Markus Matt-Kellner

Guten Morgen Tante Malzer, aufstehen!

 

 

Das Leben hat ein Ende, auch für uns Menschen und das wissen wir. Wann und in welcher Form uns der Tod ereilt, wie die letzte Phase unseres Gastspieles auf Erden aussehen mag, ist nicht voraussehbar und etliche Schicksale sind in dieser Hinsicht sehr hart. Ein Mensch wird alt, nach jahrzehntelangem Tagewerk schwinden die Kräfte. Der Ehepartner stirbt, die Kinder haben eigene Familien, den Beruf und wohnen häufig nicht in der Nähe. Was tun mit der betagten Mutter, die das Bett ohne Hilfe nicht mehr verlassen kann, die sich nicht mehr alleine zu waschen vermag, deren Gedächtnis immer gravierendere Lücken aufweist und deren Ängste ob ihrer Hilflosigkeit unermesslich groß werden?

 

Der unangenehme Entschluss wird gefasst: Mama muss in ein Seniorenheim. Ihr Wunsch war das sicher nicht, doch was soll man machen in einer solchen Situation?

 

 

 

 Sechs Uhr fünfundzwanzig, ich betrete die Männerumkleide eines Pflegeheimes in Deutschland. Hier trete ich heute für unbestimmte Zeit meinen Dienst als Pflegehilfskraft an - Vollzeit, 38,5 Stunden pro Woche; Wechselschichten, mal früh, mal spät und jedes zweite Wochenende Dienst. In dieser Einrichtung arbeiten nur wenige Männer und daher haben diese eine Gemeinschaftsumkleide im abgelegensten Winkel des Hauses, hinter der Küche und gemeinsam mit dem Küchenpersonal; die weiblichen Angestellten haben ihren Raum direkt auf der Station.

 

Sechs Uhr dreißig, ich betrete das Stationszimmer. Am Tisch sitzen vier Kolleginnen, ihr Gruß ist kurz und wenig freundlich. Es wird Kaffee getrunken und den verkrampften Gesichtern ist die Freude auf den bevorstehenden Tag wahrlich anzumerken. Kein Lachen, keine entspannende Bemerkung oder aufheiternde Erzählung. Die Kollegin, welche im Nachtdienst war, fasst kurz die Ereignisse der Nacht zusammen, das sogenannte Übergabegespräch: Salzer hat mehrmals grundlos geklingelt und blödes Zeug erzählt, Treiber zweimal nass, Nordener erledigte ihren Stuhlgang auf dem Fußboden und für Fiorello muss ein richterlicher Beschluss her, dass er nachts im Bett fixiert werden kann, denn er steht immer auf und läuft sinnlos in der Gegend herum, ist auch schon gestürzt.

 

Als neuer Mitarbeiter kenne ich die Namen der Bewohner nicht und diese Art der Übergabe verwehrt mir die Möglichkeit der Unterscheidung des Geschlechtes der „Patienten“, denn es fallen lediglich Nachnamen, ein Herr oder Frau wird nicht vorangestellt; scheinbar hat der alte Mensch mit der Aufnahme in dieses Heim das Recht darauf verwirkt, als Herr oder Frau wahrgenommen zu werden.

 

Sechs Uhr vierzig, Einteilung der Gruppen: Ramona macht Gang eins, Schmitt Baden, Maniküre bei Kastenmaier und bloß aufpassen, dass die Niederauer nicht wieder alles alleine machen will, die wäscht sich zu schlecht. Angela Gang zwei, auf dem Pflegewagen fehlen Waschlappen und geh zuerst zur Ludwig, die muss heute pünktlich fertig sein, weil der Sohn kommt. Na hoffentlich nervt die nicht wieder so mit ihrem ewigen Gejammer. Was ist mit der Prantenau? Ach die, die spinnt sowieso, die nehme ich gar nicht mehr ernst. Markus, Du gehst mit Victoria auf Gang drei. Was ist eigentlich mit Doris? Ist die schon wieder krank? Na klasse, da können wir uns wieder doppelt reinhängen. Außerdem habe ich sie gestern noch gesehen, da sah sie ganz gesund aus.

 

Sechs Uhr fünfzig, alles verlässt den Saal und es geht in den Putzraum, rauchen im Stationszimmer ist verboten. Auf alten Sesseln und einem betagten Sofa sitzen Ramona,23, Altenpflegerin und aus Gera stammend, ledig und hübsch, müde vom Vorabend; Angela, 24, Altenpflegerin aus Chemnitz, die dauergewellten Haare auffällig schwarz gefärbt, jeder Finger ringbehangen und die Haut im Solarium geknechtet; Cordula, 46, ehemalige Bürokauffrau, klein und dick, Piercing in der Nase, punkig rote kurze Haare und mit einem beständig zuckenden Mund - und Victoria, 40, Mutter dreier Kinder, geschieden und in der Ausbildung.

 

Sieben Uhr, es geht los. Victoria schreitet eiligen Schrittes den Gang hinunter und reißt ohne Vorwarnung eine Türe auf. Zack, Licht an und guten Morgen, Tante Malzer, aufstehen. Frau Malzer, die wohl eher nicht Victorias Tante ist, liegt zusammengekauert im Bett und erbittet schlaftrunken noch etwas Zeit zum ruhen. Schlafen kannst Du heute Mittag wieder, jetzt musst Du raus, es gibt gleich Frühstück. Schon schnellen Victorias Arme unter die Achseln der alten Dame und drei Sekunden später steht diese auf wackeligen Füßen vor dem Bett und krallt sich am Nachttisch fest. Nachthemd aus, Windelhose runter, ab in den Toilettenstuhl und geschwind zum Waschbecken. Los mach schon, das Gesicht geht schon noch alleine, ich hole in der Zeit Deine Sachen. Ach Hessilein, auch schon wach. Frau Hess, welche sich das Zimmer mit Frau Malzer teilt, blinzelt mit den Augen und dreht sich vom Licht weg.

 

Sieben Uhr dreißig in der Stationsküche. Im fahl beleuchteten Aufenthalts- Frühstücks- und Fernsehraum nebenan sitzen bereits ein paar alte Damen sowie ein Herr im Rollstuhl. Diese Senioren zählen auf der Station zu den Mobileren, andere können weder ihr Bett verlassen, noch selber Mahlzeiten einnehmen und die dritte Gruppe, jene der geistig noch vollständig orientierten alten Menschen bleibt ebenfalls im Zimmer, weil sie die Atmosphäre im Gemeinschaftsraum nicht erträgt oder aus anderen Gründen keinen Kontakt wünscht. Neben mir schmiert Ramona fleißig Brötchen, ich schlage aus großen Dosen Konfitüre darauf. Kaiser kriegt Diätmarmelade, Treiber normal und geschnitten, der Schmitt kriegt Milch statt Kaffee. Die Rollwagen werden langsam mit Speisen beladen, pro Gang ein Wagen und manchen Bewohnern muss beim Essen geholfen werden. Victoria knotet im Aufenthaltsraum Einmallätzchen aus Papier um alle vorhandenen Hälse und ich beginne dort nun mit dem Austeilen von Frühstück und Tabletten. Frau Salzer ist verzweifelt, sie möchte nach Hause und hofft, dass ihre Großmutter sie bald abholt. Ich reiche ihr Tabletten und ein Getränk, frage begleitend nach ihrer Familie und ihren Kindern, um sie etwas zu beruhigen. Das kannst Du Dir sparen, die läuft eh neben der Kappe, außerdem hat der Stemmer sein Gebiss noch nicht drin und die Nordener will auch noch frühstücken. Frau Zettel möchte wissen, welche Tabletten das sind, die ich ihr gerade eingeben will. Ich habe natürlich keine Ahnung und berufe mich so auf die ärztliche Verordnung. Das scheint sie nicht zu überzeugen, diese aus dem Sudetenland stammende ehemalige Violinistin, welche Bach liebt und viel Wert auf gute Umgangsformen zu legen scheint. Frau Zettel, jetzt schlucken sie ihre Tabletten, sie halten uns nur auf, tönt Angela streng aus dem Off und schon hat sie mir die Tabletten aus der Hand genommen und Frau Zettel in den Mund gesteckt. So, und nun schön nachtrinken, gell...

 

 

 

Eine Woche später, neun Uhr fünfzehn. Mein Pflegewagen steht vor der Tür von Frau Prantenau, einer 98jährigen Dame, welche auf den Rollstuhl angewiesen ist, sich aber Mühe gibt, ihre Tage weitestgehend selbstständig  zu meistern. Während des Ankleidens erzählt sie von ihrem Vater, welcher 1914 im ersten Weltkrieg fiel und sie erinnert sich auch gut an den 15.April 1912, an jenen Tag, an dem vom Untergang der Titanic berichtet wurde; sie war damals acht Jahre alt...

 

Ich betreue mittlerweile meinen eigenen Gang und kenne die Bewohner inzwischen recht gut. Gang betreuen heißt vor allem die Grundpflege der alten Menschen leisten und die Bewohner mit Tabletten sowie Mahlzeiten versorgen. Die Minuten der morgendlichen Pflege sind für die Senioren oft die einzige Zeit am Tage, in welcher sich für einige Minuten jemand in ihrem Zimmer aufhält und beinahe jeder Bewohner hat ein Bedürfnis nach Kommunikation, selbst wenn er bettlägerig und geistig nicht mehr orientiert ist. Ich spreche gerne mit den alten Menschen und erfahre viel von ihnen; die Unterhaltungen finden naturgemäß in der Hauptsache während der Pflege statt, aber ich gebe zu, dass ich manches Mal fünf Minuten angehängt habe, um nicht unsanft unterbrechen zu müssen. Niemand verbringt seinen Lebensabend gerne in einem Altenheim, in einem Zimmer, welches er/sie sich in aller Regel auch noch mit einem anderen alten Menschen teilen muss und etliche individuelle Bedürfnisse der Bewohner können aus zeitlichen Gründen ohnehin nicht berücksichtigt werden. Ein paar Minuten Gespräch zwischendurch, das ist das Mindeste, was man wirklich gewährleisten sollte und es lässt sich einrichten, ohne dass die Organisation einer Pflegestation zusammenbricht. Christina und Elif, mit denen ich anfangs ebenfalls „mitgelaufen“ bin, machen das auch so und ihre Pflegebereiche sind deshalb nicht schlechter geführt als die anderen.

 

 

 

Weitere vierzehn Tage sind vergangen, die Stimmung unter den Kolleginnen ist miserabel. Wer gerade dienstfrei hat oder nicht am Frühstückstisch sitzt, ist grundsätzlich Gegenstand wenig wohlgesonnenen Geschwätzes und besonders eingeschossen hat man sich auf erwähnte Elif, Türkin und Ende dreißig, zu langsam und zu freundlich im Umgang mit den Bewohnern, durchgefallen. Überhaupt spielen die Erfüllung der Pflegestandards und besonders das Arbeitstempo eine herausragende Rolle auf dieser Station. Wer schnell arbeitet und stets die richtigen Windeln verwendet, ist ein kleiner Star. Steht der Pflegewagen allerdings zu lange vor einer Türe, kann etwas nicht stimmen. Es ist uninteressant, wie die alten Menschen hier ihre Pflege erleben, ob sie rüdes Schrubben des Körpers, rücksichtsloses Zerren an Armen und Beinen, rauen Umgangston und menschliches Desinteresse als Demütigung oder gar Gewalt empfinden; entscheidend ist allein, ob Hygiene und Nahrungsaufnahme erledigt sind. Hinterrücks kommt mir bisweilen zu Ohren, auch ich sei zu langsam und immer wieder höre ich Kolleginnen über andere hetzen. Es findet keine gegenseitige Unterstützung statt in dieser Truppe, man ist nicht füreinander da in diesem psychisch wie physisch belastenden Job, es gibt keine Solidarität. Das ständig angespannte Gesicht von Rita, der Stationsleitung, wirkt stets der Verzweiflung nahe, Unlust auf hohem Niveau ist aus ihren Gesten zu lesen. An den pittoresken Unterhaltungen über abwesende Kolleginnen beteiligt sie sich sachkundig und engagiert.

 

 

 

Im zweiten Monat bin ich nun hier tätig und ich komme nicht mehr gerne zum Dienst. Wären nicht die alten Menschen, die mir mehr Freude als Arbeit machen, wäre ich sicherlich schon nicht mehr da. Mit einigen der Betagten verbindet mich inzwischen eine Art wechselseitiger Solidarität; komme ich morgens zum Waschen in ihre Zimmer, hat die Atmosphäre etwas von einem Besuch zu Kaffee und Kuchen und man erzählt sich in wachsender Offenheit von den Widrigkeiten des Alltages auf dieser Station. Die Frühstückspause verbringe ich kaum noch mit den anderen im Stationszimmer, den Putz- bzw. Rauchraum betrete ich gar nicht mehr. Ich ertage die Stimmung unter den Beschäftigten nur noch schwer. Zudem habe ich mittlerweile eine besondere Freundin in der Belegschaft gefunden, nämlich die punkige Cordula, die untersetzte kleine Dame mit den nervösen Mundwinkeln. Sie ist eifrig auf Dauersuche nach meinen Sünden und wird immer wieder fündig. Mal habe ich ein Kotfleckchen auf einem Bettbezug übersehen, dann wieder eine Einlage in falscher Größe gewählt. Oder ich war morgens eine Minute zu spät, habe vergessen, Waschlappen auf dem Pflegewagen nachzufüllen oder Frau Dremmler die Windel angeblich schief untergelegt. Selbstverständlich teilt sie solcherlei Verfehlungen nicht mir selber mit, sondern der Stationsleitung, welche gerne günstige Momente wie Übergabegespräche abwartet, um vor breitem Publikum meine Fähigkeiten in Frage zu stellen. Diese immerwährende Beschattung setzt mit zu; ich habe Angst, Fehler zu machen und freue mich auf jeden Dienst ohne Cordula.

 

 

 

Dritter Monat, Zeit des Abschiedes. Ich habe mich entschlossen, dem Experiment Altenpflegehilfskraft mit Ausbildungsoption ein Ende zu setzen. Es geht nur um Kündigungsfristen, ich möchte so schnell wie möglich weg. Es ist nicht einfach, das Leid der alten, oft einsamen Menschen zu sehen, die dem Rest ihrer Tage in wachsendem Maße hilflos ausgeliefert in einem Seniorenstift fernab ihrer gewohnten Umgebung verbringen müssen. Manchmal habe ich schlecht geschlafen und geträumt, weil mich die Bilder nicht losließen: Frau Ludwig, 92, Tag und Nacht im Bett, aber selten in Ruhe und Schlaf. Sie ruft ständig um Hilfe und bittet jeden, der an ihrer (offenen) Tür vorbeigeht, zu ihr hineinzukommen und bei ihr zu bleiben. Oder  Herr Fiorello, welcher mit einem Fixierungsgurt in seinem Rollstuhl festgeschnallt durch die Gänge stampft und mich einmal gefragt hat, wie er zur Beerdigung kommt. Auf meine Frage, um welche Beerdigung es sich denn handele, sagte er beinahe verschmitzt, es ginge hier um seine eigene Beerdigung, aber ich solle es niemandem weitersagen.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.06.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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