Silvia Pree

Ein Farbklecks ins Leben

 
Sarah konnte sich nur schwer auf ihre Arbeit konzentrieren.
Der Tag schlich dahin.
Und der Stapel an Akten vor ihrer Nase wurde nicht weniger.
Ganz im Gegenteil.
Auf ihre Kollegen wirkte sie fahrig.
Und Frau Schmidt wäre beinahe an sie geraten, weil sie eine abwesende Äußerung Sarahs zuerst völlig missinterpretiert hatte.
Aber selbst das war Sarah heute mehr als nur egal.
Wenn die Zeit nur schneller vergangen wäre!
Aber je ungeduldiger sie wurde, umso träger kroch der Stundenzeiger vorwärts.
So schien es Sarah zumindest heute.
Und als die Uhr schließlich doch Dienstschluss signalisierte, konnte sie es kaum fassen.
Kein Anruf vom Chef, dass sie länger bleiben müsste.
In einer Minute räumte sie den Schreibtisch zusammen.
Langte nach ihrer Jacke und der Handtasche.
Wechselte die Hausschuhe gegen die eleganten Stiefletten und zog die Magnetkarte durch den Schlitz beim Ausgang.
Sie war frei.
Frei für diesen Abend!
Sie konnte es kaum fassen!
Wie ein Teenager freute sie sich an diesem Moment.
Ihre Augen strahlten.
Dass ein paar Kollegen sie etwas irritiert beobachteten, fiel ihr gar nicht auf.
Fünf Minuten später saß sie im Bus in  Richtung Innenstadt.
 
Sarah ordnete ihre Gedanken.
Wie lange war sie jetzt mit Dietmar beisammen?
Bald neun Jahre.
Eine große Leidenschaft hatte ihre Beziehung zu ihm ohnedies nie ausgezeichnet.
Aber sie war damals auch schon fast auf Mitte zwanzig zugegangen.
Auf wen hätte sie noch gewartet?
Eine beneidenswerte Schönheit war sie auch nie gewesen.
Eher eine von der stillen Sorte, die im Geheimen lieben und leiden.
Und als Dietmar angefangen hatte mit ihr zu gehen, hatte sie nicht gezögert.
Liebe?
Keine Ahnung.
Schwer zu sagen.
Er war einfach mit ihr ausgegangen.
Hatte ihr Blumen geschenkt.
Und schließlich mit ihr geschlafen.
Nichts Aufregendes.
Eine gemeinsame Wohnung, die sie beide bezahlten.
Ein gemeinsames Auto, das selbstverständlich nur Dietmar benutzte.
Aber was soll’s!
Schlimmer schon die sexuellen Pflichtübungen die mit schöner Regelmäßigkeit zweimal in der Woche vor dem Schlafengehen angesetzt waren.
Dietmar hatte sich nie besonders angestrengt was seinen Erfindungsgeist in der Hinsicht betraf.
Nach knapp einer Viertelstunde war die Vorstellung immer beendet.
Als hätte er eine Uhr verschluckt.
Sarah hatte stets den Wecker im Visier, wenn Dietmar in Reitposition ging.
Sie sagte wenig.
Was sollte man auch von den sexuellen Gewohnheiten eines Buchalters noch erwarten?
Dietmar schlief danach immer gleich ein.
Keine Zeit für Zärtlichkeiten.
Sein Schnarchen nervte Sarah fast genauso viel.
Wie die gleichgültige Kälte, mit der er ihren Körper stets zur Befriedigung nutzte.
Anders konnte man es nicht vergleichen…
 
Sarah blickte versonnen aus dem Busfenster.
Die warme Aprilsonne tat ihr gut.
Ihrem Gesicht.
Ihrer Seele.
Sie lächelte.
Anders als sonst.
Vor zwei Wochen hatte sie eine Rechnung an einen Kunden geschickt.
Und wie üblich unterschrieben und weggefaxt.
Kurz danach eine Mail im Posteingang.
Von Josef.
Josef Grubhofer.
Nicht nur der neue Abteilungsleiter des Kunden.
Sondern auch eine Schulkollege von Sarah.
Sarahs große Liebe aus der Handelsschule!
Und Josef hatte sich auch an sie erinnert.
Und nachgefragt, ob sie es wäre.
Schon am folgenden Abend hatten sie lange telefoniert.
Dietmar war währenddessen mit Freunden unterwegs gewesen.
Er fehlte ihr gar nicht.
Und zwei Tage später traf sie sich das erste Mal wieder mit Josef.
In einem Bierlokal im Zentrum.
Dietmar hatte nicht einmal gefragt, warum sie an dem Tag später heimkommen würde.
So selbstverständlich war sie ihm geworden!
Sarah ballte die Fäuste in der Erinnerung.
Aber der Abend mit Josef entschädigte sie für viel.
Für sehr viel.
 
Sarah schloss die Augen.
Sie war beschwipst gewesen an jenem Abend.
Wie seit der Schulzeit nicht mehr.
Josef verhielt sich unglaublich nett und aufmerksam.
Selbstverständlilchkeiten, die Dietmar gar nicht kannte.
Predige einem Blinden die Farbe grün!
Gegen Mitternacht hatte er sie dann heimgebracht.
Dietmar war längst eingeschlafen gewesen.
Und hatte sich am nächsten Tag nicht einmal erkundigt, wo sie geblieben war.
Aber Sarah hatte sich an jede Minute erinnert.
Vor allem, wie ihr Josef gestanden hatte, dass er auch immer in sie verliebt gewesen war.
Genau wie sie umgekehrt!
Was für eine Tragödie!
Nie darüber gesprochen.
Und beide hatten sich doch gegenseitig angehimmelt!
Egal!
Es zählte nur das heute!
Jetzt würden sie bald beisammen sein!
Sie spürte es mit jeder Faser!
Und für diesen kommenden Abend würde sie ein Jahr ihres Lebens opfern!
Bereitwillig.
Wenn er nur den Verlauf nehmen würde, den sie sich wünschte…
Erwartungsfroh trippelte sie die zwei Stufen aus dem Bus und wandte sich zu dem Lokal ganz links.
 
Dietmar stöhnte am Höhepunkt laut auf.
Verdrehte die Augen.
Dann sackte er zusammen.
Drehte sich zur Seite und begann gleich darauf zu schnarchen.
Sarah zuckte die Achseln.
Schob das Nachthemd wieder nach unten und deckte sich zu.
In resignativer Ironie warf sie noch einmal einen Blick auf die Uhr.
Zwölf Minuten heute.
Dietmar hatte es eilig gehabt zu kommen…
Was machte ihr dieses lächerliche, gleichförmige Liebesleben schon im Vergleich zu dem Treffen neulich mit Josef aus!
Josef.
Nett und aufmerksam wie immer.
Ein liebenswürdiger Gesprächspartner.
Und er zahlte auch beider Rechnung.
Ganz wohlerzogener Gentleman.
Doch das hatte Sarah schon gar nicht mehr registriert.
Als ihr Josef nämlich nach dem Dessert die Fotos von seiner Frau und dem Kind gezeigt hatte, war die Seifenblase geplatzt.
Und Sarah war wieder aufgewacht.
Sie war nur eine nette Erinnerung in seinem Leben gewesen.
Eine Erinnerung, die er gerne aufgefrischt hatte.
Aber nicht mehr.
Vielleicht war er tatsächlich vor 15 Jahren in sie verliebt gewesen.
Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr.
Keine Rede von Schicksal, dass sie beide nun doch zusammenbringen würde.
Sarah seufzte laut auf.
Dietmar neben ihr grunzte im Schlaf.
Josef hatte kurz etwas Farbe in ihr Leben gebracht.
Aber auch nicht mehr…
 
 
Vivienne

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.06.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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