Kerstin Rohde

Kria

Die Geschichte, die ich Euch nun erzähle, handelt vom Glauben daran, dass es immer weiter geht egal wie trostlos die persönliche Welt auch zu sein scheint und der Held dieser Geschichte heisst Kria.
Kria ist der erste Teddybär, den ich in meinem Leben mein eigen nennen durfte, denn ich bekam ihn zu meiner Geburt in die Wiege gelegt. Sein Name ist ein Produkt aus den ersten Sprechversuchen eines Kindes und der verständnisvollen Phantasieinterpretation meiner Eltern. Kria war mein erster Freund, dem ich alles erzählen konnte, dessen braunes Fell von meinen Tränen durchweicht wurde und der allerdings auch meine zögerlichen Schminkversuche über sich ergehen lassen musste, von denen heute noch eine pinke Strieme neben der Nase zeugt. Kria ist sicherlich kein schöner Bär und viele Kinder, die nichts von seinem Zauber wissen, würden ihn bestimmt gerne verschmähen: ihn, mit seiner dicken, harten Nase, seinen vor Fell kaum sichtbaren Glasaugen und den abgewetzten Pfoten. Für mich ist er jedoch mit Gold nicht aufzuwiegen.
Wie gesagt, hatte Kria von Anbeginn einen sehr großen Stellenwert in meinem Leben, doch wie das so ist, geriet er im Zuge des Erwachsenwerdens immer mehr in den Hintergrund. Spätestens beim Auszug in die erste eigene Wohnung wurde er auf einen Sitzplatz auf dem Schuhschrank verbannt zwar auch außerhalb der Gefahrenzone, die ihm von den beiden Katzen drohte, aber auch aus meiner Welt. Ich begann eigenständig zu leben, das Studium nahm viel Zeit in Anspruch, dann die Arbeit und das immer spärlicher werdende Privatleben und zum Trösten in traurigen Zeiten wurde er durch Menschen ersetzt, die zwar meist nicht mehr alle Geheimnisse kannten, aber doch genug zu sein schienen.. Sowieso wurde ich zu einem Menschen, der viele Dinge mit sich selbst ausmachte und sich mit Gefühlsäußerungen nur soweit aus dem Fenster lehnte, solange nicht die Gefahr bestand herauszufallen. Obwohl ich mittlerweile mit Sprache mein Geld in der Öffentlichkeitsarbeit verdiente, blieb mir im Privatleben eine gewisse Sprachlosigkeit erhalten.
Trotzdem verlief mein Leben bis letzten Sommer sehr glücklich: ich hatte einen treuen Freundeskreis, einen Partner, den ich sehr liebte und viele Ziele, die ich mir gesteckt hatte, erreicht. Dann aber wurde es Juli und meine kleine heile Welt zerbrach. Zuerst verstarb mein Großvater, mit dem ich aufgewachsen war einen langsamen, qualvollen Tod, dann zerbrach der Lebenstraum von mir und meinem Freund ins Ausland zu gehen, nachdem wir schon viel investiert und noch mehr aufgegeben hatten und danach bemerkte ich, dass ich schwanger bin. Als ich mich gerade damit abgefunden hatte und begann mich auf das neue Leben zu freuen, verlor ich mein Baby.
Ich weiß nicht wie ich den Zustand beschreiben soll, in dem ich mich im Spätsommer befand. Mir fehlten im wahrsten Sinne die Worte. Um mich herum und in mir war eine Stille, die so laut war, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Trotzdem hielt ich dem Aufruhr in mir sehr lange stand, glaubte ich doch einen Mann an meiner Seite zu haben, der es geschafft hatte so viele meiner Mauern zu sprengen, und somit derjenige sein sollte, der mir half. Doch leider täuschte ich mich darin. Ihn nervte es recht schnell, dass ich „schon wieder“ von meinem Großvater oder dem Baby sprach oder einfach nur still in der Ecke saß und nicht feiern gehen wollte. Er rühmte sich zwischen Emotion und dem „wahren Leben draußen“ trennen zu können und schon bald war ich ihm zuviel. Er ging.
Obwohl viele nachfragten, lernte ich doch schnell auf die Frage: „Wie geht`s?“ wieder mit einem fröhlichem „Gut, natürlich!“ zu antworten. Schlimm waren aber die Nächte, allein, wenn alles über mir zusammenbrach. Da erinnerte ich mich an meinen alten Freund Kria, der ja immer da gewesen war, wenn ich Trost benötigte und vor dem ich mich nie schämen brauchte.
Jedoch- ich fand ihn nicht. Weder auf dem Schuhschrank noch sonst wo in meiner Wohnung und ich habe wirklich das Innerste nach Außen gekehrt. Ich durchsuchte den Keller, ob er dort beim letzen Umzug in einem der Kartons geblieben war, die man nie wieder auspackt und belästigte meine Eltern mit detaillierten Fragen zum Verbleib des Bären. Später ließ ich mich sogar dazu herab meinen Exfreund des Teddyraubes zu bezichtigen,  aber... nichts. Kria blieb verschwunden.
Wie es so ist, wenn etwas plötzlich unauffindbar scheint, was man vorher jahrelang nicht vermisst hat, drehten sich meine Gedanken nur noch um den Bären. Es wurde zu einer Obsession und dringenden Notwendigkeit Kria aufzufinden, so dass ich eines Tages mal wieder mit dem Hund spazieren ging und im Geiste alle Menschen durch hechelte, die vielleicht noch wissen könnten, wo Kria inzwischen gelandet war.
An einer Brücke blieb ich stehen und schaute gedankenverloren auf den Fluss als plötzlich ein alter Mann neben mir stand und mich ansprach..
„Was für einen herrlichen Hund Sie haben! Man sieht es heute selten, dass junge Menschen sich noch zutrauen Verantwortung für ein so großes Tier zu übernehmen! Was für eine Rasse ist es denn?“
Ich hatte mich zuerst etwas erschrocken, doch war ich es andererseits gewöhnt bei Spaziergängen immer wieder auf „Emma“ angesprochen zu werden. Hundebesitzer unterhalten sich in der Regel ganz gerne. Außerdem strahlte mich der Mann mit so neugierigen Augen an, dass ich so oder so hätte antworten müssen.
„Sie ist ein Mischling aus Schäferhund und „Fragen Sie mich nicht was“. Auf jeden Fall muss dabei noch was Größeres mitgemischt haben, da sie mittlerweile stolze 45 Kilo wiegt.“
„Mein lieber Mann“, antwortete er bewundernd, „wie kriegen Sie die denn satt?“
In diesem Stil plänkelte die Unterhaltung noch eine gute Zeit weiter und der alte Mann würde mir immer sympathischer. Erinnerte er mich in seiner offenen, verschmitzten Art doch sehr an meinen Großvater.
Völlig unerwartet donnerte es plötzlich über uns und ein Platzregen begann.
„Schnell, schnell, kommen Sie mit zu mir. Bis Sie an Ihrem Auto sind, können Sie sich und Emma ja komplett auswringen!“ rief mein neuer Bekannter und eilte auf  eines der Häuser zu, die direkt hinter der Brücke standen. Normalerweise folge ich Menschen, egal welchen Alters, nicht kommentarlos in ihre Häuser. Doch es schüttete aus allen Eimern und ich war in unsere Unterhaltung, die mir in meinen trüben Gedanken so willkommen gewesen war, so vertieft gewesen, dass ich diese nun nicht einfach abbrechen wollte.
Ich nahm in einer großen Wohnküche Platz und bei einer Tasse Tee nahmen wir unsere Unterhaltung wieder so natürlich auf als wäre ich eine Verwandte, die endlich mal wieder zum Plausch kam. Ich fühlte mich immer wohler und ließ meine Blicke durch die Wohnung streichen. Von meinem Sessel aus konnte ich direkt ins Wohnzimmer schauen, da beide Räume mit einer Durchreiche verbunden waren. Was ich dort sah, verschlug mir dann kurzfristig die Sprache. Überall, aber wirklich überall saßen Stofftiere in allen Größen und Farben. Heinz, denn so durfte ich den alten Herrn inzwischen nennen, bemerkte mein Erstaunen und führte mich stolz in sein Plüschzimmer, wie er den Wohnraum augenzwinkernd nannte.
„Ja, also hier siehst Du nun meine Familie. Meine Frau und ich hatten nie Kinder, leider. Erst der Krieg und danach klappte es einfach nicht. So haben wir irgendwann begonnen die Kinder der Nachbarn einzuladen und meine Frau hat ihnen dann Märchen vorgelesen!“
Heinz lächelte versonnen. „ Ach das waren schöne Zeiten! Es wurde ein richtiges Ritual. Alle kamen jeden Sonntag und die meisten brachten ihre Lieblingsstofftiere mit... Nun dann wurden diese Kinder groß und kamen immer seltener und viele ließen ihre Lieblinge hier und fragten nie wieder danach. Sie hatten sie wohl einfach vergessen. Wir waren sehr traurig, bis wir merkten, dass unsere kleinen Gäste uns etwas sehr Wertvolles zurück gelassen hatten, denn... in den Augen der Stofftiere bleibt immer ein Stück der Kinderseele zurück und wenn man sehr genau zuhört, kann man hören wie sie von den alten Träumen und Sehnsüchten ihrer Kinder flüstern. So begannen wir Flohmärkte zu besuchen und kauften alle abgenutzten, längst vergessenen Stofftiere auf  und gaben ihnen ein neues zuhause!“
Ich hatte die ganze Zeit ungläubig zugehört  und plötzlich brach es aus mir heraus und ich erzählte Heinz von meiner vergeblichen Suche nach Kria.
Er hörte mir aufmerksam zu ohne mich zu unterbrechen. Als ich fertig war, schaute er mich ernst an.
„ Dein Bär ist nicht weg, du konntest ihn nur nicht mehr sehen. Du musst Dich wieder den Menschen öffnen und erkennen, dass man nur wahre Unterstützung finden kann, wenn man andere an seinen Träumen, aber auch an seiner Trauer und Wut teilhaben lässt. Jeder Mensch muss natürlich erwachsen werden, aber die Vernunft darf nie das Kind in dir töten. Daran erinnern uns die Spielgefährten der Kindheit, doch wenn man dies nicht sehen will, ist man blind für sie und ihren Zauber.“
Unglaublicherweise gaben mir diese Worte Mut und seit langem hatte ich wieder das Gefühl etwas leichter atmen zu können.
Draußen wurde es inzwischen Abend und es hatte schön lange aufgehört zu regnen. Der Abschied von Heinz fiel mir schwer, doch hatte ich auch neuen Elan gefunden wieder nachhause zurück zu kehren.
In meiner Wohnung angekommen, klingelte mein Telefon und das erste Mal seit langem erzählte ich meiner Freundin wie es mir wirklich geht. Spätnachts legte ich auf und hatte keine Angst mehr vor den Gespenstern der Nacht. Zur Belohnung wollte ich mir noch schnell ein Glas Wein gönnen und suchte in der Vitrine nach dem Öffner. Und... da ganz hinten, unter alten Tischdecken lag Kria!
Keine Ahnung, wie er dahin gekommen war und noch weniger begriff ich, wie ich ihn bei der ersten Suche nicht finden konnte, aber eigentlich war mir all das auch völlig egal. Ich hatte ihn wieder und er würde mir nie mehr verloren gehen. Ich drückte ihn an mich und konnte direkt seine Wärme spüren.
Heute geht es mir wieder richtig gut, doch immer wenn Träume beginnen im Alltag zu verblassen, brauche ich nur auf Kria zu sehen und wennermichdabeierwischt,dassichaufdieFragevongutenFreunden,obesmirgutgehe,wiedernurraschmit„Ja,natürlich!“antworte,obwohlesnichtstimmt,seheicheinhellesGlitzerninseinenAugen.Soerinnertermichdaran,sozusein,wieesgutfürmichist.br Ich habe Heinz und Kria viel zu verdanken und wenn ich einmal selber Kinder habe, werde ich Ihnen die Geschichte des letzen Sommers erzählen und hoffen, dass sie ihre Kinderseelen nie vergessen und auch Kria in Ehren behalten werden. Denn eines habe ich ganz sicher gelernt: das Salz für unsere tiefsten Wunden kaufen wir uns meistens selbst.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.06.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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