Patricia Becker

Verurteilt

Dunkelheit, tiefste Finsternis, überall. Wohin auch immer sie blickte, nichts als Schwärze bot sich ihren Augen, kein Anhaltspunkt, nichts, an das sie jegliche Hoffnung hätte binden können. Möglich, dass sie erblindet war ohne es zu bemerken - ohne es jemals zu bemerken? Es war eine ernüchternde, nein, beängstigende Vorstellung. Doch nicht zum ersten Mal im Verlauf der vergangenen Zeit - waren es Stunden, Tage oder bereits Wochen, Monate? Woran konnte sich ihr Zeitgefühl noch orientieren? - nicht zum ersten Mal in dieser langen, niemals enden wollenden Nacht, denn genau das war es für sie, fragte sie sich, warum der Gedanke nicht die anfangs allgegenwärtige, so natürliche Panik in ihrem Innern auslöste. Lag es an der Gewöhnung? Sie erinnerte sich an jenes Gefühl, gleich einem seit langer Zeit vergangenen Traum, die alles erfüllende Angst, die verzweifelte, ohnmächtige Wut, all die kalten, verworrenen Empfindungen, welche von ihr Besitz ergriffen hatten, sobald man sie hierher gebracht hatte, an diesen einsamen, trostlosen Ort. Gefühle, die sie sich zuvor nicht einmal hatte vorstellen können. Die einsamen Tage und Nächte, innerhalb derer sie mehr und bitterere Tränen vergossen als zu besitzen sie jemals vermutet hätte! Die kurzen, von törichter Hoffnung erfüllten Augenblicke, da das Knarren einer schweren Tür ihr Herz hatte höher schlagen lassen. Hatte sie damals tatsächlich erwartet, jemals wieder freizukommen? Dann die Ernüchterung, ein ums andere Mal, als wieder nur ein mürrischer, oft brutaler, äußerst selten nur ein mitleidiger Wächter eingetreten war und ihr die einzige Mahlzeit nach einer schier unendlichen Zeitspanne zugeschoben hatte, hartes Brot und Wasser. Und immer, immer wieder die gleiche, aufdringliche Frage: Was habe ich getan?
Ja, sie erinnerte sich an all das, doch nachzuempfinden vermochte sie es nicht mehr. Die Finsternis ängstigte sie nicht mehr, der Gedanke an die Zukunft noch weitaus weniger, wusste sie doch nur zu genau, was früher oder später mit ihr geschehen würde. Die karge Mahlzeit, nach der sie anfangs so sehr gegiert, konnte ihr Interesse, ihre Aufmerksamkeit nicht wieder gewinnen, das gelegentliche Öffnen und Schließen der Tür, die Silhouette des Wächters, seine Worte, das alles ließ sie kalt. Und auch die lange zuvor brennende Frage, warum man ausgerechnet sie aus ihrem schlichten, aber doch so glücklichen Leben hatte reißen müssen, ohne dass sie sich einer Schuld bewusst gewesen wäre, ohne ihren Worten, die sie zur Verteidigung angebracht, auch nur die geringste Beachtung zu schenken, selbst diese Frage, die zu stellen ihr nichts als einen harten Schlag ins Gesicht eingebracht hatte, wünschte sie nicht mehr beantwortet zu wissen. Eine alles umfassende Gleichgültigkeit gegenüber allem nur Denkbarem hatte sich, einer schweren Decke, einem Leichentuch gleich, über ihr ausgebreitet, undurchdringlich und ohne Ende.
Hin und wieder suchte eine einzige, neue Frage ihre leeren Gedanken auf, nicht aufdringlich wie die nach ihrer Schuld es gewesen war, nicht die leiseste Gefühlsregung verursachend und ebenso wenig beständig; die Frage schien in einem Meer finsterster Leere gemächlich vorüberzutreiben: Ob sie es wohl bemerkt hätte, wenn sie gestorben wäre, gestorben, ehe man die eigentliche Strafe, die sie längst nicht mehr als Strafe empfand, an ihr vollzogen hätte? Sie wusste, dass zu einer bestimmten Zeit ihres Lebens, falsch, ihres Daseins - denn ihr Leben hatte in jenem Augenblick geendet, da sie einen Fuß in diese dunkle, kalte Zelle gesetzt hatte - eine solche Gewissheit ihr Befriedigung beschert hätte, beinahe Schadenfreude. Die Antwort auf die neue Frage, welche sie jedoch nicht als die ihre bezeichnen konnte, fand sie nicht, würde sie aller Wahrscheinlichkeit nach niemals finden, doch bemühte sie sich nicht einmal darum. Dennoch wusste sie, dass, auch wenn sie nicht mehr lebte, sie doch nicht tot war. Und gewiss, auch das wusste sie plötzlich ohne Zweifel, würde es niemals so weit kommen, dass sie vor der Hinrichtung starb. Es mochte ihr Schicksal sein. Nun, sie würde es annehmen, wenn auch nicht als Strafe.
Sie hatte eine einigermaßen gemütliche Ecke gefunden, die hinterste, in der sie bereits seit unbestimmter Zeit kauerte, an den harten, feuchten Stein gelehnt. Die Luft war noch immer das, was sie vormals als kalt bezeichnet hätte, ebenso Boden und Wände. Sollte es sie stören? Zumindest wusste sie nicht, warum. Erneut raschelte das inzwischen zum Teil nasse und schmutzige Stroh, mit welchem der Boden ausgelegt war. Die Ratten kehrten zurück zu ihr, wie so oft. Das ihnen eigene Piepsen kündigte sie bereits an. Auch würden diese Tiere sie nicht getötet haben, bevor man sie auf alle Ewigkeit aus dem Kerker führte, mochten sie noch so oft an ihrem Körper nagen. Der entscheidende Augenblick rückte rasch näher, das spürte sie.
Ebenso wie das Öffnen der Tür, zum letzten Mal, wie sie wusste, traf auch das Eintreten der Wächter sie nicht unvorbereitet. Selbst das flackernde, fahle Licht der beiden Fackeln, welche die Männer trugen, blendete ihre Augen. Dennoch blickte sie ihnen unverwandt entgegen. Der Schlüssel knarrte im Schloss der rostigen Gittertür ihrer Zelle. Aufgeschreckt flüchteten die Ratten sich in ihr Versteck. Ohne sich darüber zu wundern, dass sie dazu überhaupt noch imstande war, erhob sie sich und trat einen Schritt auf den Ausgang zu, dann hielt sie den offenkundig verblüfften Männern ihre dürren Handgelenke entgegen.
Der Galgen wartete. Und sie war bereit.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.04.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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