Marc Wiesollek

Marvinismus: In Heiligen Hallen

Ich sitze in einer göttlichen Runde. Rechts neben mir Odin, Loki und Ra, links neben mir Herkules und Hera, die wieder einmal heftig miteinander streiten. Irgendetwas über Alimente und Fremdgehen, oder so.
Bei einem Humpen Met sitzen wir an einem runden, gemütlichen Tisch beieinander.
Ra hebt den Humpen und spricht einen ägyptischen Tost aus. Da ihn keiner versteht, nicken wir nur, rufen ein gemeinsames "Jawoll" und zischen unser Met durch den trockenen Rachen.
"Wo ist eigentlich Zeus?", fragt Odin die Runde.
"Er hat die Öffnungszeiten von seinem Gyrosgrill erweitert. Der Umsatz ist wohl gesunken", erklärt Odin.
"Na, ob das etwas bringt? Er sollte eher seine Menükarte ändern. Heutzutage will keiner mehr einen Minotaurus-Pita oder Hydraspieß. Ich meine, man beißt ein Stück ab und sofort verdoppelt sich alles wieder."
"Das ist doch das beste Rezept, um den Welthunger zu bekämpfen", werfe ich ein.
Odin schaut mich an und schüttelt seinen gewaltigen Kopf: "Ja und nein. Erstens ist der Export auf die Erde sehr schwierig und zweitens stehen Hydras unter Naturschutz seit", Odin überlegt und winkt ab, "auf jeden Fall seit sehr, sehr langer Zeit."
"Darf es noch etwas sein?", fragt Kronos, der in einer Kellnerschürze wirklich seltsam wirkt.
Ich schaue mir den Titan an und komme ins Stutzen: "Moment mal, nennt mich einen Laien, aber hast du nicht Zeus verschlungen und somit Zeus um seine Herrschaft gebracht?"
Kronos lächelt mich an und antwortet: "Das war nur alles vorgetäuscht. Er wollte aus dem Geschäft aussteigen. Leider wollen die Menschen immer eine dramatische Geschichte. Da dachten wir, das Verschlingen sei eine gute Idee."
"Hhm, stimmt, zwar ein bisschen gewalttätig, aber echt eine klasse Idee."
"Brutalität, Sex und Kriminalität waren auch schon früher in". Gleichzeitig sammelt Kronos die leeren Stumpen ein. "Ich denke, noch einmal Met für alle", und verschwindet hinter der Bar.
Ich schüttele lachend den Kopf und meine erstaunt: "Nicht zu glauben!"
In diesem Moment springt Hera wütend auf und verlässt den Tisch. Herkules ruft noch ein weiteres "Du gehst unseren Konflikten immer aus dem Weg" hinterher und schaut uns mit Tränen in den Augen an. Odin nimmt Herkules väterlich in den Arm.
Plötzlich fängt Herkules fürchterlich an zu weinen und vergräbt seinen Kopf, wie ein kleines Kind, an Odins Brustkorb.
"Ich kann nicht mehr", wimmert Herkules, "immer dieses ständige Kämpfen. Ich möchte doch nur einmal die Straße überqueren, ohne irgendwelche Monster töten zu müssen. Ich hasse dieses Töten. Ich bin doch Pazifist."
Ich klopfe Herkules beruhigend auf den Rücken und flüstere: "Alles wird wieder gut, mein Kleiner. Gib ihr noch etwas Zeit!"
Herkules wischt sich mit seinem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und zieht laut seinen Naseninhalt hoch.
"JgbhjUZhBHhKjnaUhj", sagt Ra und verlässt den Tisch.
"Ich werde den Typen nie verstehen", sagt Loki und schaut genervt Ra hinterher.
"Der will sich auch einfach nicht anpassen. Immer dieses gebrochene Sprechen und seine albernen Gesten, die wie ein Vogel, eine Katze oder sonst ein Tier aussehen. Mensch!"
"Und diese Hera erst. Die ist so nachtragend. Schaut euch mal ihre Robe an - die ist doch total out", lästert Loki vor sich hin.
"Lass meine Stiefmutter zufrieden", schnaubt Herkules mit erneuten Tränen in den Augen.
Doch Loki lässt sich von der Lästerschiene kaum abbringen und philosophiert bösartig über ihren unmodernen Haarschnitt.
Keine Sekunde später führen Herkules und Loki ein heftiges Fachgespräch über die heutige Göttermode.

"Ich mach' mal so." Zeus kommt an unseren Tisch und klopft mit seinen Handknöcheln auf die Tischfläche.
"Na, Odin, was macht das Geschäft?", fragt Zeus seinen Freund Odin, als sich beide herzlich in den Arm nehmen.
"Besser als bei dir, denke ich. Du siehst, die Bude ist voll. Sogar ein paar Aztekengötter sind gekommen."
Ich bin wieder verdutzt: "Moment, wie - dein Geschäft?"
Odin schaut mit einem warmen Blick auf mich herab und lacht: "Das ist mein Laden. Mittlerweile der heißeste Schuppen im Götterreich."
Mir fällt die Kinnlade auf den Tisch. Man kann mit gutem Gewissen von einem ?Overload' in meinem Gehirn sprechen.
"Da guckst du, was?" Odin gibt mir einen Schlag auf die Schulter.
"Ja, aber, ich meine, ... wie?"
"Marvin, ganz ruhig. Alles besitzt eine historische Erklärung."
"Da bin ich jetzt gespannt", und lehne mich mit verschränkten Armen zurück.
"Du kennst doch sicherlich meinen Sohn."
"Ja klar, Thor. Der Typ aus den Marvel-Comics."
Odin verdreht die Augen, behält aber seine Fassung: "Irgendwann wird man zu alt zum Regieren und möchte sich niedersetzen. Da gab ich das Regieren an Thor weiter."
Mir kommt die Idee, denn immerhin sitze ich unter Göttern: "Ahh, klar, also besitzt der Hammer Thors deine Macht, die du in diesen Hammer gebannt hast."
Odins Lache schallt dermaßen laut, dass der Boden bebt: "Ihr Menschen, ihr seid so kleingeistig. Muss denn alles mit Magie zu tun haben. Der Hammer ist nur die Lizenz zum Regieren. Mehr nicht."
"Das ist aber ein bisschen enttäuschend."
Hera erscheint an unseren Tisch und Loki, der sich aus seiner Modediskussion entfernt hat, flüstert mir ins Ohr: "Pass auf, jetzt wird es wild."
"Du Hurenbock", schreit Hera Zeus entgegen, "wie konntest Du mir das nur antun?"
"Hera, hast du wieder Dionysos? Wein getrunken? Du weißt doch, was der Arzt gesagt hat, nur ein Glas pro Tag."
"Das ist mir egal."
"JhauhTZbbHFSRhjbewO", unterstützt Ra.
"Und du hältst Dich jetzt mal da raus. Dich versteht eh keiner", schreit Hera nun Ra entgegen.
"UjhRThnbJNÖÄäää", erklingt es beleidigt und Ra geht zur Bar, wo er - Gott sei Dank (Ups, darf ich das hier sagen?) - Tut-Ench-Amun trifft.
"Ich dachte, ich wäre die einzige Frau für dich, aber du hattest ja noch Leto, Eurynome, Maia, Danaë, Leda, Alkmene, Aigina, Europe, Antiope, Io, und Kallisto."
"Hey, da war ich Single und es waren Unfälle und dich gab es noch nicht."
"Und was ist mit Demeter? Es war deine Schwester? Sogar mit ihr hast du ein Kind!"
"Ui, das ist echt ekelig", sage ich und verziehe angewidert mein Gesicht.
Zeus errötet, kann sich aber göttlich retten: "Dafür sind aber alle meine Sprösslinge Helden oder Götter geworden."
Wow, Zeus ist ein Chauvinist - unglaublich!
"Aber Mutter, verzeih ihm. Wir sind doch eine Familie."
"Herkules, du bist nicht mein Sohn. Du warst es nie und wirst es auch nie sein."
Herkules verlässt weinend den Tisch und verschwindet auf dem Götter-WC.
"Nur damit du es endlich weißt, ich habe eine Affäre mit Hades."
Mit diesem - mehr oder weniger - Argument verlässt Hera unsere Runde und schwankt in Richtung Göttinnen-WC.

Die Situation hat sich beruhigt und Kronos bringt endlich die ersehnte Runde Met.
Nach dem Anstoßen denke ich über die ganze Situation nach und mir fällt eine Frage ein, die mir schon den ganzen Abend unter den Fingernägeln brennt. Mal ernsthaft, wann hat man schon die Chance, unter Göttern zu sitzen.
"Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber ihr seid - glaubenstechnisch - nicht mehr im Geschäft. Man redet ja nur noch von diesem einen Gott."
Das ist wohl die falsche Frage, ich Kleingeist, denn bei dem Fallen des Wortes ?Gott' wird die Bar auf einen Schlag ruhig.
"Äh, habe ich etwas Falsches gesagt?"
Odin macht eine Handbewegung, die dem Publikum in der Bar zeigen soll, dass alles in Ordnung sei und wendet sich zu mir, als ein gewisses Stimmengetümmel wieder zum Vorschein kommt.
"Der Name ist nicht allzu beliebt. Seit er an die Macht gekommen ist, sind wir alle arbeitslos geworden. Der Typ ging über Leichen, um an die heutige Macht zu erlangen. Denke nur an Sodom und Gomorrha. Auch er hat mal ganz klein angefangen, aber durch seine Ellbogentaktik hat er sich ganz nach oben gearbeitet. Eigentlich wollte Zeus ja Maria schwängern", ich schaue zu Zeus, doch er zuckt nur mit den Schultern, "aber ?er? war schneller. Wer weiß, wie die Situation dann ausgesehen hätte."
"Das heißt, das Neue Testament sollte theoretisch Zeus zugeteilt werden? Aber was ist mit Moses und dem brennenden Busch, und so weiter?"
Loki (mittlerweile betrunken) unterbricht den Dialog zwischen Odin und mir: "Der iss doch nuaa nen Poser! D..d..der war nuaa nen Busch, wir konntn unß noch in Tiere verwandäähhln. Hicks! Unnttt das miht dissa tiefen Stimme...uh, wir habben Angst, hicks", und Loki zieht seine Schultern hoch und mimt eine ängstliche, menschliche Haltung, "wie hieeeß saaiin angäähblicher Sohn?"
"Jesus", beantworte ich nüchtern.
"Ah... Jääßuß... jenau...!"
"Ist gut Loki", sagt Odin Loki stoppend, "dieser", dabei flüstert Odin vorsichtig, "Gott hat das aber ganz schlau angestellt. Durch Jesus konnte er die Dreifaltigkeit entwickeln, sicherte sich sofort das Patent darauf und im Nu gab es ihn drei Mal."
"So habe ich das Ganze nie betrachtet. Mein Weltbild ist erschüttert, ehrlich." Ich sacke in mir zusammen.
"Rate mal, woher der Atheismus kommt."
"Den habt ihr entwickelt?", frage ich ungläubig.
"Ja klar, wir sind zwar alt, aber in andere Menschengestalten können wir uns immer noch verwandeln. Um ?ihn' zu mobben, verwandelten sich einige Götter in Ludwig Feuerbach, Sigmund Freud, Auguste Comte, Wladimir Iljitsch Lenin, Friedrich Nietzsche, Karl-Heinz Weger oder Karl Marx. Mit unserem Wissen begannen wir, bestimmte Sprüche in die Welt zu rufen, wie ?Religion als Opium des Volkes', und noch vieles mehr. Du kennst sie sicher."
"Aber damit habt ihr euch doch mehr geschadet als ihm, oder?"
"Wer konnte das wissen? Es war ein Versuch wert. Als wir genau das bemerkten, was du eben meintest, fingen wir eben an, aus Langeweile Theorien zu erfinden, die bis heute in der Wissenschaft geheiligt werden. Ob nun in der Psychologie, Wirtschaft, etc. Weißt du, wenn wir schon weg vom Fenster sind, dann wollten wir wenigsten mit diesem der Welt in Erinnerung bleiben."
Kronos erscheint: "So, Chef, ich bin weg. Meine Schicht ist vorüber. Bis morgen. Odysseus zieht sich gerade um."

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.05.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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