Anna Sieselbst

M.N. Cadore und der venezianische Herbst

 

Die Zeit, in der der Sommer sich verabschiedet und der Herbst einzieht, ist in Venedig am wunderbarsten.

Eine kühle Brise zieht auf und löst den schweren Sommerduft ab, ein Duft durchzogen von Vaporettoabgasen, Schweiß und schmutzigem Wasser.

Die Luft wird  klar, während der Himmel sich in Nebel verhüllt. Das Plätschern des Wassers mischt sich mit dem Lachen der Kinder und dem Plappern der venezianischen Frauen, die immer noch leichte Kleider tragen, dazu ein warmes Tuch über den Schultern.

M. N. Cadore, ein Mann, nicht mehr jung, aber auch nicht alt, nicht mehr schön, aber auch nicht hässlich, ging leise durch eine Calle. Er atmete tief den Duft der schmalen Gasse mit den hohen Häusern ein. Jede Calle roch anders, jede hatte ihren eigenen, unverwechselbaren Duft.

M. N. Cadore sog den Geruch von Mörtel, Orangen und frischer Wäsche auf alten Wäscheleinen ein und ihm wurde das Herz ganz leicht. Seit nunmehr zwanzig Jahren wohnte er in dieser Stadt, und doch erlebte er sie jeden Tag so intensiv, als wäre es der erste.

Beschwingt überquerte M. N. Cadore eine kleine Brücke und wanderte weiter bis zum Marktplatz.  Es wurde kühl und einige Stände wurden bereits abgebaut. Der Käsestandbesitzer nickte M. N. Cadore zu, jeden Tag tat er das, sie kannten sich nicht, und doch sie nickten sich zu, jeden Tag.  

M. N. Cadore setzte sich vorsichtig auf eine Bank, die unter einem Baum stand, welcher seinerseits mitten auf dem Marktplatz gepflanzt worden war. Der Mann strich über den alten Stamm und berührte einige bunte Blätter

„Hallo.“ sagte die Blumenhändlerin und lächelte.

„Hallo.“, sagte M. N. Cadore.

„Die Luft ist gut heute abend, schauen Sie, meine Blumen recken ihre Köpfe noch höher, es gefällt ihnen.“, sagte die Blumenhändlerin und strich über die Blütenblätter, „schauen Sie.“

Er niokte. „Stimmt. Sie sehen tatsächlich noch schöner aus als sonst.“

Ein kühler, salziger Wind fuhr über die Piazza und zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht..

„Wissen Sie, der Herbst bringt die schönsten Blumen, die allerschönsten Blumen. Schauen Sie, dort, die Crysantheme! Wie sie leuchtet!“

M. N. Cadore lächelte. „Sie ist wirklich sehr schön.“

„Es wird dunkel. Ich muss abbauen, helfen Sie mir?“

M. N. Cadore sprang sofort auf. Die Sonne warf lange Schemen, die Blumen sahen auf dem holprigen Kopfsteinpflaster wie große, zerknitterte Sonnenblumen aus und die Schatten von M. N. Cadore und der Blumenhändlerin berührten fast die Häuser auf der anderen Seite des Platzes.

Die Blumenhändlerin schob die letzten Blumenkübel auf ihren Karren , dann zog sie eine große, leuchtende Crysantheme aus einem Kübel und hielt sie M. N. Cadore hin.

„Für Sie. Auf den Herbst, der die schönsten Blumen bringt! Auf Venedig! Auf den Herbst!“

Er nahm die Blume, drückte sie an sich und verabschiedete die Blumenhändlerin mit einem kleinen Lächeln. Sie schob den Wagen rumpelnd davon, ohne sich umzudrehen.

M. N.. Cadore spazierte zurück. Er sog den Duft der Calli ein, drückte dabei eine große, schöne Chysantheme an sich und freute sich wie ein Kind über den kühlen Herbstwind, der seine Kleidung flattern ließ.

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