Silvia Pree

Meine böse Stiefmama

Gisi schloss die Lehrertür hinter sich.
Leicht abwesend schob sie Michaela vor sich Richtung Ausgang.
Michi verspürte ein flaues Gefühl im Magen.
Gisi hatte noch immer nichts gesagt.
Michi spürte wie sie selbst zu schwitzen begann.
So hatte sie sich das nicht vorgestellt.
Angi und Claire standen im Schulhof.
Sie winkten ihr, aber Michi konnte sich nicht darüber freuen.
Es wäre so leicht gewesen sie zu hassen.
Gisi.
Wenn sie explodiert wäre.
Aber sie  war völlig ruhig geblieben.
Michi erinnerte sich fassungslos an Gisis Lächeln.
Wie sie der Lehrerin, Frau Grasser, ins Gesicht gelacht hatte…
Schließlich standen die beiden bei Gisis Auto, einem weißen Mazda.
Gisi legte die Jacke hinein und stellte die Parkuhr um.
So, und wir zwei setzen uns jetzt noch ins Cafe dort vorn, ja?
Auf einen Kakao.
Michi zuckte zusammen.
Sie hatte es ja geahnt.
Gisi würde das nicht so einfach hinnehmen…
Michi fühlte in ihrem Bauch einen schweren Stein.
Schwungvoll öffnete Gisi die Tür.
Michi schwankte langsam nach…
Vieles ging ihr durch den Kopf.
 
Vor einem dreiviertel Jahr hatte ihr Vater wieder geheiratet.
Gisela.
Ja, Gisi.
Diese unmögliche Frau hatte sich einfach in ihr Leben gedrängt.
So glücklich waren sie zu dritt gewesen.
Papa, David, ihr kleiner Bruder und eben sie.
Michi.
Wie konnte Papa nur auf Gisi hereinfallen!
Die so ganz anders war wie Mama.
Mama, die so früh sterben hatte müssen.
Ein Autofahrer hatte sie übersehen.
Sie, Michi, hatte gedacht, sie würde nie wieder lachen können.
Beim Begräbnis hatte es geregnet.
Zu dritt waren sie vorn beim Grab gestanden.
David hatte nur geweint.
Was begriff er schon mit seinen fünf Jahren!
Damals war ein starkes Band zwischen ihr und Papa geknüpft worden.
Unzerreißbar, hatte sie gedacht.
Bis Papa angefangen hatte, sich mit Gisi zu treffen.
Wie konnte er nur!
Mama einfach vergessen…
 
Gisi nahm Platz an einem der hinteren Tische.
Michi setzte sich dazu.
Sie fühlte sich schuldig.
Was wohl Papa sagen wird?
Innerlich duckte sie sich.
Wie ein Hund, der die Prügel schon spürt.
Bevor er sie bekommt…
Was magst du?
Gisi klang ganz freundlich.
Eine Cola?
Oder auch einen Kakao?
Michi entschied sich für die Cola.
Gisi legte ihre Handtasche auf den Tisch.
Die Autoschlüssel lagen gleich daneben.
Die Serviererin notierte die Bestellung.
Eine fröhliche Melodie erfüllte den hableeren Raum.
Michi versuchte sich zu konzentrieren.
Wie hieß doch gleich der Sänger?
Es fiel ihr nicht ein!
Gisis amüsierter Blick fiel ihr nicht auf.
 
Von Anfang an waren zwischen Gisi und ihr die Fetzen geflogen.
Michi hasst Gisi.
Michi hasste ihren Vater.
Die Liebe zu seiner neuen Frau war unverkennbar.
Und Michi hasste ihren Bruder.
Mit fliegenden Fahnen hatte er sich auf die Seite seiner neuen Mutter geschlagen.
Sie verwöhnte ihn mit Süßigkeiten.
Kälte schlich in Michis Herz, wenn sie abends beobachtete, wie David mit Gisi kuschelte.
Sie verstand ihn nicht.
Und sie verstand ihren Vater nicht.
Aber ihr konnte man nichts vormachen.
Sie, Michi, hatte Gisi durchschaut.
Von Anfang an.
Und diese Frau hatte nichts anderes im Kopf als sie zu ärgern.
Etwa beim Kauf der neuen Brille.
Nicht die coole Fassung durfte es sein.
Nein.
Gisi bestand auf dem mickrigen Modell, das sie jetzt tragen musste.
Sie wollte ja, dass sich die Mitschüler über sie, Michi, lustig machten.
Aber Papa war nicht auf ihrer Seite.
Das tat am meisten weh.
Weil er diese Frau liebte.
Er hatte ihr das einmal gesagt.
Sanft und ganz ruhig.
Und Michi hatte in diesem Moment sterben wollen.
Papa verriet Mama!
 
Die Serviererin brachte den Kakao und die Cola.
Gisi zahlte.
Bedächtig zuckerte sie das Getränk.
Rührte um.
Nahm einen ersten, vorsichtigen Schluck.
Der Milchschaum klebte an ihrer Oberlippe.
Michi musste schmunzeln.
Und verbiss es sich gleich wieder.
Gisi stellte die Tasse wieder hin.
Ich werde dir einen Nachhilfelehrer besorgen.
Ein Schulkollege von mir ist Lehrer.
Er ist nett.
Und der wird dir über deine Probleme in Mathe hinweghelfen.
Deine Lehrerin, die Frau Grasser, ist ja wirklich keine Offenbahrung.
Lernt bei der überhaupt irgendjemand was?
Michi zuckte zusammen.
So unmittelbar angesprochen.
Dann schüttelte sie den Kopf.
Ich glaube nicht.
Michi fühlte sich weiter nicht wohl in ihrer Haut.
Sie wartete auf das Donnerwetter.
Aber es kam nicht.
Wollte Gisi mit ihr Katz und Maus spielen?
Michi musste wieder an letzten Montag denken.
 
Der dritte Fünfer in diesem Jahr in Mathe.
Mit Papa hätte sie, Michi, darüber reden können.
Aber Papa war auf Montage.
Würde erst in zehn Tagen wieder heimkommen.
Zu spät um es ihm zu erklären.
Viel zu spät…
Bei Davids Geburtstagsparty schlich sie sich einmal weg.
In dem Getümmel fiel es nicht auf.
In der Hand eine Notiz von Gisi.
Von ihr unterschrieben.
Michi versuchte diese Unterschrift auf den Schularbeitenbogen durchzupausen.
Das war gar nicht so einfach.
Und es sah auch nicht besonders echt aus.
Egal.
Aber Frau Grasser hatte heftige Bedenken.
Ich bin davon überzeugt, dass das nicht dir Unterschrift deiner Stiefmutter ist.
Das werden wir gleich überprüfen.
Ich werde sie anrufen und hereinbestellen.
Du Früchtchen!
Gisi war gekommen.
Im Lehrerzimmer wartete Frau Grasser.
In ihrem Gesicht schwang eine Mischung aus Triumph und Bosheit.
Frau Gruber, ich möchte, dass Sie mir sagen, ob diese Unterschrift von Ihnen ist.
Michi hatte den Kopf gesenkt.
Am schlimmsten war wohl die Häme von Frau Grasser.
Diesem Scheusal.
Wo liegt das Problem?
Gisis Stimme war völlig ruhig.
Ich glaube ich versteh nicht ganz, weshalb ich von der Arbeit wegmusste.
Frau Grasser öffnete den Mund.
Wollen Sie ernsthaft behaupten, dass das ihre Unterschrift ist?
Gisi lachte leicht belustigt.
Von wem denn sonst?
Frau Grasser rang nach Luft.
Aber ihre Unterschriften sehen auf den anderen Bögen ganz anders aus.
Ich habe mir das rausgesucht.
Sehen Sie….
Gisi schüttelte den Kopf.
Ihre Stimme klang energisch.
Ja, wollen Sie mir einreden, dass Ihre Unterschrift immer gleich aussieht?
Das einzige, das man dieser Unterschrift ansieht, ist, dass ich es eilig hatte.
Ich bin berufstätig, genau wie Sie.
Ich werde nicht für Schönschrift bezahlt.
Wollen Sie mir noch länger meine Zeit stehlen?
 
 
Michi starrte ihre Cola an.
Sie hatte noch nichts getrunken.
Es tut mir leid.
Eine Träne rollte über ihre Wange.
Gisi sagte zunächst nichts.
Legte dann ihre Hand auf Michis Arm.
Die Grasser ist schon ein rechter Drachen…
Jetzt nimmst du mal Nachhilfeunterricht.
Und dann zeigst du es dieser Person, ja?
Gisi nahm einen Schluck vom Kakao.
Ich kann dich nicht zwingen dazu.
Es liegt ganz an dir.
Aber manches wäre einfacher, wenn du gleich zu mir kommen würdest.
Für uns alle.
Ich habe noch niemanden gebissen.
Und dein Vater nimmt die vielen Monatageaufenthalte viel leichter, wenn auch ohne ihn daheim alles läuft.
Verstehst du?
Michi nickte.
Sie verstand.
Und der schwere Stein in ihrem Bauch löste sich auf.
In nichts.
Eigentlich war ja auch die neue Brille gar nicht so uncool…
 
 
Vivienne

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.06.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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