Harald Hillebrand

Besprechungsprotokoll vom 12. 08. n. Chr.

Hier: Irgendeine Behörde
 
 „Mein Gott!“, entfuhr es Werner Kalmbach. Die Lehne seines Stuhls half ihm, sich aufrecht zu halten und ein Glucksen zu unterbinden. 
Donald Schwellnus hatte seinen Einwurf offenbar nicht registriert. Er akzentuierte weiterhin mit der rechten Hand. Den Kopf vorgeschoben, die Stirn gekraust; die linke Hand kraftvoll auf der Tischplatte aufgestützt: „Ich möchte, dass Sie verstehen: ich als Führungskraft muss das Bedürfnis haben!“ Er hob den Finger. „Ich muss das Bedürfnis haben, mich zu waschen. Täglich!“
 Im Besprechungsraum wurde genickt.
 „Ich weiß natürlich, …“ Zeigefinger! Stirnrunzeln! Sein Blick schweifte nach links zu Trude Raufuß, die ihre Füße schnell unter dem Stuhl verschränkte, „dass ich mit meinen Führungskräften niemals solche Probleme hatte. Aber das genügt mir nicht!“
 Die Sonne schien Werner Kalmbach in die Augen. Er blinzelte, senkte den Kopf. Der Kugelschreiber war heute besonders blau. Passend zu Trudes Augen und ihrem lang geschlitzten Kleid. Sehr praktisch, diese kreisförmige Anordnung der Tische, fand er.
 „Es muss meinen Führungskräften ein Bedürfnis sein, dass auch meine Mitarbeiter im Team sich täglich waschen. Denn es kann doch nicht sein …“
 Werner duckte sich. Es war ihm so vorgekommen, als wäre die Stimme mit einem besonderen Hall von oben gekommen, durch die Betondecke hindurch. Er schaute nach oben: eine weiße, ganz normale Decke. Doch die Neonleuchten strahlten ein unirdisches Licht aus.
 „… dass Mitarbeiter meines Hauses stinken und rülpsen!“
 „Das stimmt“, sagte Nico Case dazwischen. „Es sind nur 32 Grad in den Büros. Was soll denn die afrikanische Bevölkerung sagen, die in der Wüste bei 50 Grad lebt?“
 Werner fand, dass Nico heute besonders strahlend aussah. Seine Brille funkelte. Der Chef sah zu ihm hinüber, anscheinend ein wenig irritiert. Doch er fing sich.
 „Richtig, Herr Case, sehr richtig. Diese Afrikaner müssen doch weitaus mehr schwitzen … in ihren langen Umhängen. Außerdem reflektiert die weiße Haut des Europäers Sonnenstrahlen viel besser!“ Dazu nickte er. Ein Nicken, das wohlwollend wirkte. Jedenfalls auf Werner. Nico strahlte noch mehr, lehnte sich zufrieden zurück. Werner sah den Schalk in dessen Augen und musste sich räuspern, um ein erneut aufwallendes Glucksen zu überspielen.
 Heinrich Herold, seit 45 Jahren im Dienst für sein jeweiliges Vaterland, räusperte sich ebenfalls und äußerte seine Absicht, etwas zu sagen. Dann fuhr er fort: „Ja, meine Damen und Herren, Herr Schwellnus hat durchaus Recht. Vor allem geht es nicht an, dass Wünsche nach kurzen Hosen geäußert werden.“ Er hob nicht den Finger. Er hob die linke Hand. „Stellen Sie sich das vor, meine Damen und Herren, in einem Büro … ein Mitarbeiter einer Behörde … ungeduscht und in kurzen Hosen! Das ist ein Skandal!“
 Werner fühlte einen Schwindel in sich aufsteigen, als er sah, wie Herr Schwellnus blass wurde.
 „Nein, Heinrich, das sehe ich anders. Aber wir müssen hier unterscheiden: Die Mitarbeiter unseres geschätzten Hauses müssen sich täglich duschen, dass es nicht riecht! Und meine Mitarbeiter dürfen eine kurze Hose tragen, doch sie muss proper aussehen, keinesfalls – ich betone – keinesfalls poppig!“ Mit vorgerecktem Kopf schaute er zur Mitte des Raumes.
 Werner glaubte zu sehen, wie Herr Schwellnus wieder Platz nahm, und erschrak heftig: Rudolf Zart, zu seiner Rechten, meldete sich zu Wort. Ungläubig sah Werner zu, wie Herr Zart unruhig die Breite der Stuhlsitzfläche ausmaß.
 „Ja, also, jeder hier im Raum hat sicher eine Vorstellung davon…“ Linker Rand der Sitzfläche, „wie eine solche – ich möchte einmal sagen – Kurzhose beschaffen sein muss. Aber hat nicht …“ Rechter Rand. Eine Arschbacke hing schon halb über! Gleich … nein. „Aber hat nicht ein Jeder eine andere Vorstellung von einer passenden Kurzhose? Darf ich dann – sollte ein Mitarbeiter mit einer poppigen Kurzhose über den Flur gehen – ihn ansprechen? Woher weiß ich, ob diese Kurzhose – wie kurz ist sie eigentlich, wenn sie eine Kurzhose ist? – poppig  oder proper ist? Ich empfinde diese Unsicherheit in Sachen Kurzhose … unerträglich. Wie soll ich mich entscheiden?“ Vorderkante der Sitzfläche. Rücken durchgedrückt. Unterarm auf der Tischplatte. Gerötet im Gesicht, rot wie sein Schlips.
 Werner legte seinen Kugelschreiber zur Seite. Er empfand es als schwierig, Herrn Schwellnus und Herrn Zart gleichzeitig im Auge zu behalten. Also schob er seinen Stuhl zurück, erweiterte seinen Blickwinkel und nickte wissend. Doch es kam noch besser.
 „Und dann wäre da noch die Sache mit den Obersachen“, platzte Dorothea Keck dazwischen. „Ich finde es eklig, wenn manche Männer ihre behaarten Schultern oder Brust zeigen. Sind wir hier denn im Zoo?“ Ihr nackter Fuß schlüpfte wippend aus der Sommerpantolette. Ihre rot lackierten Fußnägel krallten sich in den Teppichboden. Dann hob sie einen Fuß hinter die Wade des anderen und scheitelte das dunkle Beinhaar. Ihre Hände unter dem Tisch, Werner sah es mit Unbehagen, lüpften das luftige Sommerkleid ein wenig und wedelten sich Luft zu. Im gleichen Moment fand einer ihrer Spaghetti-Träger seinen Weg nach unten.
 „Diese Problematik ist mir ebenfalls wichtig“, sagte Herr Schwellnus, dem die Diskussion offenbar zu entgleiten drohte. „Lassen Sie uns also bei der Oberbekleidung bleiben. Denn die kurzen Hosen halte ich für nicht ganz so wichtig. Hier ist es ja damit getan, dass meine Führungskräfte darauf achten – genau wie Herr Case im vorigen Sommer – dass sie immer eine Langhose im Schrank haben. Für den E-Fall sozusagen. Nun, meine geschätzten Führungskräfte, ist es durchaus nicht so, dass jeder eine lange Hose im Schrank haben muss!“
 Werner schrak auf. Nicht? Aber das ging doch nicht! ‚Zart soll meine Hose nicht bekommen – nicht einmal im E-Fall’, dachte er und sah sich verstört um. Doch das Thema war anscheinend schon erledigt. Verdrossen sah er zu, wie Herr Case eifrig notierte. Wahrscheinlich errechnete er den Prozentsatz der Führungskräfte und Mitarbeiter, die eine Langhose im Schrank haben mussten. Oder stellte er schon eine Liste zusammen – namentlich -, wer wessen Langhose mittragen durfte? Nein, das ging doch so nicht. Aber gab es eine Möglichkeit? Konnte er dem entkommen? Werner lockerte seinen Kragen. Die Luft war stickig. Es stank nach unbeduschtem Schweiß.
 Werner rang nach Luft. Langsam und ein wenig wacklig erhob er sich. Sein Stuhl fiel polternd zu Boden. Auf dem Weg nach draußen stieß er sich zuerst die eine, dann die andere Hüfte. Der Raum verschwamm vor seinen Augen. Seine Langhose klebte an den Pobacken, seine Füße in den gelackten Halbschuhe kästen. Ein Rinnsal kitzelte den Rücken.
 Vor der Tür ging ihm das Licht aus und tief in seinem Innern träumte er von behaarter Haut.
 
 ©Harald Hillebrand (August 2004)

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.06.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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