Sebastian Wolf
Alltagsterror
Sie stand in Mitten der Traube von Schülern. Früher hatte sie sich noch gehetzt umgesehen und nach einem Fluchtweg gesucht, doch Laura war schon so sehr an die alltäglichen Demütigungen und den Psychoterror ihrer Mitschüler gewöhnt, dass sie die Beleidigungen, die ihr im Moment zugeworfen wurden, kaum noch wahr nahm. Sie musste einfach nur warten bis ihre Schüler genug hatten, dann konnte sie wieder ganz in Ruhe alleine über den Schulhof wandern und den glücklichen Schülern zu sehen, die sich mit ihren Freunden unterhielten, die ganze Zeit lachten und bestimmt nicht täglich mit einem bitteren Gefühl in der Magengrube aufstanden.
Wie ihre vielen Erfahrungen bestätigten, verloren ihre Klassenkameraden nach einiger Zeit die Lust ihr "Schlampe" oder sonstige Begriffe an den Kopf zu werfen und zogen sich mit einem spöttischen, mitleidigen Lächeln zurück. Laura setzte ihren Weg über den Schulhof fort, als wäre nichts gewesen und lehnte sich an die Außenmauer der Schule. Von hier aus konnte sie alle anderen Schüler beobachten und sie musste sich auch nicht andauernd umdrehen, in der Angst, dass ein beleidigender Zettel an ihren Rücken geheftet wurde.
Wann dieser Terror angefangen hatte, wusste Laura schon längst nicht mehr. Mittlerweile war es für sie zu einer schmerzlichen Routine geworden. Während des Schultages versuchte sie so zu tun, als würde ihr das Ganze nichts ausmachen, als würde sie es nicht einmal wahrnehmen, doch wenn sie endlich nachmittags ihre Haustür hinter sich schließen konnte, zitterte ihr ganzer Körper und die Tränen kamen. Doch Schwäche wollte Laura hier in der Schule nicht zeigen, dass konnte tödlich sein, wie sie schon früh gemerkt hatte.
Plötzlich wurde Laura aus ihren Gedanken gerissen, als eine Basketball fast direkt neben ihrem Kopf an die Wand aufschlug und zurück zu seinen Besitzern rollte. Laura registrierte ihre Mitschüler Tim und Leon, zwei von ihren vielen Penigern. Sie machten sich nicht einmal die Mühe so zu tun, als wäre es ein Versehen gewesen, denn die Lieblingsbeschäftigung der Lehrer war es sowieso wegzusehen und Laura ihrem Schicksal zu überlassen. Gröhlend zogen sie von dannen und freuten sich über ihren gelungen Streich, fast so als wäre es für sie die "gute Tat des Tages".
Die Pausenklingel ertönte. Laura schlurfte mit hängendem Kopf zurück zu ihrem Klassenzimmer und setzte sich an ihren Tisch. Eigentlich sollten sich an jeden Tisch zwei Schüler setzen, doch am Anfang dieses Schuljahres hatte sich jeder geweigert sich neben Laura zu setzen. Die Lehrerin, die neu an diese Schule gekommen war, konnte nur hilflos mit den Schulterzucken. Anfangs hatte sie noch versucht Laura in die Klassengemeinschaft zu integrieren, doch als sie erkannte, dass die Anfeindungen nicht nur innerhalb der Klasse, sondern anscheinend innerhalb der ganzen Schule stattfanden, ließ sie es sein.
Laura hatte es nicht überrascht, sie hatte sowieso nicht auf Hilfe gehofft. Jetzt, wo sie an ihrem Tisch saß, kritzelte sie kleine Kreutze, Spritze und Rasierklingen auf ihrem Kieferblock und versuchte die lachende und für sie bedrohliche Menge nicht zu beachten. Auch die Papierkügelchen, die in regelmäßigen Abständen entweder auf ihrem Tisch oder daneben geworfen wurden, würdigte sie keines Blickes. Immerhin war es eine tägliche Prozedur, der sie sich immer unterwarf. Oder besser gesagt, unterwerfen musste. Als sie sich einmal versucht hatte aufzulehnen, hatten ihr die Mitschüler eine noch heftigere Lektion verpasst, eine gemeinsame Prügelaktion gegen Laura, während des Sportunterrichts. Laura erinnerte sich noch gut an die blauen Flecken und Prellungen. Seitdem hatte sie sich nie wieder gewehrt. Vielleicht hätte sie damals zu einem Lehrer gehen sollen, doch angesichts der Hilflosigkeit der Pädagogen, vertraute sich Laura niemandem an.
Grausam langsam glitten die letzten zwei Schulstunden an ihr vorbei. Als die Klingel ertönte, packte sie in Windeseile ihre Sachen zusammen und rannte beinahe aus dem Klassenzimmer, wie immer verfolgt von Beschimpfungen. Den Blicken der anderen Schüler wich sie aus und als sie das Schulgebäude verließ, atmete sie tief aus. Doch noch war es nicht vorbei, der Schulweg stand noch bevor und dort war es auch schon desöfteren zu Zwischenfällen gekommen.
Doch heute war das Schicksal anscheinend gnädig. Unbehelligt erreichte sie ihr Zuhause, schloss die Tür auf und atmete erst einmal ein paar Minuten tief ein und aus. Dann betrat sie das Wohnzimmer. "Überraschung!", riefen ihre Eltern und klatschten in die Hände.
Zuerst war Laura verwirrt, doch als sie das "Happy Birthday zum 13."-Schild an der Wand bemerkte, wurde ihr klar, dass sie ihren Geburtstag vergessen hatte. Seltsam, darauf hatte sie sich früher immer gefreut. Abwechselnd wurde sie von ihren Eltern und ihrem Bruder umarmt und setzte sich danach mit allen an den großen Esstisch. "Wie war dein Tag, meine Süsse?", fragte ihr Vater und lächelte sie warm an. "Wie immer.", Laura versuchte unbefangen zu klingen. Aber es stimmte. Der Tag war wie jeder Andere gewesen. Es würde immer so weitergehen. Laura hatte sich damit abgefunden...
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.06.2005.
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