Heidrun Gemähling
Schmunzeleien aus Lehninka
Julchen lebte mit ihrem Vater, einem fleißigen Waldarbeiter, in einer
Blockhütte, tief im Wald. Die Mutter war bei ihrer Geburt gestorben.
Julchen war fleißig, versorgte das kleine Haus, hatte sogar gelernt,
für Vater zu kochen, aber am liebsten verbrachte sie ihre Zeit mit
Lesen und Schreiben. Vater hatte es sie früh gelehrt.
Eines Tages brachte Vater einen Hund nach Hause. Zur Begrüßung sprang
das Tier wild und schwanzwedelnd durch das Zimmer. Dann blieb es vor
Julchen stehen, sah ihr tief in die Augen, hob die rechte Pfote und
betörte sie mit einem liebevollen „Hundelächeln“. Das Mädchen setzte
sich in die Hocke und streichelte dem fremden Tier liebevoll über Kopf
und Rücken. Eine innige Liebe nahm ihren Anfang.
„Vater, was ist das für ein Hund und wem gehört der?“, fragte Julchen aufgeregt.
„Der scheint niemandem zu gehören. Zumindest scheint ihn keiner zu
vermissen, denn er streunt schon mehrere Tage bei uns im Wald herum.
Die Waldarbeiter füttern ihn schon mit ihren mitgebrachten
Butterbroten!“, sagte der Vater mit ruhigem Ton.
„Lass ihn bei mir bleiben!“, bettelte Julchen und drückte sich an den
Vater, der seine Arbeitsjacke gerade auszog und an den Türhaken hängen
wollte. Sein Blick fiel mitleidsvoll auf seine kleine Tochter, die ihn
flehend ansah und brennend auf sein „Ja“ wartete.
„Na gut!“, kam es von seinen Lippen. So, als hätte er alles verstanden,
sprang der Hund beiden abwechselnd an den Beinen empor und bellte vor
Freude. Julchen sah sich das Tier nun zum ersten Mal genauer an. Es
hatte schwarzes Fell. Vom rechten Vorderbein, über den Rücken, bis zur
Schwanzspitze, zog sich ein weißer Streifen, wie ein Pinselstrich. Auf
der runden Schnauze prangte ein weißer Punkt. Am lustigsten aber fand
Julchen, dass das rechte Ohr steil nach oben stand, während das linke
schlapp nach unten hing. „Luga“, wie das Mädchen den Familienzuwachs
getauft hatte, wurde Julchens bester Freund. Bald war es, als verstünde
das Tier jedes Wort.
Julchen hatte noch nie andere Kinder gesehen, wusste nicht, wie es war,
mit ihnen zu spielen, zu scherzen, zu toben. Und doch sehnte sie sich
danach.
Eines Nachts, als ihr die Gedanken daran wieder einmal keine Ruhe
ließen, hatte Julchen eine Idee. Gedichte – lustige Verse! Wie oft
hatte sie in dem abgegriffenen Büchlein ihres Vaters gelesen, das fast
nur Gedichte enthielt. Julchen konnte kaum den Morgen abwarten. Als es
endlich hell wurde, schrieb Julchen Reime auf. Lustige Verse über Luga,
ihren Vater, über die Tiere im Wald, über sich selbst. Einen kleinen
Zettel für jeden Vers beschrieb das Mädchen. Es drehte sich eine bunte
Kordel, band sie um „Lugas“ Hals und weihte ihn in seinen Plan ein.
Luga kullerte begeistert mit den Augen. Julchen steckte den ersten
Zettel hinter die Kordel, gab dem Hund einen kleinen Klaps und schon
sauste er davon.
Es dauerte eine Weile, bis Luga den Waldrand erreichte. Dort
angekommen, nahm er einen sandigen Feldweg, der an einem plätschernden
Bach entlang direkt zum Dorfteich führte. Luga hörte Kinderstimmen und
rannte immer schneller, konnte es kaum noch erwarten, seinen Auftrag
auszuführen. Als er die Kinder erreicht hatte, schnüffelte er sofort an
ihnen herum, um sich den Geruch zu merken. Die Kinder waren ängstlich,
doch da entdeckte eines von ihnen den gerollten Zettel am Halsband des
Hundes. Neugierig beugte es sich zu ihm hinunter. Luga setzte sich ganz
brav, hob seine rechte Pfote und neigte den Kopf leicht zur Seite,
damit das Mädchen den Zettel herausziehen konnte. Die Kleine schaute
auf die Zeilen, wusste aber nichts damit anzufangen, denn sie konnte
noch gar nicht lesen. Sie reichte den Zettel einem der größeren
Mädchen, das sogleich zu schmunzeln anfing. Luga wusste, er hatte seine
Aufgabe erfüllt. Er schnüffelte noch einmal an den Beinen der Kinder
und sauste dann wie ein Wirbelwind nach Hause.
Julchen wartete schon recht ungeduldig an der Hüttentür und lief ihm
entgegen, als sie ihn sah. Ja, der Zettel mit dem „Schmunzelvers“ war
nicht mehr da, und dem Hundegesicht nach hatte alles bestens geklappt.
Tag für Tag brachte der treue Hund nun auf diese Weise immer neue Verse
zu den Kindern des Dorfes.
Es sprach sich schnell herum, dass ein putziger Hund im Dorf nach
Kindern suchte, die noch keinen Zettel bekommen hatten. So vergingen
Tage und Wochen.
Eines Tages stand der Bürgermeister, der von dem merkwürdigen Tier
gehört hatte, mit einer riesigen Kinderschar am Waldesrand, um den
Hundeboten zu empfangen. Er konnte solche eigenartigen Geschichten
einfach nicht glauben. Der eifrige Luga näherte sich vorsichtig, denn
so eine Meute war ihm in seinem ganzen Hundeleben noch nicht begegnet.
Brav setzte er sich vor den Bürgermeister und ließ sich, wie immer, den Zettel abnehmen.
Der Bürgermeister las die Zeilen und schmunzelte, hob Luga begeistert
in die Lüfte und trug ihn in Begleitung der Kindermeute ins Dorf
„Lehninka“ zurück. Mit Jubelrufen wurden sie von den übrigen
Dorfbewohnern schon vor dem Rathaus in Empfang genommen. Reporter der
„Lehninka Zeitung“ machten sich eifrig Notizen, schossen Fotos. Endlich
konnten sie über eine Sensation berichten! „Hund verteilt täglich neue
Schmunzelverse!“
Ein wirklich besonderes Ereignis. Der Bürgermeister, der auf der
obersten Stufe des Rathauseinganges stand, rief mit kräftiger Stimme:
„Ihr Bürger von Lehninka, hört mir alle zu, heute ist ein ganz
besonderer Tag, denn wir haben den Hund in unserer Mitte, der uns allen
mit den lustigen Versen viel Freude brachte!“
Gedränge und Geschubse entstand. Hunde und Katzen des Dorfes kamen
bellend und miauend angesaust, wollten dabei sein, bei diesem
Spektakel. Der Bürgermeister forderte alle Anwesenden auf, ihm ins
Rathaus zu folgen. Zuvor hatte er nämlich alle Zettel, die noch
auffindbar waren, bei den Kindern einsammeln und an einer langen Stange
in der Eingangshalle aufhängen lassen. An bunten Schleifen, in
unterschiedlicher Länge, hingen sie herab. Welch ein Anblick! Am späten
Nachmittag wurde Luga zum „Ehrenhund“ ernannt und lag nun
schwanzwedelnd auf den Rathausstufen, sich seines Ruhmes in keiner
Weise bewusst. Der Bürgermeister machte eine schöne rote Leine an
seinem Halsband fest. Da bellte Luga, als wollte er sagen: „Komm mit!“
und lief schnurstracks nach Hause.
Groß und Klein folgte ihm. Vom Lachen und Rufen und von Lugas Bellen
aufgeschreckt, traten Julchen und ihr Vater neugierig vor die Hütte,
als sich die Menge näherte.
Zum ersten Mal in ihrem Leben sah Julchen andere Kinder. Alle
Dorfkinder und fast alle Erwachsenen standen vor ihnen und alle Hunde
und Katzen der Umgebung. Von den Bäumen sangen die Waldvögel ihre
Lieder und gaben dieser Begegnung eine besondere Note. Julchen kniff
sich in die Wange, um zu spüren, dass sie nicht träumte. Der
Bürgermeister stellte sich vor und fragte nach ihren Namen. Noch nie
zuvor waren ihm diese beiden Menschen begegnet. Er beugte sich zu
Julchen hinunter und fragte: „Hast du die vielen Schmunzelverse
geschrieben und sie durch den Hund ins Dorf bringen lassen?“ „Ja,
Herr“, lächelte sie verschämt. Der Bürgermeister strich ihr über den
Kopf und rief voller Begeisterung: „Ich ernenne dich auf der Stelle zum
Ehrenkind unseres Dorfes!“
Die „Lehninka Zeitung“ brachte einen Exklusivbericht. So wurde das
verschlafenen Dorf weit und breit bekannt. Julchens Sehnsüchte waren
nun in Erfüllung gegangen. Sie lebte seitdem mit den anderen Kindern
zusammen und ging noch viele Jahre mit dem Ehrenhund Luga zur Schule,
der während der Schulzeit unter der Bank liegen durfte.
Julchen wurde erwachsen, lernte das Leben kennen, bereiste andere
Länder und machte ihre eigenen Erfahrungen mit Land und Leuten. Sie
schrieb weiterhin lustige Gedichte und Geschichten für Groß und Klein,
die sie ihrem Heimatdorf Lehninka widmete. Besucher, die das alte
kleine Dorf finden, können noch heute die alten „Schmunzelverse“ an der
langen Stange und den bunten Bändern im Eingangsbereich des Rathauses
hängen sehen. Jeder kann die Verse nachlesen, die einst einem
Kinderherz entsprungen waren und die der treue Hund Luga in Umlauf
gebracht hatte.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.04.2005.
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