Ursula Köhn-Graeff

ANGEKOMMEN

Sie saßen engumschlungen an der Basis eines tiefen Brunnens. Der
Boden war unangenehm lehmig feucht und für sie auf eklige Weise schon
fast ein bisschen vergleichbar mit lebendem vibrierenden Fleisch. Es
war fast unmöglich, in der stickigen feuchten Luft richtig
durchzuatmen. Sehr weit oben war ein kleiner Lichtpunkt und irgendetwas
versuchte, sie von seiner Seite weg- und aus dem sich nach oben stark
verjüngenden Brunnen gewaltsam herauszuzerren. Dazu rief eine ihr
bekannt vorkommende verzweifelt klingende Stimme, die sie allerdings
wie hinter Tausenden von Schichten aus Watte wahrnahm, "Komm
zurück"! 
 
*** 
 
Dieser
in der letzten Zeit immer wiederkehrende Albtraum fing an, sie
nachhaltig zu beunruhigen. Noch bevor sie die Augen aufschlug, tastete
sie behutsam mit der linken Hand zur anderen Seite des Bettes um sich
zu vergewissern, dass er immer noch da lag. Als sie mit ihren
Fingerspitzen seine nackte Haut berührte und er kaum wahrnehmbar auf
die Berührung reagierte, war sie so glücklich und erleichtert, dass sie
am liebsten geweint hätte.
 
Der neue Morgen
war angebrochen und mit ihm ein Tag, der zwar noch frisch und jung war,
aber trotz allem schon eine gewisse laszive Schwere hatte. Sie hatte
das Gefühl, wie betäubt geschlafen zu haben, und dass die Nachtruhe ihr
eigentlich nicht die notwendige Erholung verschafft hatte. Ihre Arme
und Beine schienen wie mit Blei beschwert zu sein und sie mit
unnachgiebigem Druck auf der weichen Matratze zu halten. Sie öffnete
ganz vorsichtig blinzelnd die Augen und schloss sie fast im gleichen
Augenblick wieder, geblendet durch das gleißend helle Licht, das es
unmöglich machte, mehr als nur Konturen im Raum zu erkennen.
 
Leise
Geräusche deuteten an, dass er im Begriff war aufzuwachen. Mit
schlafwandlerischer Sicherheit zog er sie blitzschnell auf seine Seite,
wo er sie liebevoll eingeklemmt in seiner rechten Ambeuge festhielt.
Die ersten sinnlichen Eindrücke des neuen Tages waren sein nackter
bettwarmer Körper und der ganz leichte Schweißgeruch seiner feuchten
Achselhaare. Sie schloß ganz fest die Augen und atmete tief durch . DAS
war das Gefühl unendlicher Geborgenheit, das sie um keinen Preis der
Welt missen wollte.
 
Mein Gott, wie sie dieses
morgendliche Ritual liebte! Wortlos zwar, aber mit der Sprache seines
Körpers bekundete er ihr täglich auf das neue seine Liebe. Wenn er
ihren Körper mit seiner Nase, Zunge und den Händen erkundete und sie
ihn ebenfalls, stumm vor Glück, genoss - um ihm wenig später ihre
Bereitschaft zu signalisieren, mit ihm eins zu sein. Sie fand nicht,
dass hierzu Worte notwendig waren. Sie hatten es mit nonverbaler
Kommunikation zu einer gewissen Perfektion gebracht. Am schönsten und
intensivsten empfand sie den Moment vor ihrem gemeinsamen Höhepunkt,
wenn sie in seine bernsteinfarbenen Augen schaute und damit einen Blick
in die Ewigkeit tat, wie sie meinte.
 
So lief
es immer ab, immer und wieder. Jeder Morgen und jeder Tag mit ihm war
leicht, unkompliziert und voll Sinnlichkeit. Darum hatte sie so lange
gekämpft. Wenn man sie gefragt hätte, wie lange dieser Zustand schon
anhielt, hätte sie nur sagen können: lang - aber noch nicht lang genug.
Es gab nichts, das man fälschlicherweise mit Routine hätte bezeichnen
können. Zeit und Raum spielten, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete
Rolle in diesem Leben. Sie war sich ganz sicher, dass sie diese intensive Zweisamkeit
mit ihm - und nichts wollte sie mehr - verteidigen würde, wie eine
Löwin ihr Junges, bis ans Ende ihrer Tage. Und natürlich würde sie auch
nicht weiter zulassen, dass ein Traum sich zwischen ihn und sie stellte.
 
***
 
Sie
standen vor der Glasscheibe und betrachteten ratlos das sich ihnen
bietende Bild: Ein junger Mann in den Dreißigern saß am Bett einer in
etwa gleichaltrigen Frau, die an die Apparatur der Intensivmedizin
angeschlossen war. Er hielt ihre linke Hand fest umklammert, die Tränen
liefen über sein Gesicht und er stammelte immer wieder verzweifelt
"Komm zurück!" Der ältere Mann vor der Glasscheibe wirkte nachdenklich,
"Sie ist ohne erkennbaren Grund auf schnurgerader Straße mit hoher
Geschwindigkeit gegen einen Baum gefahren. Die Polizei meint es habe so
ausgesehen, als ob sie direkt darauf zugesteuert hätte. Unfassbar." Die
junge Ärztin schüttelte sichtlich erschüttert den Kopf. "Wie ist die
Prognose? Wird sie es schaffen?" Der grauhaarige Arzt sah sie an,"
Wissen Sie, es ist ganz merkwürdig. Trotz der Schwere des Unfalls sind
die Verletzungen, insbesondere die der inneren Organe und des Gehirns,
relativ gering. Aber wir wissen nicht, wann und ob sie aus dem Koma, in
dem sie sich jetzt befindet, jemals aufwachen und zurückkommen wird.
Wir wissen einfach immer noch zu wenig darüber. Es bleibt jetzt ganz
einfach abzuwarten, wer den Kampf gewinnt."

 
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Ursula Köhn-Graeff).
Der Beitrag wurde von Ursula Köhn-Graeff auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.06.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Ursula Köhn-Graeff als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Das Glück wartet online ... von Lisa-Doreen Roth



Den Mann fürs Leben zu finden, kann ganz schön schwer sein. Eigentlich könnte für die dreißigjährige Ina alles so bleiben, wie es ist bis auf eine Kleinigkeit und die nagt an ihr. Wo ist die gesuchte Nadel im Heuhaufen? Sie hat keine Lust mehr länger allein zu sein. Zwar hat sie genügend Freunde, aber wo ist der richtige Mann? Ob sie ihn irgendwann findet, nach den ganzen Pleiten? Bald wird sie dreißig, da haben andere schon Kinder. Langsam wird sie ungeduldig, denn die biologische Uhr tickt. Freundin Nena gibt ihr einen Rat Das Glück wartet online turbulent und unterhaltsam, wie alles von Lisa-Doreen Roth

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Besinnliches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Ursula Köhn-Graeff

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Meine Straße von Monika Klemmstein (Besinnliches)
Das Gespenst von Christiane Mielck-Retzdorff (Lebensgeschichten & Schicksale)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen