Hans-Peter Zürcher

Dampfschifffahrt

30. Dezember 2004

Es war ein schöner, nicht all zu heisser Sommertag, als mich Grossvater am späteren Vormittag aus dem Kindergarten holte. Fräulein Looser, so hiess unsere Kindergärtnerin, verabschiedete sich von uns, nachdem Grossvater einige Worte mit ihr gesprochen hatte und wünschte uns einen schönen Ausflug.

Grossvater war sommerlich Gekleidet, das Hemd offen, die Ärmel hochgekrempelt und darüber ein schwarzes Gilet samt silbener Uhrenkette inklusive Taschenuhr. Im anderen Gilettäschchen steckte immer eine kleine Blechdose mit Sprungdeckel. Auf dem Deckel war ein Bild von Wilhelm Tell dargestellt und der Doseninhalt bestand aus Wybertli.  Ein Sommerhut, eine braune lederne Umhängetasche und der obligate Spazierstock gehörten ebenfalls zu seiner Ausrüstung und durften nicht fehlen.

Als wir von der Unten Fabrik den Berg hinauf Richtung Kreuzweg liefen, sagte Grossvater " du musst heute nicht mehr in den Kindergarten, wir fahren an den Bodensee und machen eine schöne Schifffahrt ". Dies war etwas völlig neues für mich und ich fragte etwas unsicher, ob denn meine Mutter auch bescheid wisse. " Selbstverständlich " meint Grossvater. Nun war ich beruhigt und freute mich auf das, was da kommt.

Bereits die Zugfahrt nach Rorschach war für mich ein grosses Erlebnis. Ich durfte am Fenster sitzen und Grossvater erklärte mir laufend die an uns vorbeiziehende Landschaft. Höhepunkte der Fahrt waren sicher der Gübsensee, den ich bereits  von Spaziergängen her kannte, die hohe Sittertobelbrück von der aus der Säntis wunderschön gesehen werden kann, wie auch die vier anderen Brücken, die über das Tobel gespannt sind. Wenn man nach rechts schaut, sieht man die sehr hohe und ganz aus Eisen gebaute Fussgängerbrücke über die Sitter, auch " Gangelibrogg " genannt, weil sie, wenn man auf ihr läuft, erheblich schwankt und schaukelt. Dann tief unten, kurz vor dem Zusammenfluss von Sitter und Urnäsch eine alte gedeckte Holzbrücke, dann weiter auf der linken Seite die kombinierte Eisenbahn - und Fussgängerbrücke der SBB und zum Schluss noch die Strassenbrücke aus Beton. In St. Gallen mussten wir umsteigen, sonst wären wir in Romanshorn gelandet. Aber in Rorschach mussten wir, um zum Hafen  zu gelangen,  noch ein weiteres mal umsteigen.

In Rorschach - Hafen angekommen, ging's erst einmal ins Bahnhofbuffet. Dies befand sich im ersten Stock vom Bahnhofgebäude, direkt über den Geleisen. Die grossen Fensterscheiben waren geöffnet und man hatte einen schönen Blick über den Hafen und den See, aber auch auf die Bahnanlage. Grossvater bestellte, nachdem er die kleine Speisekarte studiert hatte, ein dreier Rotwein und das Mittagsmenü , für mich einen Himbeersirup mit einem zweiten Gedeck.

Draussen vor dem Bahnhof herrschte derweilen ein reges Treiben, Güterwagen wurden mit dampfenden, schnaubenden Dampflokomotiven verschoben, Gepäckwagen wurden ent - und beladen und Fahrgäste stiegen um, ein, oder aus. Denn hier kommen drei Bahnlinien zusammen, nämlich die SBB - Linie von Schaffhause - Kreuzlingen - Romanshorn, die SBB - Linie von Zürich - St. Gallen und die Rorschach - Heiden - Bahn. Auch ein Postauto mit Gepäckanhänger stand bereit, um Fahrgäste aufzunehmen.  Vom See her wehte ein leichter Wind und es roch nach Seewasser, wenn nicht gerade eine Dampflok vorbei fuhr. Dann kamen für kurzen Moment noch Düfte von verbrannter Kohle, Schmieröl und Russ dazu. Auch im Hafen und draussen auf dem See war einiges los, gerade lief ein grosses Motorschiff ein, kleine Ausflugsboot und Ruderboote, aber auch Segelschiffe, welche vom leichten Wind angetrieben wurden, kreuzten auf dem See.

Nachdem wir gegessen hatten und die Rechnung von Grossvater bezahlt war, meinte er, dass ein kleiner Spaziergang dem See entlang noch gut wäre und wir könnten dabei noch ein bisschen dem Treiben im Hafen, auf dem See, und im Rangierbahnhof zuschauen. Und  da war auch einiges los. Für mich war das alles neu, denn ich war noch nie auf einer so grossen Reise und am Bodensee. " Nun wird es aber Zeit, dass wir zum Hafen gehen, sonst fährt das Schiff ohne uns ab ", meint Grossvater. Und schon hörten wir ein lautes tiefes Pfeifen ". Schau, da kommt sicher unser Schiff durch die Hafeneinfahrt ". Eine riesig grosses, rauchendes Dampfschiff mit grossen seitlichen Schaufelrädern bewegt sich Richtung Schifflände, wo sich bereits eine grosse Anzahl Menschen, darunter auch eine Schulklasse mit grossen Kindern, zum einsteigen bereitgestellt haben.

Das Landemanöver war ein Schauspiel für sich und flösste mir auch entsprechend Angst ein. Denn es zischte und dampfte nicht nur aus dem grossen Kamin, sondern auch aus den seitlichen Schaufelradkästen und Wasser spritzte und schäumte rund ums ganze Schiff auf. Das Dampfschiff war wirklich riesig gross, hatte nebst dem mächtigen Kamin zwei grosse Rettungsboote, viele Masten, viele Seile und hinten eine riesige Schweizerfahne . " Fährt das Schiff nach St. Gallen " fragte ich Grossvater und zeigte auf den Schaufelradkasten, auf dem  in grossen Buchstaben < St. Gallen > stand. " Nein, das ist der Name vom Dampfschiff " meinte Grossvater, "wir machen eine grosse Rundfahrt und werden dann in Romanshorn wieder aussteigen ". Wenn das Schiff bis dahin nicht untergegangen ist, ging es mir durch den Kopf. Ganz oben auf der Kommandobrücke stand ein Mann, Grossvater meinte, es sei der Kapitän, der irgend welche Befehle in ein grosses Rohr hinein spricht.

Mit einem lauten, ohrenbetäubendem Pfiff  machte sich das Schiff nochmals akustisch bemerkbar und die Angst in mir wurde noch grösser. Ich nahm Grossvaters Hand und hielt sie so fest, wie ich nur konnte ". Wenn das Schiff denn untergeht und wir ertrinken, bist du daran schuld " sagte ich zu Grossvater und gab noch weiter dazu " dann kannst du das denn heute Abend der Mutter erzählen "! aber er gab nur gelassen zur Antwort " hetocht, da wird sicher nichts passieren, wirst dann schon sehen wie schön es auf einer solchen Schiffsreise ist ". Also nahm mich Grossver an die Hand und stieg mit mir über einen Steg auf dieses grosse Ungetüm, ob wohl mir dazu eigentlich der Mut fehlte.

Das Schiff kam mir auch von innen unendlich gross vor. Wir haben uns vorne auf dem Oberdeck unter dem Sonnenzelt hingesetzt. Ich klammerte mich immer noch krampfhaft am Grossvater fest und erschrak ziemlich ab einem noch lauteren Pfiff.  " Jetzt geht’s los " meinte Grossvater, und fügte hinzu " wenn wir dann aus dem Hafen auf dem offenem See sind, schauen wir zusammen das Schiff an und zwar von Oben bis Unten ". Das Schiff  bewegte sich nun vibrierend rückwärts, rüttelte und schüttelte, zischte und dampfte so heftig, dass mir ganz mulmig wurde.  Hast immer noch Angst " ? fragt Grossvater " wirst sehen, so eine Schiffsfahrt ist wunderschön, und wenn wir das Schiff angeschaut haben, werden wir im 1. Kl. Salon ein feines Glacé essen ". Rund ums Schiff herum kreisten kreischend Möwen. Wir hatten nun abgedreht und fuhren in stetig stampfenden Rhythmus vorwärts. Ich glaube, dass ich mich ein wenig beruhigt hatte. Das hatte auch Grossvater bemerkt, und meinte: " siehst du, jetzt gefällt es dir schon besser, komm, wir inspizieren jetzt unser Schiff und schauen uns alles an", also nahm er mich an der Hand und wir zogen los.

Kaum waren wir im Innern, kam uns der vermeintliche Kapitän entgegen, begrüsste uns und sagte zum mir " willst du einmal mit mir ganz nach oben kommen ? " und bevor ich antworten konnte, hatt er mich bereits auf den Arm genommen. Ich schaute Grossvater fragend an, er lächelte nur und nickte, und ohne dass ich etwas erwidern konnte stieg der Kapitän mit mir die Leiter hoch. Wir waren jetzt zu oberst und da befand sich auch die Kanzel mit dem komischen Rohr. Er nahm einen Deckel ab und meinte, dass ich " hallo " hinein rufen soll, was ich auch machte und es kam prompt ein hallo zurück. " Über dieses Rohr, man nennt dies ein Sprachrohr,  kann ich mit dem Maschinisten reden, der zu unterst im Schiff ist und nicht sieht, wohin wir fahren. Auf der anderen Seite ist ein gleiches Sprachrohr. Diese werden vor allen beim an - und wegfahren von Haltestellen benutzt. Und in dieser Kabine in der Mitte steht der Steuermann, der das Schiff steuert ". Wir betreten, das heisst, eigentlich nur der Kapitän, denn mich trug er immer noch auf dem Arm, das Steuerhaus. Ich staunte nicht schlecht, da waren gleich zwei fast mannshohe Steuerräder vorhanden, nämlich eins nach vorn für die Vorwärtsfahrt und eins nach hinten für die Rückwärtsfahrt, wie mir erklärt wurde. Da waren aber noch weiter Sachen, die man Instrumente nennt. Ob denn auf denen Musik gespielt werden könne, hab ich gefragt. " Nein, die sind für die Arbeit des Steuermanns notwendig, aber hier " antwortete der Kapitän und zeigte auf eine an der Decke durchhängende Schnur " hier, zieh mal fest daran ". Ich schrak sichtlich zusammen, denn die Pfeiffe ging ohrenbetäubend los. Und, ich fühlte mich plötzlich gross und stark, durfte ich doch das Schiff ertönen lassen. Das gibt morgen im Kindergarten etwas zu erzählen ! aber nur dann, wenn das Schiff nicht untergeht. " Kann dieses Schiff untergehen. " habe ich fast etwas schüchtern gefragt. " Wo denkst Du hin, das Schiff ist jetzt bald 50 Jahre alt und es ist noch nie etwas passiert  ", antwortet der Kapitän, der immer noch mit mir auf dem Arm, aber bereits wieder unten bei Grossvater, angelangt war. " Wir sehen uns noch ", meinte er, nach dem er mich abgesetzt hatte. Ich erzählte Grossvater stolz von meinem erlebten und vor allem, dass ich pfeiffen durfte. " Aha, du warst das, ich dachte schon, was denn da auf dem See los ist, wenn die pfeiffen " und lachte dabei. " Jetzt gehen wir noch die Maschine anschauen " meinte Grossvater, als wir die breite Treppe hinunter stiegen. Jetzt sah ich erst das grosse Loch im Boden, das mit einem Geländer umgeben war. Ei, in diesem Loch war aber einiges los, da bewegten sich Räder und grosse Stange, auf denen lauter Flaschen mit gelber Flüssigkeit angebracht waren. Da gab’s auch ein Steuerrad, jede Menge Hebel, Leitungen und andere Geräte. Auch zwei Männer waren in dem Raum, wovon einer mit einer kleinen Kanne mit langem Ausguss die Flaschen füllte. " Das sind Öler, die braucht es zum schmieren der Lager, und die müssen immer wieder Nachgefüllt werden". " Warum ", fragte ich, " damit die Lager nicht heiss laufen ", sagte Grossvater , ich verstand kein Wort von der ganzen Geschichte, aber es war sicher Gut, dass diese Lager nicht heisslaufen. " So, jetzt gehen wir ins Restaurant, um unser verdientes Glacé zu essen ".

Das 1. Kl. Salon wirkte nicht nur vom Namen her fremd auf mich, sondern auch von seiner Ausstattung her. Es war alles so anders als in einem Restaurant und sah eher wie ein riesiges Wohnzimmer aus, so wie bei Tante Anneli, nur viel, viel grösser. Ist ja eigentlich auch egal, mir waren im Moment nur noch zwei Sachen wichtig, das Glacé, und dass es mir plötzlich auf diesem grossen Schiff gefiel !

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