Andrea C. Heyer

Morgenmantel

Schlaff hängt der Morgenmantel am Türhaken. Ein müdes Stück Stoff, das darauf wartet, dass wer kommt und es anzieht, es mitnimmt, ihm Form verleiht. Es wird sich an den Träger anpassen, seine zweite Haut sein, damit er nicht friert. Still hängt er da am Haken, der feminine Mantel. Der Träger wird sich mit ihm sehen lassen können, zu seinem Vorteil, der Nutzer hat ihn gepflegt. Ein Mantel soll kleiden, soll dafür sorgen, dass der Träger sich mit ihm wohl fühlt. Dieser da, er kleidet. Er ist so weich und leicht, der Besitzer fühlt ihn beinahe nicht. Er ist immer da, immer griffbereit. Ja, er ist fast schon so etwas wie ein Freund oder eine Freundin. Dieser Mantel, der sich allmorgendlich an den Besitzer schmiegt, er ist sein bestes Stück. Ist er auch ein wenig zerknittert, der Besitzer findet ihn perfekt. Er ist noch wie geschaffen für ihn, er fühlt sich wohl, wegen ihm. Er erinnert sich noch an den Tag, als er ihn einkaufte. Die Entscheidung zum Kauf war keine spontane. Er brauchte einen neuen Mantel für den Morgen. Den alten hatte er wegwerfen müssen, weil er abgenutzt war, ja, verschlissen. Jede Reinigung machte ihn nur noch rauer. Die Trennung war ihm deswegen leicht gefallen. Weil es ihm zu beschwerlich war, sich auf die große Suche zu begeben, hatte er sich vorsorglich nach den besten Häusern erkundigt. Auf den ersten Blick hatte er sich in den Mantel verliebt, den er schon vor Betreten des Geschäfts an einer der Schaufensterpuppen sah. Er würde ihn kleiden, gewiss, er ist schön, fand er. Sollte sein Mantel einmal beschädigt werden, derart, dass er den Besitzer nicht mehr kleidet, so wird er sich einen anderen kaufen. Da sein Mantel aus so feinem Stoff gemacht ist, ist es sogar nur eine Frage Zeit. Seine Unachtsamkeit wird darüber entscheiden, wann er unbrauchbar geworden ist. Darüber, aus welchem Stoff der neue dann sein wird, welche Farbe er haben wird, welche Verzierungen ihm anhaften werden, darüber hat er sich noch keine Gedanken gemacht. Er vertraut da seinem Geschmack und seinem Blick für das Offensichtliche. Aber, dass er einmal wird tauschen müssen, das ist gewiss. "Guten Tag!", sagt der ehemalige Besitzer des einstmals perfekten Morgenmantels zum Angestellten des Secondhandladens. "Diesen da, den würde ich gerne in Kommission geben. Ich werfe Dinge nicht gerne weg. Ein anderer wird sich sicherlich noch darüber freuen. Mir hat er jedenfalls gute Dienste geleistet, und er ist immer noch schön, finden Sie nicht?" "Ich finde ihn interessant. So, wie ich alle Dinge in meinem Laden interessant finde. Diesen hier werde ich gleich ins Schaufenster stellen. Und wenn ich ihn von meiner Kasse aus betrachte, werde ich mir vorstellen, welche Geschichte er wohl zu erzählen hat." © Andrea Thiel

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