Helmut Wemer

Die Stille

Es war einmal einer, der suchte die Stille. Und als er sie lange lange gesucht und nirgends nirgends gefunden hatte, ging er zur Regierung.
"Stille", fragte die Regierung und blickte streng über die randlose Brille auf den Mann vorm Schreibtisch, "wozu denn Stille?"
"Ich kann nicht leben ohne die Stille",  sagte der Mann leise.
"Nicht leben können, das ist ein großes Wort", meinte die Regierung, "aber Sie haben Glück. Ich habe heute einen guten Tag und will Ihren Wunsch erfüllen".
"Danke!" sagte der Mann freudig. "Was wird geschehen?"
"Ich werde einen neuen Feiertag einführen und ihn 'Tag der Stille', nennen. An jenem Tag muss jeder still sein nach dem Gesetz".
"Gut", sagte der Mann. "Das kann ich verstehen. Nur was geschieht mit jenen, die dieses Gesetz nicht achten?"
"Die lasse ich einsperren", sagte die Regierung und putzte die randlose Brille mit einem großen schwarzen Taschentuch. "Einsperren ‑ oder vielleicht auch totschießen. Ich muss mir das noch überlegen".
"Ich glaube", sagte der Mann enttäuscht, "das ist nicht die Stille, die ich suche. Meine Stille ist von ganz anderer Art". Und er suchte weiter. Als er wieder keinen Erfolg hatte, ging er zur Gewerkschaft.
"Stille", sagte die Gewerkschaft, ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen, "Stille kann ich Ihnen schon verschaffen: Ich rufe den Generalstreik aus, ordne Schweigemärsche an. Dann ist es ganz still. Sind Sie zufrieden?"
"Ich denke", sagte der Mann enttäuscht, "das ist nicht die Stille, die ich suche. Meine Stille ist von ganz anderer Art". ‑ Und er ging und suchte weiter. Dabei geriet er in ein großes Vorzimmer mit einer Tür. Er nahm sich ein Herz und klopfte.
"Herein!" sagte das Militär. "Was führt Sie zu mir?" Und die Sporen unter dem Schreibtisch rasselten.
"Ich suche die Stille", sagte der Mann bescheiden. "Doch glaube ich kaum, dass Sie mir da werden helfen können".
Das Militär lachte, dass seine Orden klapperten. "Niemand kann Ihnen da besser helfen als ich. Niemand, hören Sie? Hier auf meinem Schreibtisch ist ein kleiner schwarzer Knopf. Betrachten Sie ihn genau. Dieser Knopf ist ein Stillespender, wie es keinen besseren gibt".
"Ich verstehe nicht recht", sagte der Mann ängstlich.
"Es ist ganz einfach. Ich drücke ‑ die Stille ist da. Und was für eine Stille! Eine richtige Totenstille. Es gibt keine bessere".
"Aber wann", fragte der Mann erschrocken, denn er verstand jetzt sehr gut, "wann werden Sie auf diesen Knopf drücken? Wann?"
Das Militär zuckte die Achseln. "Die Zeit ist noch nicht reif. Aber vielleicht brauche ich gar nicht zu drücken. Vielleicht lege ich einmal irrtümlich ein Aktenstück drauf, Irren ist doch menschlich, nicht wahr? Oder ich stoße mit dem Ellbogen daran, auch das wäre möglich. Und Irren, wie gesagt, ist immerhin menschlich".
"Könnten Sie nicht", meinte der Mann vorm Schreibtisch, "den Knopf irgendwie schützen? Oder vom Schreibtisch wegnehmen? Wenn Irren doch so menschlich ist ... "
"Wie Sie sich das so vorstellen", sagte das Militär und schüttelte den Kopf. "Einfach wegnehmen. Nein, das geht doch nicht. Mein oberster Grundsatz heißt: Allzeit bereit! Ich habe diesen Spruch sogar über'm Sofa. Gestickt. ‑Wie Sie sich das so vorstellen, einfach wegnehmen, nein das ist wirklich zu komisch... "
Und das Militär lachte wieder, dass seine vielen Orden klapperten und seine Sporen rasselten. Und der Mann vor dem großen großen Schreibtisch mit dem kleinen so kleinen schwarzen Knopf darauf bekam furchtbare Angst, und er drehte sich um und rannte, rannte, rannte...
Doch jenes Lachen blieb in seinen Ohren.
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.06.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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