Marc Wiesollek

Marvinismus: Entspannung mit Kuh-Pfau-Zeh

Mein Arzt rät mir, ich solle mich entspannen, wenn mir das Leben lieb sei. Mein Blutdruck sei für mein Alter zu hoch und in meinem Alter seien die zwei Zahlen auf dem technischen Blutdruckmessgerät eindeutig zu hoch.
"Entspannen Sie sich heute den Tag, das rate ich Ihnen als ihr Arzt", sagt er zu mir und innerlich vervollständige ich seinen Satz mit "des Vertrauens."
Warum auch nicht. Heute ist Freitag und ich habe heute frei. Wieso den Tag nicht einfach auf dem Sofa relaxen, an nichts denken und die Gesundheit ein wenig streicheln.
Gedacht, gesagt, getan.
Einfach einmal die Stunden vergehen lassen. Ein gutes Buch, sanfte Musik im Hintergrund.
Das könnte fast aus einer Werbung stammen. Aber ich gönne mir heute genau diesen Slogan.
Mit einem Buch, was mir empfohlen wurde, sitze ich auf meiner Couch. Recke mich auf dieser. Strecke meinen Arm zu meiner frischen Tasse Tee aus und versuche mich in eine entspannte Stimmung zu bringen.
Nichts zu tun, einen Tee, ein empfohlenes Buch, ruhige Musik. Alles geregelt für eine entspannte Stimmung.
Ich klappe mein Buch auf - Seite 1. Ich schlürfe an meinem Tee und merke, dass ich gar keinen Tee mag. So gehe ich in die Küche und setze Kaffe auf. Aber Kaffee lässt den Blutdruck steigen und fördert meine verschriebene Entspannung nicht.
Ich verzweifle. Tee soll angeblich Geist und Körper beruhigen, zur Entspannung beifügen.
Wo sind eigentlich meine Baldriantabletten? Ich durchsuche vergeblich meine Wohnung nach den Tabletten, finde aber nur Aspirin.
Was soll's. Einfach schlucken und auf den Placeboeffekt hoffen.
Erneut Seite 1. Ich lese und beschreite Seite 2.
Jetzt wird mir die Musik zu ruhig. Ein bisschen Pepp darf es schon sein. Ich stehe auf und suche in meinem Musiklager nach dementsprechenden Musikstimmungsfindern. Na, da ist doch etwas... nicht zu ruhig, nicht zu laut. Michael Bublé, das neue Album. Lied Vier und ab ins Relaxgetümmel.
Ich lege die CD ein und fühle mich vollkommen. Ich beginne wieder meinen Geist auf mein Buch zu fokussieren.
Ich lese und lese und lese, aber um ehrlich zu sein, das Buch ödet mich an. Wer hat mir denn diesen Mist empfohlen. So ein Doktor Faust, der irgendwie alles weiß und alles gelernt hat, bekommt plötzlich Besuch von einem Geist. Der nennt sich auch noch Erdgeist und Faust ist perplex. Ich blättere zurück und suche eine Stelle im Buch, in der beschrieben wird, dass Faust Drogen oder zuviel Alkohol zu sich nimmt. Leider Fehlanzeige, der Typ sieht den Geist nüchtern. Was für ein Psycho, denn im weiteren Verlauf spricht auch noch ein schwarzer Pudel zu ihm. Und dieses Gretchen. Faust, der Latinolover, rennt der Kleinen hinterher, flirtet sich um den Verstand. Sie hingegen geht noch nicht einmal darauf ein. Schickt ihn andauern weg, scheint schüchtern. Der soll mal schön die Finger von dieser frigiden Schwester lassen.
Ich konnte noch nie etwas mit Fantasyromanen anfangen und schlage das Buch zu.

Viele Menschen entspannen sich beim Lesen, aber ich resigniere dankend. Ich stehe auf und gehe zu meinem Bücherschrank. Ich muss doch irgendein Buch besitzen, was ich zur Entspannung lesen kann. Bücherschrank ist bei mir aber leider die falsche Bezeichnung, denn ich erkenne nur Spiderman-Comics. Die wiederum habe ich mehr als acht Mal gelesen und Tageszeitungsabonnent bin ich auch nicht.
Man sollte Entspannung als Rezept verschrieben bekommen. Immer diese Eigeninitiative. Was man sich als Kassenpatient alles gefallen lassen muss. Wozu gibt es die Chemie? Beruhigungstabletten verhindern nach Einnahme die sinnlose Verwirrung, wie man sich nun entspannen sollte.
Die Hoffnung, dass mein Aspirin die erhoffte Wirkung eintreten lässt, stirbt jetzt. Placebo kann nicht funktionieren, wenn man weiß, dass es sich um Placebo handelt.
Ich lächele und denke, dass man das doch das ‚Marvin'sche Placebo-Paradoxon' nennen könnte.

Egal, ich muss entspannen. Aber wie? Was mache ich denn sonst?
Ich merke gerade, dass ich mir noch nie Gedanken zu dem Thema Entspannung machte. Ich bin immer entspannt gewesen - meine ich zumindest.
Ich schalte meinen Fernseher an und die Stereoanlage aus. Ich rutsche mit meinen Fingern von der Fernsehbedienung ab und tippe ungewollt eine mir nicht bekannte Zahlenkombination. Das Kanalergebnis ist ein Shoppingsender.
"Ja, das ist unser neuer Steinpizzaofen. Für SIE zuhause. Ganz bequem, ganz klein und einfach in der Benutzung", sagt ein schlanker Mann in Kochkleidung und roter Schürze.
"Und klein im Preis", ergänzt die Moderatorin, die verunsichert lächelnd in die Kamera schaut. Ich lächele aber nicht zurück und werde entspannter.
"Aber natürlich. Wir alle lieben die bekannten Steinofengeschmack, den wir aus der Pizzaria nebenan kennen", dabei knallt der Koch eine handvoll Teig auf seine Arbeitsplatte und knetet ihn in einer rasenden Geschwindigkeit zu einem Pizzaboden. Abgesehen mal davon, kenne ich nun mein heutiges Mittagessen.
"Diesen Geschmack bekommen Sie nicht in ihrem Ofen. Aber das wird jetzt anders mit dem Steinpizzaofen von uns." Er klatscht lieblos Schinken und Ananasstückchen auf den Teig.
"Och, Danny", wirft die Moderatorin mit schriller und einem geliftetem Lacher ein, "Du meinst eher Steinofen für Pizzen, oder?"
"Was habe ich denn gesagt", fragt der Koch, der nun den Käse als Dachkonstruktion auf den Belag verstreut.
"Steinpizzaofen", sie lacht und schaut in Kamera, "dann müssten die Kunden ja Stein essen", und sie lacht über ihren eigenen Witz.
Danny lacht gezwungenermaßen mit und antwortet: "Ach, Frauke, das wäre ja was. Nein, lieben Kunden, mit diesem kleinen Steinofen bekommen Sie Pizzen wie aus Italien," gute Überleitung denke ich.
Plötzlich zückt Danny zwei Halbkreishölzer aus seiner Beuteltasche und fasst mit diesen unter die Pizza. "Schauen, Sie, meine Damen und Herren, wie einfach nun der letzte Schritt ist. Einfach ‚flutsch' und auf unseren Steinofen." Nach dieser beschreibenden Bewegung legt er die Pizza auf die kleine schwarze Fläche neben ihm, die wie ein Zerahnfeld ausschaut und schließt den Deckel. Mit einem glamurösen Abklatschen seiner Hände, um das Mehl von seinen Händen zu schlagen, nimmt er sich das nächste Teigstück vor.
Frauke ergreift das Wort: "Mein Damen und Herren, Sie kennen das alle. Wie oft haben Sie sich schon einen Stein in ihren Ofen gelegt und darauf die Pizza gebacken. Den Geschmack bekamen Sie aber immer noch nicht."
Einen Stein in den Ofen gelegt? Erstens wäre ich nie im Leben auf die Idee gekommen, und zweitens, woher bekommt man einen Stein? Vielleicht aus der Fußgängerzone, was übrigens den Zustand in der Innenstadt erklären würde, oder von einer Baustelle nebenan. Dann würden ja nur Bauarbeiter gute Pizzen backen können. Wie muss ich mir das vorstellen?
"Schatz, bin von der Maloche und habe Steine mitgebracht."
"Sehr gut, dann können wir endlich wieder Pizza essen. Der andere Stein ist schon durchgebrannt!"
Beide küssen sich verliebt, liebäugeln mit einer Pizzaschachtel und sagen synchron: "We love WAGNER!"

Frauke schaut zu Danny herüber, der in der Zwischenzeit drei neue Pizzen fertiggestellt hat.
"Haben Sie schon Erfahrungen mit dem Gerät gemacht oder wollen Sie einfach neue Rezepte mit uns austauschen, dann rufen Sie an. Rufen Sie einfach an. Wir stellen Sie in unser Studio durch. Scheuen Sie sich nicht. Bestellen und anrufen." In diesem Moment wird eine Telefonnummer eingeblendet und ich hüpfe sofort zum Telefon.
Ich tippe die Nummer und warte.
"Ich höre, wir haben sofort einen Anrufer in der Leitung", und Frauke schaut gespannt in eine Kamera.
Ich haue auf meine Hörermuschel und sehe, wie Danny und Frauke zusammenzucken. Das Klopfen, welches ich verursacht habe, ist tatsachlich von mir. Ich bin wirklich live in der Sendung.
"Ja, hallo, Herr oder Frau... Sie sind uns live zugeschaltet."
Coole Sache. Ich bin vorher noch nie im Fernsehen gewesen und nutze meine Chance:
"Ähm, ja, einmal Pizza Funghi und eine Magherita. Alles zum Bringen, bitte!"

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.05.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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