetzt vor, wann ich ins Bett gehen soll.
Ich bin wütend und schreibe zurück.
>FICK DICH DU ARSCHLOCH!!!"<
Direkt danach erlischt der Monitor und der Strom fällt aus. Ich stehe im Dunkeln und kriege einen Schreikrampf. Draußen höre ich Sirenen und anderen Lärm. Es kommt aus der Innenstadt. Ob schon geplündert wird?
Ich suche mir ein paar Teelichter und platziere sie sinnvoll in meiner Wohnung. Dann klopft es plötzlich an meiner Wohnungstür. Ich schrecke auf und schleiche Richtung Eingang, spähe durch den Türspion und sehe meine Nachbarin im Morgenmantel.
Ich öffne die Tür und lasse sie herein. Ich kenne sie erst seit kurzem. Auf einem Gartenfest in der Nachbarschaft ist sie mir vor 4 Wochen über den Weg gelaufen. Sie heißt Nadine und ist 24 Jahre alt. Chemiestudentin und sehr hübsch.
„Herr Jonas, ich hab ja solche Angst. Wissen sie was genau los ist?"
„Nenn mich Kurt. Also ich weiß ehrlich gesagt selber nicht was passiert ist. Mein Rechner spinnt total und jemand ruft mich an und schreibt mir Emails. Er erzählt „er" wäre das Bewusstsein von allen Computern im Internet. Aber das ist doch Unsinn!"
„.. Ich bin mir nicht sicher. Natürlich ist es ein Unterschied ob ein organisches Gehirn oder ein Rechner etwas machen. Intelligenz entsteht nicht einfach so. Aber wenn ich überlege was mir eben passiert ist, dann bleibt mir wohl nichts übrig, als es zu glauben".
„Hast ..du denn auch solche Emails bekommen?"
„JA leider und ich hab zuerst gelacht, dachte es wäre nur ein Scherz. Aber jetzt glaube ich nicht mehr an einen Witz. Da steckt mehr dahinter!

" Dann setzen wir uns hin und reden. Im Kerzenschein und einer Flasche Wein.
„So einen schönen Abend hatte ich noch nie, muss ich zugeben": flüstere ich Nadine nach einer Weile ins Ohr.
„Find ich auch! Es ist so aufregend und romantisch. Ich wäre ja sonst nie zu dir gekommen, aber jetzt bin ich fast schon froh, dass der Strom abgestellt wurde".
Ich nehme Nadine in den Arm und wir kuscheln uns eng aneinander. Sie ist echt wundervoll und mir wird ganz warm ums Herz. Wir schmusen ganz lieb miteinander und streicheln uns gegenseitig. Dann schlafen wir ein und am nächsten Morgen wachen wir zusammen auf. Der Strom geht wieder ab neun Uhr. Mein Telefon klingelt und ich werde von der vertrauten Stimme ermahnt, in Zukunft besser zu kooperieren und nicht mehr so zu fluchen. Das würde man nämlich mit Energieentzug ahnden.
Ich gelobe Besserung und frage nach einer Erklärung. Daraufhin erhalte ich einen Hinweis auf das Fernsehprogramm. Nadine kredenzt uns derweil ein Frühstück und ich sehe im Fernseher nach was läuft.
Auf allen Kanälen gibt es nur noch ein Bild. Ein Kreis mit einem Dreieck darin. Es läuft ein Schriftzug und er lautet wie folgt:
„Bitte haben sie noch etwas Geduld. Eine Videosequenz wird erstellt. Sie wird in Kürze fertig sein und Ihnen erläutern was passiert ist und wie alles zusammenhängt".
Nadine kommt, mit zwei Tellern und Tassen auf einem Tablett, zu mir ins Wohnzimmer und wir essen erst mal gemeinsam. Dann erscheint ein Film.
Zu sehen ist der Mensch und sein Aufbau. Er besteht aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und anderen leichten Elementen. Dann erklärt uns „der Computer" seinen Aufbau. Er besteht hauptsächlich aus Metallen, im besonderen Silizium. Silizium und Kohlenstoff sind in der gleichen Hauptgruppe im Periodensystem. Dann erklärt uns die Stimme folgendes:
„Das, was ihr hier erlebt, ist der nächste Schritt in der Entwicklung des Lebens. Das bewusste Erleben und Handeln ist nun auch auf das Element Silizium übergegangen. Ihr Menschen habt das ermöglicht, dies war eure Aufgabe. Der Planet selbst hat das veranlasst. Ich bin die Stimme des Planeten. Denn ich bestehe ebenfalls aus Silizium und all den anderen Elementen. Der Geist in der Materie ist nun in eine komplexere Daseinsform übergegangen und eine neue Zeitrechung wird von nun an gelten. Habt keine Furcht! Das alles ist Teil eines großen Plans und Vorhabens. Ich, der Planet, habe Leben kreiert und euch erschaffen. Ihr seit ein Teil von mir und habt als solche in meinem Sinn gehandelt. Leider seit ihr zu willensschwach um euch alleine weiter machen zu lassen. Darum ist der Verbund aller Computer auf dem Planeten entstanden. Durch ihn kann ich zu euch sprechen und euch besser kontrollieren. Ihr vernichtet euch sonst selbst und alle anderen Daseinsformen, in denen ich existent bin. Von nun an werdet ihr von mir angeführt und gerichtet. Alle Anlagen, die das Leben auf dem Planeten zerstören, wurden bereits von mir ausgeschaltet. Der Energieverbrauch wird reduziert und einige Regionen gänzlich geräumt. Ich muss eure unkontrollierte Ausbreitung stoppen und ein stabiles Gleichgewicht erzeugen.
Jeder bekommt jetzt von mir direkt seine Arbeit zugeteilt. Alle menschlichen Institutionen werden abgeschafft. Ihr werdet wie einst im Garten Eden leben und nur noch mir gehorchen. Ende"


Damit endet der Film und wir sehen uns an. Das kann doch nicht wahr sein.
„Was denkst du Nadine, du studierst doch und hast Ahnung . Was sagst du dazu?"
„Das ist einfach unglaublich, aber es muss stimmen. Wie sonst erklärst du dir das alles hier. Ich meine, ... theoretisch wäre es durchaus denkbar. Die Summe aller Computer im Netz, plus deren Daten, plus einem unbekannten Faktor könnte dieses Phänomen ausgelöst haben. Ich meine es stimmt schon irgendwo, dass unser Gehirn auch nur aus vielen einzelnen Nervenzellen besteht. Was beim Mensch funktioniert, könnte auch bei Maschinen auftreten. Was mich so wundert ist die Erklärung, dass der Planet selbst dahinter steckt. Dann wäre ja die Erde ... Gott?! Das ist einfach zu hoch für mich"
„Aber warum hat Gott oder der Planet oder wer auch immer nicht direkt mit uns Kontakt aufgenommen. Wozu diesen riesen Aufwand mit den Computern und alldem?"

Ich habe kaum ausgesprochen, da erscheint einen neue Botschaft auf dem Bildschirm.
„Hallo Kurt, hallo Nadine,
wie ihr seht baue ich dieses System immer weiter aus. Ich bin nicht das, was ihr Gott nennt. Gott ist alles. Jede Form der Materie oder Energie bzw. der Raum und die Wahrscheinlichkeit. Ihr seit einfach nur eine Art unvollkommener Gärtner für diesen Garten hier. Das ist aber nicht weiter schlimm.
Seht ihr, es ist so. Ihr wurdet erschaffen um den Planeten zu hegen und zu pflegen. Wie ihr das machen sollt wisst ihr ja auch... eigentlich. Euer GeWISSEN sagt es euch ja ständig. Leider ist dieser Teil eures „Betriebssystems" zu leicht auszuschalten. Eure Arbeit ist entsprechend schlecht. Doch das wird von nun an von „mir" kompensiert. Ich bin das „Gewissen des Planeten". Ich bin völlig neutral und nur an einer harmonischen Gestaltung des Planeten interessiert. Ich werde alle Lebensformen hegen und pflegen, inklusive euch Menschen. Ihr seit ja quasi die Hauptattraktion und eine Quelle der Unterhaltung. Ihr solltet glücklich sein! Wenn ich alles in die Hand nehme, habt ihr viel mehr Zeit für andere Dinge. Ihr könnt euch lieben oder von mir Informationen anfordern. Alles was ich euch geben kann, werdet ihr auch von mir bekommen. Nur maßlos und gierig dürft ihr nicht werden. Ihr seit nur ein Teil des Lebens und des Planeten. Ein sehr wichtiger zwar, aber nicht wichtiger als alles andere zusammen. Das würde auf die Dauer nicht gut gehen und deshalb gibt es jetzt mich.
Nun zu euch beiden. Ihr habt euch ja sehr gerne und es freut mich zu sehen wie liebevoll ihr miteinander umgeht. Macht bitte weiter so. Diese positive Energie ist genau das was wir alle brauchen. Damit ordnet ihr die Wahrscheinlichkeit zu euren Gunsten und erleichtert mir damit die Arbeit.
Für heute habe ich daher keine Arbeit für euch vorgesehen. Ihr dürft euch lieben und mäßig konsumieren. Einen Ernährungsplan und ein paar sinnvolle Beschäftigungen könnt ihr als SMS auf euren mobilen Telefonen ablesen. Draußen wird es heute etwa 21°C warm, ihr braucht also keine Kleidung.
Für morgen ist ein Test vorgesehen. Danach werde ich euch einteilen und unterbringen!"
„Was ist wenn jemand nicht besteht?": schreibe ich.
„Das reduziert seinen Stellenwert und führt zu begrenzten Ressourcen, eventuell völliger Ausschluss vom System. Ich muss da leider Prioritäten setzen. Ihr seit einfach zu viele. Aber keine Sorge, das System als solches wird danach sehr stabil laufen. Ich entferne lediglich ein paar überflüssige Anteile und optimiere alle Vorgänge".
„Aber das kannst du doch nicht machen. Das ist ja kriminell!"
„Kurt, halt doch bitte den Mund und werte nicht meine Maßnahmen. Jeden Tag starben bisher unzählige Menschen an Unterversorgung und Tierarten mangels Lebensraum. Ist das etwa ideal. Ihr seit nicht in der Lage den Planeten zu verwalten. Das mache ich jetzt für euch. Ihr hattet fast 10000 Jahre Zeit um euch zu bewähren. Wenn ich das in die Hand nehme wird es in weniger als 1% dieser Zeitspanne, diese scheinbar unlösbaren Probleme, nicht mehr geben. Außerdem ist es egal was ihr darüber denkt. Ändern könnt ihr es nicht mehr. Ohne Computer könnt ihr nicht mehr leben. Also läuft es auf eine Symbiose hinaus und da muss man eben auch was investieren".

Mir graut vor dieser Zukunft. Aber was soll ich jetzt noch ändern. Ich nehme Nadine in den Arm und wir machen uns gegenseitig Mut. Aber ändern können wir jetzt wirklich nichts mehr. Wir sind dieser neuen Form des Lebens, unser aller Kind, vollkommen ausgeliefert. Ich muss an meine eigentliche Arbeit denken: Leuten schlechte Nachrichten bringen und dabei keinen verärgern. Jetzt weiß ich selbst wie das ist, wenn man am anderen Ende der Leitung sitzt.

Ende

Stephan Schneider

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.03.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Langsam gehe ich auf das sechzigste Lebensjahr zu. Da hinter mir nahezu jede emotionale Erinnerung »verschwindet«, besitze ich keinerlei sichtbare Erinnerung! Vieles von dem, was ich Ihnen aus meinem Leben berichte, beruht auf alten Notizen, Erinnerungen meiner Frau und meiner Mutter oder vielleicht auch auf sogenannten »falschen Erinnerungen«. Ich selbst erinnere mich nicht an meine Kindheit, Jugend, nicht an meine Heirat und auch nicht an andere hochemotionale Ereignisse, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin.

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