Miriam Bashabsheh

Verloren

Die gelborangene Sonne fiel sanft durch die bunten Herbstblätter des Kastanienbaums. Ein kühler Wind wehte, so dass Michelle ihr Gesicht in ihrem Schal vergrub. Sie ging auf das große graue Gebäude, genannt Schule, zu. Auf der Tischtennisplatte auf dem Schulhof sass eine Gruppe Jugendlicher. Michelle grüßte ein Mädchen aus ihrem Geschichtskurs mit einem Lächeln. Jede Bewegung die sie tat oder alles was sie sagte, kam ihr vor, als würde sie träumen. Sie hörte die Welt und die Geschehnisse um sich herum nur gedämpft. Und auch das nette „Hallo" ihrer Klassenkameradin kam nur schwer zu ihr hindurch.
Sie setzte sich auf eine Bank in dem großen Foyer der Schule. Es war still in dem Schulgebäude. Keiner außer ihr war in dem Foyer. Sie war alleine mit ihren Gedanken und dankbar dafür. Sonst hatte sie immer das Gefühl, die anderen erahnen ihre Gedanken, wenn sie sie ansehen.
Noch zwei Minuten dann würde es zur Pause klingeln. Ihr wurde schlecht, als sie daran dachte wofür sie heute hier her gekommen war. Natürlich war sie hier zum Lernen, wie es in der Schule nun mal üblich ist. Aber dies hier war nicht die normale Übelkeit bei dem Gedanken an Schule, sondern eine ganz anderer Art.
Sie wusste genau, dies wird schwer zu erklären sein, wenn es überhaupt erklärbar war!
Sie erinnerte sich an die letzten Worte ihres Vaters, der heute morgen gleich nachdem sie aufgestanden war, auf sie gewartet hatte um ihr zu verbieten weiter hin so viel Zeit in der Schule zu verbringen. Er hatte eindringlich gesagt und sie dabei am Arm gepackt :
„Ich hab mir das lange genug angesehen. Jetzt ist Schluß mit ausnahmsweise!" Damit hatte er gesprochen. Daran gab es nichts zu rütteln. Und hätte sie nicht so eine fürchterliche Angst vor ihm, und wäre er nicht ohnehin nicht schon schlecht drauf gewesen, hätte sie vielleicht protestierte. Zuerst hatte sie sich überlegt, ob er Verdacht geschöpft haben könnte. Oder ob er sie mal gesehen haben könnte? Oder ob sie irgend jemand anders, sie zusammen gesehen hat und es ihm erzähl hat? Aber all diese Sachen konnten nicht in Frage kommen, da sie sowieso nie viel weg waren, außer am Fluss oder im Wald sparzieren oder in der Nachbarstadt bummeln, wo sie niemand kannte. Oder war er einfach wirklich schon soweit, dass er dies aus reiner Bosheit tat, weil er sah wie glücklich sie in letzter Zeit war?
Am meisten aufgeregt hat sie, dass er sagte „Schluß mit ausnahmsweise!" So als wäre er der großzügigste Mensch der Erde, weil er erlaubte länger in der Schule zu bleiben!!!
Wie sollte sie Sascha das bloß erklären, dass er es auch versteht??!! Er würde sich darüber aufregen, dass sie es sich einfach gefallen lässt...., dass sie nicht versucht mit ihm zu reden!! Aber er hatte ja keine Ahnung von den Dingen, die sonst bei ihre zu Hause passierten. Niemand wusste das! Und es kann sich auch keiner vorstellen, wie erniedrigend es ist mit fast 18 Jahren immer noch verboten zu bekommen mal zu einer Freundin zum Quatschen oder einfach nur zum Lernen zu gehen!!!!! Und was noch erniedrigender ist, als das alleine war die Tatsache, dass sie nichts tun konnte, denn er hatte so eine Macht über sie .....weil sie diese Angst hatte!!! Sie war wie gelähmt, wenn er auf sie einschrei und ihr Sachen an den Kopf warf, bei denen sie sich überlegte, wie er auf so was komme! Sie wehrte sich selten und auch dann sass sie tränen aufgelöst auf ihrem Bett und wusste nicht wohin mit ihrem Schmerz, denn in solchen Momenten hatte sie niemand! Sie war schlicht und einfach alleine! Auch wenn ihre Schwester sie immer gut gemeint-selber in tränen aufgelöst-sie trösten wollte, konnte sie nicht anders, als sich ihrer zu entziehen. Denn ihre Schwester hatte das selbe Problem wie sie.
Der laute Pausengong holte sie aus ihren Gedanken zurück in die Wirklichkeit. Alles schien ihr wieder klar und deutlich; nicht wie vorhin auf dem Schulhof. Schnell strich sie sich eine Träne von der Wange und machte sich auf den Weg ins vierte Stockwerk.
Dort war ihr Treffpunkt, vor Raum Nummer 455! Fast jede Pause in den letzten vier Wochen hatte sie dort oben mit ihm verbracht. Es wurde ihr etwas wärmer ums Herz, als sie an Sascha und ihre gemeinsame Zeit dachte. Aber im nächsten Moment wurde ihr klar, dass dies nun zur Vergangenheit zählte.
Es bildete sich ein Kloß in ihrem Hals, als er sie verschmitzt anlächelte. „Jetzt nur die Nerven behalten und bloß nicht vor ihm weinen", befahl sie sich und ging auf ihn zu.
„Hi Süße!", begrüßte Sascha seine Freundin und gab ihr ein Kuss. Sie erwiderte den Kuss leicht und erzog sich seinen Blicken. Sofort fragte er sie , ob alles in Ordnung sei und ob was passiert sei.
„Du siehst aus, als hättest du geweint...alles okay mit dir?", erkundigte er sich in einem tröstenden, sanften Ton bei ihr. Zum erstenmal ärgerte sie es, dass er so aufmerksam war.
„Es ist nichts", entgegnete sie ,kaum hörbar für ihn, und senkte den Blick auf ihre Füße. Für einen Moment schwiegen sie. Dann schloss er sie in seine Arme und drückte sie zärtlich an sich. Sie erwiderte die Umarmung und schloss die Augen. Ein letztes mal in seinen starken beschützenden Armen genießen. Sie atmete tief ein, um seinen angenehm vertrauten Geruch aufzunehmen. Alles an ihm würde sie vermissen....nie wieder dürfte sie seine Hände, die sich in ihren Haaren vergruben, spüren.....nie wieder dürfte sie seine Lippen, die sie sanft und begehrend küssten, spüren.....nie wieder dürfte sie das erfahren! Nie wieder durfte sie seine Liebe erfahren! Als sie endlich Vertrauen zu ihm gefasst hatte, wurde diese Band wieder zerrüttet...
Sie merkte wie ihre Augen heiß wurden, sich mit Tränen füllten und drückte schnell ihr Gesicht an seinen Brustkorb. Erst als sie leise schluchzte, merkte er ,dass sie weinte. Mit besorgter Miene schaute er sie an: „Sag‘ mir bitte was los ist!" Sie versuchte ihre Fassung wieder zu erlangen und ging ein paar Schritte von ihm zurück. Als sie sich einigermaßen beruhigt hatte, fing sie an ihm zu erklären:
„Ich hab‘ viel nach gedacht gestern." So begann ihr erster Satz schon mit einer Lüge und sie fühlte sich von Minute zu Minute schlechter. Denn sie hatte ja in Wirklichkeit kein Grund zum Nachdenken gehabt gestern. „Über was genau?", hackte er nach und ging vor ihr auf und ab.
Er ahnte wahrscheinlich was kommen würde, doch er ließ sie weiter reden: „Ich glaube nicht, dass das zwischen uns Zukunft hat...wir sind so verschieden...und außerdem würden mich deine Eltern gar nicht mögen...und ach du bist ganz anders als ich!", fuhr sie leise fort und drehte sich mit den Rücken zu ihm. „Was erzählst du da? Das meine Eltern dich nicht mögen, bezweifele ich stark.... und überhaupt, das hätte dich doch sonst auch nicht gestört...und was ist auf einmal los?? Und was soll das überhaupt heißen?", bittet er um Antwort und berührte sie leicht an der Schulter. Sie fuhr erschrocken zusammen und drehte sich um. Er schaute sie direkt an. „Wir sollten Schluß machen", sagte sie, zu ihrem eigenen Entsetzten, plötzlich völlig kalt und teilnahmslos.
Die Sonne schien von hinten auf ihren Rücken in das Fenster. Ab jetzt lief alles in Zeitlupe ab. Es war wieder wie in einem Traum. Sie sah ihn flehend um Verzeihung an. In seinen Augen spiegelten sich Tränen, die durch das Sonnenlicht seine großen dunkelblauen Augen zum Glitzern brachten. Er schaute sie immer noch an. Sie entzog sich nicht seinem Blick. Sein Blick stach ihr mitten ins Herz wie ein scharfer Dolch. Langsam wandte er sein Blick von ihr ab:
„Du bist diejenige gewesen, die was mit anfangen wollte...und du hast es beendet...bitte schön...ich wollte eh nie richtig!!" Seine Worte drehten den Dolch, der in ihre Brust steckte, einmal schroff um. Er hob sein Rucksack auf und ging die Treppe runter. Sie blickte ihm mit stechendem Schmerz hinter her und konnte ihre Tränen der Verzweiflung nicht zurück halten. Sie hatte ihn verloren! Für immer! Und wieso? Weil sie nicht stark genug war, es durch zu zeihen. Egal wie sehr sie unter den Demütigungen ihres Vaters litt. Sie hätte es für sie tun können. Für ihn und sie!
Sie dachte an das erste Mal, an dem sie am Fluss spazieren waren. Es war einer der letzten warmen Tagen Ende September. Sie hatten sich zufällig getroffen, als er nach seinem Training auf dem Weg nach Hause war. Sie war mit ihrer kleineren Schwester auf dem Spielplatz gewesen. Nie hatte sie erwartet ihn hier anzutreffen. „Hallo...was machst du denn hier?", fragte sie ihn, als er neben ihr auf der Parkbank Platz nahm. Sie schlug ihr Buch zu und wandte sich zu ihm. „Ich hatte gerade Training", antwortete er ihr und schaute auf das Buch auf ihrem Schoß, „was liest du da?" Sie legte das Buch etwas beschämt hinter sich auf die Bank: „Ach, eines meiner Lieblingsbücher....so Kitschkram... mag ich ganz gern..." Sie lächelte ihn verlegen von der Seite an. Er grinste. „Du ruderst?", wechselte sie schnell das Thema, „finde ich sehr interessant. Schon lange?" Sie plauderten ein wenig über dies und das. „Hast du vielleicht später etwas Zeit?", fragte er sie schließlich und sah sie mit süßer Erwartung an. „Ich weiß nicht..", gab sie ihm zurück. Er verzog sein Gesicht in gespielte Enttäuschung. „Obwohl...", meinte sie und sie sagte ihm, dass sie um halb acht noch mal hier her kommen würde ohne ihre kleine Schwester! „Okay..vielleicht sehen wir uns....!", verabschiedete er sich begeistert von ihr.
Nur eine Stunde später wartete sie an dem Spielplatz auf seine Ankunft. Sie hatte sich als Vorwand für ihr noch mal Rausgehen, das Vergessen eines ihrer Schwester liebsten Sandspielsachen, genommen. Das hatte auch sehr gut geklappt, niemand hatte Verdacht geschöpft, zu mal sie die Spielsachen extra dort hatte liegen lassen.
Nach fünf Minuten Wartezeit kam Sascha, mit freudestrahlendem Gesicht, auf sie zu. Sie gingen spazieren. Auch wenn es nur circa 20 Minuten waren, reichten diese vollkommen zum Verlieben. Beidseitig! Sie war ja ohne hin schon in ihn verliebt gewesen. Doch diesmal war es nicht nur sie, die sich um die Liebesgunst des anderen bemühte. Nein, auch sie durfte erfahren, was es bedeutet, nicht alleine zu sein.......gebraucht zu werden.....geliebt zu werden......!
Und nun war alles vorbei und es war alleine ihre Schuld . Denn sie hätte einfach weiter machen können mit den Erzählungen, dass sie lange Schule hätte. Ihr Vater konnte zwar Ärger zu Hause machen, aber es war doch Schule. Doch wie lange wäre das gut gegangen....
Sie plagten Schuldgefühle und starke Selbstzweifel.
Sascha war alles, was ihr geblieben war...und nun war er, der einzige der sie verstehen konnte und verstehen wollte, auch aus ihrem Leben getreten. Aber nur durch ihr Verschulden! Nur durch ihre Schwäche nicht gegen ihren Vater ankämpfen zu können!
Sie ging auf die Treppe zu. Alles vor ihr war verschwommen von ihren Tränen. Alles um sie herum schien zu schwanken, der Boden unter ihren Füßen schien zu entschwinden. Ihre Knie wurden weich und hielten sie nicht mehr. Sie suchte mit der Hand das rettende Treppengerüst, doch ihre Hand faste ins Leere. Ihr wurde schwarz vor den Augen und das letzte was sie hörte, war das dumpfe Geräusch ihres Körpers, wie er auf die Treppe fiel, während Saschas Stimme laut „Nein" schrie. Dann nur noch Stille.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.04.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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