Ich war völlig übermüdet und froh, dass ich nicht am Steuer saß. Endlich hatten wir die Adresse, Haus Nummer 17, erreicht und Sallner stoppte den Wagen. Er sah mich stumm an und öffnete die Autotür.
„Wo willst du hin?“, fragte ich leise. „Es ist vier Uhr morgens. Lass sie noch ein wenig schlafen. Sie werden bald nicht mehr schlafen können.“
Sallner seufzte und schloss die Tür wieder. In der Straße war es absolut ruhig und für einen Moment schien es tatsächlich so, als wäre die Welt stehen geblieben.
Erstaunt sah ich nach draußen und es war, als wären selbst die Bäume erstarrt. Ganz so, als sei es dem Moment angemessen. Wie oft hatte es mich wütend gemacht, wenn das Leben weiterging. Einfach so, mit dem Wissen, dass für andere die Welt gleich stehen bleiben würde. Wie oft hatte ich mir dann gewünscht, einfach die Welt anhalten zu können. Nur so lange, um denen genug Respekt und Mitgefühl zu erweisen, über die das Leid hereinbrach. Unerwartet, unangekündigt, mit all seiner Konsequenz. Und so würden es auch die Umstehenden bemerken und hätten mehr Zeit, sich um die Leidenden zu kümmern.
„Wie lange wollen wir warten?“, fragte Sallner.
„Keine Ahnung“, erwiderte ich. „Mal sehen, wie es sich ergibt. Ruh dich aus. Ich mach das.“
Er schenkte mir einen dankbaren Blick und nickte nur.
„Hat er Kinder?“
„Ja, drei. Alle noch ganz klein.“
Ich stöhnte leise: „Verdammt noch mal!“
„Sein Auto steht noch immer vor der Firma. Die haben einen Einstand gefeiert. Daher hat er ein Taxi genommen.“
„Er hätte das Auto nehmen sollen!“
„Hätte, könnte, wäre“, murmelte Sallner. „Wie viel Promille er hatte, wissen wir noch nicht. Er wird an seine Kinder gedacht haben.“
„Vielleicht.“
Die Straße erwachte langsam. Vereinzelt sah man Lichter in den Häusern und die ersten Autos fuhren an uns vorbei. Eine alte Dame kam die Straße entlang und bestaunte verwundert unseren Dienstwagen. Sie kam immer näher und ich fragte mich, ob sie uns wohl ansprechen würde. Doch dann ging in Haus Nummer 17 ein Licht an. Das war unser Zeichen. Schweigend verließen wir den Wagen und ich setzte ordnungsgemäß meine Dienstmütze auf. Es war eher eine Verlegenheitshandlung, denn an der Haustür würde ich sie wieder abnehmen.
Die alte Dame war stehen geblieben. Sie ahnte wohl, was wir vorhatten, und sah uns mit traurigen Augen nach. Hinter der Tür war Kinderlachen zu hören. Ich klingelte und rückte noch einmal die Uniform zurecht. Dann atmete ich tief durch und schloss kurz die Augen.
Manchmal hasste ich meinen Beruf als Polizist. Besonders dann, wenn ich einer jungen Mutter erklären musste, dass ihr Mann tödlich verunglückt war. Als Fahrgast in einem Taxi. Weil ein Betrunkener in die Beifahrerseite hineingerast war.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.05.2005.
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Bringt mir den Dolch
von Germaine Adelt
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