Marika R.

Nachruf

Es war ein heißer Tag mitten im Sommer letzten Jahres. Von der Arbeit geschafft, schlenderte ich zufrieden mit meinem Einkauf genüsslicher Lebensmittel zum Bahnhof. Ich blinzelte der Abendsonne entgegen, dachte über die Möglichkeiten nach, meine Lebensmittel zu Hause gekonnt in eine warme Mahlzeit zu verwandeln, denn der Hunger machte sich allmählich breit. Meine Hände strichen vorsichtig über meine kleine Schwangerschaftskugel. Es war ein so schönes Gefühl zu wissen, dass mein Baby immer bei mir war. Wenn ich über den Bauch strich, wusste ich, dass es meine Berührungen spürte und ich erwartete schon voller Vorfreude das Ankommen meiner kleinen Maus auf dieser Welt. Bis dahin waren es jedoch noch fast vier Monate! In diesen Momenten war es still im Bauch, mein Baby schien ruhig vor sich hin zu dösen und ich genoss das Warten auf den Zug. Um die Abendstunden war ich eine Person von Vielen, die hier auf ihre Bahn warteten und in manchen Gesichtern spiegelte sich ihre Abgeschlagenheit vom Tag wieder. Es tat gut, einfach nur auf dieser Bank zu sitzen...die Wärme der Sonne zu spüren und die Leute zu beobachten. Manche von ihnen traten von einem Fuß auf den Anderen, voller Ungeduld und Hektik; sie hatten es eilig. Andere wiederum vergruben sich verträumt oder mit hoher Konzentration in ihren Büchern und Zeitschriften. Einige kauten an etwas Essbarem herum, was sie auf dem Weg durch die Stadt ergattert hatten, andere zogen einfach an ihrer Zigarette und man merkte ihnen die aufkommende Entspannung an. Dann gab es noch die Leute, die sich etwas zu erzählen hatten, lautstark lachten und ihre Mitmenschen im Umkreis von einigen Metern gleich mit unterhielten. Viele saßen wie ich auf einer Bank und beobachten still das Treiben am Gleis. Am Bahnsteig gegenüber versammelten sich ebenfalls viele Menschen in großen Trauben; jung – alt; groß – klein; dick und dünn. Um diese Zeit war es wie ein riesiger Menschenwirbel, der über das Bahnhofsgelände hinweg fegte. Alles war wie jeden Abend – viele Fremde fanden sich zusammen, jeder hatte sein eigenes Reiseziel und doch war alles irgendwie vertraut.

 

 

Doch dann gab es plötzlich DICH!

 

 

Ich hörte die Stimme durch den Lautsprecher sagen, dass unser Zug einfahren wird – Vorsicht am Gleis; eben die bekannten Worte, die bei jeder Ein- oder Durchfahrt den Bahnhof überschallten. Man vernahm kaum noch den Sinn der Worte, es war zur Gewohnheit geworden und man lauschte nur noch dieser harmonischen Stimme. Langsam wendete ich meinen Blick dem einfahrendem Zug entgegen; die Sonne spiegelte sich auf den glänzenden Schienen und ich strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Doch plötzlich zitterten meine Hände, mein Körper reagierte schneller auf das Wahrgenommene meiner Augen, als es mein Kopf überhaupt verarbeiten konnte! DU! – Dein Gang schien federleicht zu sein; deine Schritte glichen einem Spaziergang, ruhig und unbeschwert – in heller Jeans und einem feinen dunklen Hemd. Deine Haare brünett, dein Gesicht schmal und anmutig; alles so vollkommen. Vielleicht warst du 28 oder schon 30?! Vielleicht auch etwas älter, aber du warst jung, schlank mit sportlicher Figur und nur einige Meter vor mir. Ich sah dein Profil in meiner Augenhöhe! Ich konnte es nicht fassen! Ich sprang auf, mein Blick riss sich los, ich starrte von den Schienen auf diesen dunkelbraun verfärbten Kies dazwischen, meine Pupillen zuckten blitzschnell hin und her, um dem Verstand die Chance zu geben, das zu kapieren, was sich vor meinen Augen abspielen wird. Ich zählte die Schienen ... eins ... zwei ...gegenüber wieder eine Schiene ... die zweite Schiene .... verdammt! Du gehst zwischen der ersten und der zweiten Schiene; die Schienen, die genau unseren Zug hier einfahren lassen! Verdammt – was soll das?! Das darf alles nicht wahr sein! In einem Bruchteil von wenigen Momenten lief alles so vorhersehbar ab; es war klar, dass alles jetzt GENAU SO kommen wird! Tränen schossen mir in die Augen, mein Mund war wie zugeschnürt, obwohl ich schreien wollte; dass du da raus springen musst! Du musst da weg!! Ich hörte laute Männerstimmen von überall her! ‚Was machst du da?! Raus – Weg!!’ Unruhe am Gleis, neben mir die Frau verschwand, viele Leute flüchteten, schauten weg. Ich fühlte mich wie gelähmt, mein Blick klebte an dir, ich war so hilflos – so machtlos! Ich glotzte auf diesen Zug, es ertönte wildes Hupen! Töne, die ich noch nie hörte! Bisher kannte ich keine Hupe eines so gewaltig einrollenden Zuges! Quietschendes Zischen dröhnte auf den Schienen. Ich blickte abwechselnd auf dich – auf den Zug; kein Chance mehr, keine Zeit mehr! Keiner konnte dir helfen, jeder hätte sich selbst in Gefahr gebracht, denn du warst klug genug, den richtigen Zeitpunkt für deinen letzten Spaziergang zu wählen und du wusstest, dass die Bahn an diesem Punkt noch viel zu schnell war, um zu bremsen! Meine Einkäufe fielen zu Boden. Ein dumpfer Knall; dein Kopf! Oh man, dein Kopf! – Blut, blitzschnell verfärbten sich deine hellen Sachen blutrot! Dein Körper knallte zurück, der Zug fraß dich förmlich auf, verschlang dich...zerrte dich mit – an mir vorbei!

Alles verlief so schnell, wie ein Film, der an mir vorüber zieht – unaufhaltsam, gedreht – ohne ein Mitspracherecht!

Meine Beine trugen mich einige Meter fort, ich knallte zu Boden, ich zitterte! Mein Bauch wurde so hart, alles schmerzte! Ich schrie, wie dumm du bist! Welch dummer Mensch! Warum bist du nur so verdammt dumm, warum hast du aufgegeben?! Ich weinte, ich weinte um dich – aus Schmerz, Wut, Schock! Plötzlich begriff ich, dass ich zu Boden gefallen war! Mein BABY!!! Helft mir – mein Baby!! Alles tat so weh im Bauch, keine Bewegung zu spüren! Dieses Zittern schüttelte mich gnadenlos durch! Ich wollte mich erheben, doch meine Beine waren weich! Wo ist meine Kraft um aufzustehen?! Mein Blick war voller Wasser; ich spürte eine Hand! Endlich – bitte hilf mir! Ich klammerte mich an diese Frau, wurde gestützt von ihrem Mann! Beide trugen mich in diese Gaststätte gleich neben dem Bahnhof! Ich schaute mich um; der Zug war parallel einige Meter hinter mir zum Stehen gekommen! Alles Menschenleer!! Sie setzten mich auf diese rote Bank, das Fenster neben mir. Ich sah den Zug! Du warst da drunter. Ich sah die Notärzte, die Polizei! So schnell wie sie da waren, unglaublich?! Sie bauten Barrieren mit weißen Tüchern um dich dummen zerfetzten Menschen auf, Schaulustige versammelten sich.

 

Sie gaben mir Wasser, ich hörte sie reden. Meine Hände schlotterten hin und her; das Glas war leer...alles schwappte auf meinen runden Bauch. Ich konnte nicht denken, ich war geistlos! Ein Sanitäter stand plötzlich vor mir! ‚Sie sind schwanger, schnell kommen sie mit! Was tut ihnen weh?! In welchem Monat sind sie?! Wo ist ihr Mutterpass?!’ Meine Antworten kamen wie auswendig gelernt und völlig selbstständig aus meinem Mund, doch mein Blick war leer. ‚Wir brauchen hier Hilfe! Eine Schwangere unter Schock!’ ...hörte ich ihn verzweifelt rufen! Ich sollte zu dem Notarztwagen, der bei dir dummen Menschen stand! Nein! – Niemals würde ich in deine Richtung laufen! Ich weigerte mich, meine Kraft kam zurück! Ich schaute auf meinen Bauch und begriff, dass ich jetzt nur funktionieren muss, um mein Kleines zu schützen! Ich atmete tief ein, folgte den Anweisungen des Arztes! Ich wollte mit aller Gewalt ruhig werden! Alles war jetzt unwichtig, es zählte nur noch, den Schock zu überwinden – stark zu sein!

 

 

Viele Leute versammelten sich, kein Zug fuhr mehr, der Lautsprecher gab Verspätungen durch. Viele um mich herum stöhnten auf, waren von deinem Spaziergang vor den Zug genervt; schimpften, dass sie jetzt zu spät ankommen würden. Ist es nicht erbärmlich, dass den meisten Leuten unserer Gesellschaft dein verlorenes Menschenleben völlig egal war?! Die Ärzte krabbelten wie Ameisen am Zug entlang, krochen förmlich unter das Ungetüm von schwerem Eisen – krochen dir entgegen! Meine Augen nahmen alles auf, ich konnte nicht fühlen, nicht denken...alles zog wie ein dunkler Nebel an mir vorbei. Der Arzt unterbrach plötzlich meine innere Ruhe: ‚Hat ihn jemand gedrängt, auf die Schienen gestoßen? War es ein Unfall?’ ‚Ist er tot?’ .....hörte ich mich fragen! Welch dumme Frage, aber ich wollte es hören! Ich wollte vernehmen, dass du dummer Mensch tot bist! ‚Ja, ist er - Mausetod!’ ‚Es war sein Wille; er lief dem Zug entgegen!’ Er meinte - von dem Geschehenen fast schon gelangweilt -, dass die Ursachen dann eindeutig und keine Nachforschungen nötig wären! Ein Suizidfall eben! Ich wollte nach Hause – so schnell wie möglich hier weg, raus aus dieser kalten Stadt, weg...nur schnell weg!! Ich wollte mit meiner Haustür diesen Tag hinter mir zuknallen!

 

 

Zu Hause angekommen. Die Sonne stand rot-orange am Himmel, die Nachbarn hielten bei einer Zigarette ein lustiges Schwätzchen; meine Vermieterin stand in ihrem Vorgarten und begrüßte mich freundlich! Alles war ruhig, die Vögel zwitscherten ihr Abendlied. Vom Fußballplatz her hörte ich Pfiffe und Rufe; das Training war wie gewohnt an diesem Abend im Gange. Es war etwas geschehen, DU hast dir dein Leben genommen, doch alles andere war wie immer – unschuldig, schön und lebendig. Niemand hier wusste von deinem letzten Spaziergang, Niemand fragte nach dir. Alles lief weiter, so als wäre NICHTS geschehen!

 

 

Drei Nächte lang ließ ich meine Nachttischlampe brennen; drei Nächte lang fand ich keinen Schlaf. Schreckte auf, wenn mein Körper doch voller Erschöpfung in dieser quälenden Ruhe versank! Ich schreckte auf, weil mich deine Todesfratze verfolgte, weil ich deine federleichten Schritte immer wieder vor mir sah, weil das Geräusch deines Sterbens tief in meinen Ohren verankert war! Drei Nächte und Tage lang fragte ich mich, ob ich Mitleid mit dir oder Wut auf dich haben sollte?! Und weißt du, für was ich mich entschied?! Für die WUT!

 

 

Du hast ein Held des Todes sein wollen?! Du wolltest die letzte große Aufmerksamkeit?! Du hast die Bühne selbst gewählt, eine Bühne mit verdammt vielen Zuschauern! Du hast gewusst, dass es keinen Vorhang gibt, den man schnell zuzieht, wenn das Stück aus den Fugen gerät! Doch deine Zuschauer hatten keine Wahl! Ob jung, ob alt – Niemand konnte selbst und frei wählen, ob er deiner Bühnenkunst folgen will! Du hast uns alle zu deinen Zuschauern gemacht, hast uns in deinen letzten großen Auftritt gestoßen, uns gezwungen, dich anzuschauen, uns gezwungen, diesen ewig nachklingenden dumpfen Aufprall zu vernehmen! Du hast uns ein Stück vorgeführt, was sich wie die Pest ins Innere frisst und sich für Viele von uns - auf ewig - wie eine Krankheit eingefleischt hat! Du hast Kindern und Jugendlichen den Mut genommen, hast ihnen die Frage nach dem Sinn des Lebens tief auf die Stirn geritzt! Du hättest beinahe ein noch ungeborenes Leben zerstört, eh es überhaupt die Chance hatte, das Licht der Welt zu erblicken! Du hast Menschen zu deinen Bühnensklaven gemacht, die dich von den Schienen abkratzen mussten – hast ihre Gefühle und Seelen mit deiner Aufführung verschwärzt! Du hast uns alle mit deinem Blut befleckt!

Du hast dir deine Freiheit genommen, hast deinem Schmerz eine Ende bereitet, glaubtest wohl, alles wäre damit auf heldenhafte Weise erledigt! Du hast bewiesen, wie feige und egoistisch ein Mensch sein kann! – Jeder von uns hat schon einmal ans Aufgeben gedacht, Viele stehen am Abgrund und leider entscheiden sich Viele für ihren Freitod! Stolz können die Menschen sein, die nicht aufgeben und immer weiterkämpfen, im Kampf mit sich und dem Schmerz siegen! Und wenn sich Menschen für ihr Aus entscheiden, dann wählen die Meisten den Weg für sich allein! Sie pressen nicht zig Personen in ihren letzten Akt, die nichts mit  ihrem schmerzvollen Dasein zutun haben! Doch du warst feige, von dieser Welt zu gehen! Zu feige, um es allein zu ertragen und allein deinem Leben ein Ende zu machen, du hast den Zugführer für deine Feigheit missbraucht!

 

 

Und soll ich dir sagen, welche Interesse und Aufmerksamkeit deine Aktion mit sich brachte?!

Keine!

Du warst der Tageszeitung am nächsten Morgen nur zwei Zeilen wert; ein Hinweis auf Personenschaden und ein Bedauern, dass es zu Verspätungen der Deutschen Bahn kam!

Mehr nicht.

Niemand fragte nach deinem Namen.
Niemand fragte nach deinem Schicksal.
Niemanden interessierte deine Geschichte.

Dein Blut wurde weggewaschen; der Regen umspülte die letzten Reste deines Seins...ließ sie unbeachtet im stinkenden, dreckigen Boden zwischen den Gleisen versickern. Fetzen, die von den Ärzten und ihren Helfern übersehen wurden, werden sich die schwarzen, verfressenen Ratten des Bahnhofs geholt haben. Du hast nicht nur deine Seele verloren, du hast nicht mal mehr deinen Körper behalten, dein Gesicht zerschmetterte in tausend Splitter! Nichts blieb von dir; gar nichts! Dein Grab ist gefüllt mit Überresten - zerquetscht, zersplittert, durchtrennt, kaputt! Du bist nicht mal mehr in deinem eigenen Grabe ein Mensch geblieben!

 

War es das, was du wolltest?!

 

Und ich sage dir, Nichts auf dieser Welt hat sich verändert – DU hast nichts bewirkt! Alles dreht sich weiter, alles nimmt seinen Lauf durch die Gezeiten und auch die Züge rollten schon wenige Stunden nach deinem letzten Gang unaufhörlich durch die Bahnhöfe und da, wo dein Blut klebte, steigen Menschen ein und aus; lassen sich durch ihr schönes Leben transportieren.

 

Ich habe schon Viele vom Suizid reden hören und vieles mehr erlebt........aber SIE blieben hier und kämpfen; ziehen sich selbst aus dem Tal heraus – beweisen wahre Stärke und zu bewundernden Mut!! Wenn du jetzt vor meinem inneren Auge auftauchst, sehe ich einen Menschen vor mir, den ich verachte und dem ich lieber den Strick gereicht hätte, anstatt - wie viele andere Leute - deinem verantwortungslosen Spaziergang zu folgen!

 

 

Verschwinde aus meinen Träumen und lass dich nie wieder blicken!

Ich verachte dich zutiefst und sage noch heute: Du warst dumm!

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Marika R.).
Der Beitrag wurde von Marika R. auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.04.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Marika R. als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Abzittern von Herbert Genzmer



Ghostwriter trifft Wunderheiler; In einem rasanten Roman im Roadmovie-Stil geht es um Sexsucht, Internetchats, Gesundheitskult

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Lebensgeschichten & Schicksale" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Marika R.

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

für ein paar Pfund im Monat... von Rüdiger Nazar (Lebensgeschichten & Schicksale)
Ich liebe diese Frau von Özcan Demirtas (Liebesgeschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen