Silvia Pree

Herrn Seyfrieds letzter Urlaub

 

Gerhard Seyfried nahm im Kaffeehaus Platz.

 

Einige Gäste saßen schon auf der Terrasse.

 

Tranken Kaffee.

 

Und genossen die warme Maisonne.

 

Nein, er, Herr Seyfried, hatte jetzt keine Lust auf Sonne.

 

Nachdenklich rührte er den Kaffee um.

 

Eigentlich sollte er ja keinen Kaffee trinken.

 

Der Arzt…

 

Aber was spielte das noch für eine Rolle!

 

Herr Seyfried seufzte.

 

Ein paar Minuten stützte er nachdenklich seinen Kopf auf.

 

Im Grunde wirkte er recht wohl genährt.

 

Oberflächlich betrachtet.

 

Sein Gesicht war feist.

 

Nur die Kappe irritierte, die er auch im Lokal aufhatte.

 

Hier mitten in der Tiroler Bergwelt.

 

Wer ahnte schon, dass er kahl darunter war!

 

Und nur einem aufmerksamen Beobachter wäre aufgefallen, dass seine Haut gelblich wirkte.

 

Das Gesicht nicht feist, sondern aufgedunsen war.

 

Fast teigig.

 

Herr Seyfried hatte Krebs.

 

Und würde sterben.

 

Wahrscheinlich noch vor Herbstbeginn.

 

 

Schon Ende des letzten Jahres war es Herrn Seyfried nicht gut gegangen.

 

Die ständigen Rückenschmerzen hatte er aber auf seinen Beruf geschoben.

 

Herr Seyfried war Buschauffeur.

 

Fünf Tage in der Woche.

 

Immer dieselbe Route.

 

Immer dieselben Leute.

 

Ewige Routine.

 

Im Jänner ging er schließlich doch zum Arzt.

 

In der Erwartung, auf Kur geschickt zu werden.

 

Oder irgend so etwas.

 

Die hektische Reaktion des Arztes irritierte Herrn Seyfried.

 

Da stimmt etwas nicht…

 

Die Worte des Orthopäden hatten in seinen Ohren geklungen.

 

Ohne dass er sie begriffen hatte.

 

Er musste ins Spital.

 

Tage der Ungewissheit.

 

Sprachlose Ärzte, die nicht viel sagten.

 

Und umso mehr miteinander tuschelten.

 

Schließlich erbarmte sich der Chefarzt.

 

Sie haben einen Tumor an der Wirbelsäule.

 

Inoperabel.

 

Wir probieren es mit Bestrahlung.

 

Drei Sätze.

 

Keine Gefühlsregung.

 

 

Herr Seyfried starte ins Nichts.

 

Noch einen Wunsch der Herr?

 

Der Kellner blickte ihn von oben herab an.

 

Er wirkte völlig ungerührt.

 

Herr Seyfried schüttelte den Kopf.

 

Schlürfte den Kaffee.

 

Hing seinen Gedanken nach.

 

Die Bestrahlungen machten ihm zu schaffen.

 

Die Haare fielen ihm aus.

 

Ihm war oft schlecht.

 

Und ein ständiger Schwindel setzte ihm zu.

 

Einmal war er nachts gestürzt.

 

Als er sich ein Glas Wasser holen wollte.

 

Die Platzwunde an der Stirn war aber halb so wild.

 

Die weitere Diagnose der Ärzte weniger.

 

Der Tumor ist weiter gewachsen.

 

Metastasen im Kopf und in der Lunge.

 

Ordnen Sie Ihre Verhältnisse.

 

Herr Seyfrieds Mund war ganz trocken, als er die Frage formulierte.

 

Wie lange noch?

 

Die junge Ärztin blickte an ihm vorbei.

 

Schwer zu sagen.

 

Vielleicht August, September.

 

Herr Seyfried war gerade 43 Jahre alt geworden.

 

 

In der Nacht hatte er geweint.

 

Er war dazu in den Aufenthaltsraum gegangen.

 

Sich ein paar schöne Monate machen?

 

Den Sommer genießen?

 

Vollgepumpt mit Schmerzmitteln.

 

Kein Weihnachten mehr.

 

Letztes Jahr war er mit ein paar Freunden Weihnachten herumgezogen.

 

Freunde, die sich im Spital immer spärlicher blicken ließen.

 

Nach der endgültigen Diagnose schlief er oft schlecht.

 

Auch, als er wieder daheim war.

 

Und einmal wurde er mitten in der Nacht wach.

 

Ich werde nie mehr Schnee sehen.

 

Der Gedanke berührte ihn seltsam.

 

Er war nie ein großer Schifahrer gewesen.

 

Und den Winter mochte er nicht sehr.

 

Gerade als Busfahrer.

 

Eis und Schnee?

 

Igitt!

 

Und trotzdem befiel ihn plötzlich eine große Sehnsicht nach dem Schnee.

 

Er wusste nicht warum…

 

 

Herr Seyfried blickte auf die Uhr.

 

Fast 12:00 Uhr.

 

Wurde Zeit, dass er sich auf den Weg machte.

 

Er trat aus dem Café und blickte um sich.

 

Majestätisch erhoben sich die Berge rund um ihn.

 

Ihre Spitzen waren angezuckert.

 

Herr Seyfried lächelte.

 

Der ältere Mann, den er um den Weg auf die Alm fragte, lächelte ihn amüsiert an.

 

Städter! sagte sein Blick.

 

Herrn Seyfried war das egal.

 

Er marschierte gemächlich los.

 

Trotzdem kam er schnell ins Keuchen.

 

Die angegriffnen Lungen.

 

Immer öfter blieb er stehen.

 

Ihm fiel ein, wie er vor drei Wochen ins Reisebüro gegangen war.

 

Der Angestellte hatte ihn verständnislos angeblickt.

 

Jetzt?

 

In den Schnee?

 

Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?

 

Herr Seyfried wollte schon wieder gehen.

 

Da tauchte eine Kollegin des Mannes auf.

 

Er erwiderte ihren fragenden Blick.

 

Ich habe Krebs.

 

Die Frau wirkte echt betroffen.

 

Und nickte.

 

Eine halbe Stunde später steckte er das Eisenbahnticket in den kleinen Tiroler Ort ein.

 

Und jetzt war er auf dem Weg auf die Alm.

 

Dort, wo sich das große Schneefeld befand.

 

Das Schneefeld, das auch im heißesten Sommer am Nordhang dieses Berges liegt.

 

 

Herr Seyfried wischte sich den Schweiß von der Stirn.

 

Eine Stunde war er mittlerweile schon unterwegs.

 

Die Schuhe drückten ihn.

 

Der Rücken schmerzte trotz der Tabletten.

 

Und er rang immer mehr nach Luft.

 

Es dauerte fast eine Ewigkeit bis er das Schneefeld endlich entdeckte.

 

Es leuchtete fast.

 

So schien es ihm zumindest.

 

Der Anblick gab ihm Kraft.

 

Er beschleunigte seine Schritte wieder.

 

Fast von selbst.

 

Fassungslos stand er schließlich vor der großen weiten Fläche.

 

Sein Atem ging rasselnd.

 

Ein paar Momente atmete er schwer.

 

Schließlich bückt er sich.

 

Der Schnee war etwas schmutzig.

 

Nicht rein weiß wie im Winter.

 

Er fühlte sich krümelig und schwer an.

 

Leicht wässrig.

 

Herr Seyfried rieb sich sein Gesicht damit ein.

 

Schnee…

 

 

Herr Seyfried wusste später nicht ganz genau, was da mit ihm passierte.

 

Er begann zu lachen.

 

Ganz laut.

 

Sprang in den Schnee.

 

Wühlte ihn auf.

 

Wälzte sich darin.

 

Formte Bälle und warf sie.

 

Baute einen kleinen Schneemann.

 

Und lachte die ganze Zeit.

 

Tränen flossen von seinen Wangen.

 

Schließlich begann er zu husten.

 

Herr Seyfried rang nach Luft.

 

Er bekam keine Luft mehr.

 

Der Schnee färbte sich rot.

 

Minuten später hatte sich sein Körper wieder beruhigt.

 

Er musterte den roten Fleck im Schnee.

 

Gedankenverloren zerkrümelte er noch einmal eine Hand voll Schnee.

 

Ein leises Lächeln lag auf seinem Gesicht.

 

Er stand auf.

 

Putzte sich den Schnee von der Kleidung.

 

Seine Kleidung war ganz nass.

 

Herr Seyfried lachte kurz amüsiert auf.

 

Und blickte Richtung Tal.

 

Minuten später war er wieder unterwegs in seine Pension.

 

 

Es ist nie zu spät seine Sehnsüchte auszuleben…

 

 

 

Vivienne

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.06.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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