Janine Quicker

Nebelumhüllt

Nebelumhüllt.

 

Ich hab dich verraten. Habe das zerstört, woran wir beide so fest und so innig geglaubt haben. Habe das zerstört, was uns beiden am wichtigsten war. Und immer noch ist?

Wir dachten wir seien zwei Felsen in der Brandung des unruhigen Alltags, der voll ist von Hass, voll von Menschen, die nur daran interessiert sind, wie sie am besten über die Runden kommen. Ich habe gesagt, dass ich diese Menschen verabscheue und so schnell bin ich selber zu so einem geworden.

Weißt du noch, als uns eines Tages jemand gesagt hat, wir seien wie das doppelte Lottchen? Wir sind vor stolz bestimmt fünf Zentimeter „gewachsen“.

Das doppelte Lottchen, eben zwei. Es gibt keine Lotte, es gibt nur das doppelte Lottchen. Die eine Lotte ist ohne die andere gar nichts. Gar nichts außer verlassen, einsam und traurig.

So lange habe ich mir gewünscht, dass ich noch einmal die Chance bekommen könnte mit dir zu sprechen, dir zu erklären, warum ich tat was ich tat. Doch um ehrlich zu sein, wüsste ich nicht, was ich sagen sollte, nicht mal eine Antwort könnte ich dir geben. Nicht mal das bringe ich fertig. Doch eigentlich ist das jetzt ja auch vollkommen egal, es hat keinen Sinn mehr. Nichts hat einen Sinn mehr.

Nichts mehr, seit dem...

Mir fällt es schwer darüber nachzudenken. So machen es die meisten Menschen oder? Wenn es unbequem wird, einfach nicht mehr darüber nachdenken. Ich wollte niemals wie die meisten sein, aber nun? Nun bin ich es geworden und ich hoffe, dass du mir verzeihen kannst. Vielleicht, eines Tages.

 

 

Tränen laufen über mein Gesicht und im Moment wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dein Lächeln noch einmal zu sehen, deine Stimme zu hören.

Ich knie vor deinem Grab, der kühle Aprilregen vermischt sich mit meinen Tränen. Das Gefühl, keine Kraft mehr zu haben überkommt mich, mein ganzer Körper fühlt sich wie Eis an. Nun fühle ich nur noch Leere.

In den vergangenen Wochen, Monaten habe ich jedes Gefühl in meinem Herzen gespürt. Alle waren so anders, so verschieden, dass man sagen würde, man kann all das niemals allein für einen Menschen fühlen, aber ich kann, ich kann.

Ich habe dich so geliebt, wie man einen Menschen nur lieben kann, ich habe dich gehasst, wie man einen Menschen nur hassen kann. Ich war traurig, wütend, verletzt.

Als du mir sagtest, was mit dir geschehen würde, da habe ich dich angefleht, angeschrieen und dann bin ich weggelaufen. Weit, weit weg von dir. Doch ich kann niemals so weit laufen wie ich müsste, damit ich frei von Gedanken an dich wäre, frei von dir. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das überhaupt will. Unsicherheit legt sich um mich wie ein feiner Nebel.

Jeden Tag quält mich die Frage, warum ich es so weit hab kommen lassen. Warum ich dir das angetan habe?

Wer bin ich, dass ich mich fünfzehn Jahre lang deine beste Freundin nannte? Ich habe keine Ahnung, aber auf alle Fälle bin ich keine richtige Freundin gewesen, eine falsche Freundin höchstens. Habe ich dir doch geschworen immer für dich da zu sein, „in guten wie in schlechten Tagen“. Doch ich war es, die nicht bei dir war, als du mich gebraucht hast. Statt bei dir zu sein, dir beizustehen, war ich mit meinen Gefühlen und meinem verletzten Stolz beschäftigt. Der Gedanke, dass du mich verlassen würdest hat mich so unendlich klein gemacht, ich kam mir so benutzt und so unendlich schäbig vor.

Was hättest du an meiner Stelle gefühlt?

 

 

Ich habe die Blumen auf deinem Grab ausgetauscht, so wie ich es immer tue, wenn ich hierher komme, hierher zu dir.

Hier habe ich das Gefühl dir nahe sein zu können, auch wenn du eigentlich so weit weg bist.

Dies ist der Ort, an dem ich nachdenken kann, fern ab von mitleidigen Blicken und gutem Zureden, alles würde schon bald wieder in Ordnung kommen.

Ich müsse jetzt an mich denken, so höre ich Tag ein Tag aus. Manchmal denke ich, dass sie noch nie einen geliebten Menschen verloren haben, dass sie nie diese Liebe empfunden haben, wie ich sie für dich empfunden habe.

 

 

Ich denke darüber nach, wie wir uns kennen gelernt haben. Weißt du noch damals?

Wie klein sind wir gewesen.

Du bist neu in unseren Kindergarten gekommen. Anfangs hast du mich nicht wirklich interessiert. Ich hatte meine damaligen Freunde und das reichte.

Eine Neue ist da?

Soll sie doch bleiben wo der Pfeffer wächst.

Ich bin zufrieden mit meinem Leben.

Ich glaube, ich war sehr starrsinnig und dickköpfig im Bezug auf meine Einstellung dir gegenüber.

Später einmal hast du mir gesagt, dass diese Zeit dich sehr viel Kraft gekostet hat, aber das auch du dir ein Ziel gesetzt hattest. Schließlich haben dein Dickkopf und deine Beharrlichkeit gewonnen.

„ Wer nicht kämpft, kommt nie ans Ziel.“ , hast du damals in mein Freundschaftsbuch geschrieben. 

Du warst ein Mensch mit dem gewissen Etwas, dieses Etwas, ein Mix aus Außerordentlichkeit, Beharrlichkeit, Einfühlungsvermögen, Selbstbewusstsein, Mut, Kraft und Stärke unterstrichen immer mit einem Lächeln, das hat dich ausgezeichnet, dich so einzigartig gemacht und deinen Verlust so schwerwiegend.

Nachdem wir unser kleines Anfangshindernis überwunden hatten, sind wir schnell Freunde geworden. Wir lernten zusammen Fahrrad fahren, sind beide zusammen vom Klettergerüst gesprungen, weil wir glaubten, mit unseren Zauberkeksen, die wir Tags zuvor gebacken hatten, könnten wir fliegen, auf der Klassenfahrt haben wir beide zusammen die erste Zigarette geraucht, wohlgemerkt mit acht oder neun Jahren, und wir hingen danach beide zusammen über der Kloschüssel. 

Wenn ich an dich denke, an Erlebnisse, die uns beide verbinden, fällt mir so vieles ein und ich habe das Bedürfnis es einfangen zu wollen. Ich möchte all diese Erinnerungen an dich, an unsere Zeit nicht verlieren. Am liebsten wäre es mir, ich könnte alle Erinnerungen an dich einfach in eine Schüssel tun, ein Deckel rauf und bei Bedarf immer wieder eine Erinnerung herausholen und noch einmal mit dir durchleben.

Wenn ich doch nur zaubern könnte?!

 

 

„In guten wie in schlechten Zeiten“, das war etwas, was auf uns mehr passte, als auf jedes Ehepaar, zumindest bis das geschah, was geschah.

Obwohl- schlimme Zeiten, gab es eigentlich nicht. Als wir wegen unserem Sprung vom Klettergerüst beide ins Krankenhaus mussten, bei mir war der linke Arm und bei dir der rechte Fuß gebrochen, haben wir uns beide totgelacht. Als wir nach der Rauchaktion über der Kloschüssel hingen, haben wir uns kaputtgelacht. Mit dir, das war wie in einer anderen Welt.

Jetzt, im Nachhinein denke ich, dass wir zu sehr ein Glashaus um uns herum aufgebaut hatten.

Dann kam der große Stein und alles zerbrach.

Es kann nicht immer nur gute Zeiten geben, nicht war?

Jetzt sitze ich hier in den Scherben und du hast dich einfach so aus dem Staub gemacht.

Findest du das gerecht?

 

 

Du hast mich damals vor vollendete Tatsachen gestellt und mir gesagt, du würdest zwei Tage warten. Mehr Zeit hättest du nicht mehr. Du hättest schon viel zu lange gewartet.

Alles ist drei Wochen nach der Diagnose geschehen: Irreparabler Hirntumor, nichts zu machen. Ich höre noch die Stimme der Ärztin in meinen Ohren: „ Es tut mir leid. Du hast noch ein Viertel Jahr, mit Glück ein halbes. Freu dich jetzt hat doch gerade der Frühling angefangen. Nutz die Zeit, die du noch hast und tu, was du schon immer tun wolltest.“

Du hattest mich damals gebeten mit zur Auswertung zu kommen, natürlich habe ich zugestimmt. Unterwegs habe ich dich noch beruhigen wollen. „ Deine Kopfschmerzen sind bestimmt Migräneanfälle, kein Grund zur Sorge“, das waren meine Worte.

Ich denke, damals wollte ich vielmehr mich beruhigen als dich. Aus irgendeinem Grund schienst du dir keine Sorgen zu machen.

Es gab keine Veränderungen in deinem Gesichtsausdruck, als du die Todesnachricht erhieltest.

Das einzige, was ich gespürt habe, waren die Tränen die über mein Gesicht liefen.

Eigentlich wollte ich stark sein.

Für dich.

Dich trösten. Doch warst es am Ende du, die mich getröstet hat. Du hast mich nach Hause gebracht, einen Tee gekocht, getröstet.

 

Wir waren beide so unterschiedlich:

Du- stark, eine Kämpfernatur,

ich-klein, ohne Kraft.

Warum und wie wir überhaupt Freunde geworden sind ist mir heute noch schleierhaft, aber wahrscheinlich trifft dieses alte Sprichwort: „Gegensätze ziehen sich an“, vollkommen zu.

Vielleicht sollte ich alten Weisheiten doch mehr Respekt zollen.

 

 

Du bist erst nach Hause gegangen, als ich eingeschlafen war.

Eingeschlafen über lauter Weinen.

Ich weiß nicht, ob du an diesem Tag  den Plan gefasst hast, wenn es so war, bereue ich umso mehr nicht bei dir gewesen zu sein. Ich habe viel Zeit damit verbracht, mir einzureden, dass der Plan, der einen Keil zwischen uns trieb, nicht an diesem Tag entstanden ist, ich sowieso nichts hätte machen können um dich davon abzubringen, denn es gab eine große Gemeinsamkeit  bei uns beiden: Dickköpfig, stur, versessen auf das, was wir uns in den Kopf gesetzt haben.

Es hat mich mehr als verletzt, von dir vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Auch wenn du mich gefragt hast, wie ich es finde, so war es doch nur rein rhetorisch gemeint.

Du hattest einen Plan, ein Ziel und ich wusste, dass, obgleich meine Rolle in deinem Leben bisher groß war, ich jetzt und hier in diesem entscheidenden Moment kein Vetorecht besaß.

Du hast mir bewusst gemacht, was ich bis dahin nie gesehen oder erfolgreich ignoriert hatte: Du hast mich nie gebraucht. Aber ich war abhängig, abhängig von dir.

 

 

Ich war so durcheinander, war ich doch von dir gewohnt, dass du kämpfen würdest, nun hattest du auf einmal aufgegeben, ohne mir vorher Bescheid zu sagen.

 

 

Du hattest mich angerufen und gefragt, ob ich Zeit für ein Eis hätte.

Ich bejahte, war doch in der Schule im Moment eine relativ stressfreie Zeit und mir daher, wenn ich dort war, eher zum Einschlafen zu Mute.

Wir trafen uns an der kleinen Eisdiele, zwei Straßen vom Bahnhof entfernt. Du warst seit der Diagnose nicht mehr in der Schule.

„ Die Schmerzen machen es unmöglich, sich auf irgendetwas konzentrieren zu können..“, hattest du mir gesagt. Trotzdem wolltest du immer wieder mit den neusten Schulinfos versorgt werden. Ich bin fast jeden Tag bei dir gewesen, doch eigentlich, im Nachhinein betrachtet, erzählte ich mehr wie es mir ging, wie mein Tag war, was mich geärgert hat und wem ich am liebsten den Hals umgedreht hätte, als dir zuzuhören.

Du hattest immer ein Lächeln auf den Lippen, wenn ich mich in Rage redete.

Auch an diesem Tag, als wir uns trafen, hattest du ein Lächeln auf den Lippen, du warst gut gelaunt, es hat mir Angst gemacht. Nach fünf Minuten, die wir mit dem üblichen Kram:

„Wie geht’s dir?“

„Schönes Wetter heute?“

„Wie war dein Tag?“

verbracht hatten, kamst du zum Punkt.

Das schrecklichste Gespräch meines Lebens begann und gerade, weil es das schrecklichste Gespräch meines ganzen Lebens war, hallt mir noch jedes einzelne Wort in den Ohren.

Alles begann damit, dass du mir eröffnetest, was du vorhattest:

 

 

„ Ich habe einen Entschluss gefasst, und ich möchte, dass du ihn erfährst. Doch darfst du ihn keinesfalls irgendjemand anderem weitersagen. Versprichst du mir das?“

„ Natürlich, du kannst dich auf mich verlassen.“

 

 

„ Ich werde mich umbringen, ich halte die Schmerzen nicht mehr aus. Habe das Gefühl eine Gefangene in meinem eigenen Körper zu sein. Ich kann nicht mehr, ich halt das nicht mehr aus, verstehst du?“

 

 

Deine Stimme war tränenerstickt und zum ersten Mal offenbartest du mir, was du fühltest.

Mir liefen Tränen übers Gesicht und auch meine Stimme zitterte, als ich dir widersprechen wollte...

 

 

„ Das kannst du nicht tun. Was ist mit deiner Familie, mit deinen Freunden. Was ist mit mir?“

 

 

„ Alle leiden mit mir, ich kann ihre mitleidigen Blicke nicht mehr ertragen. Sie warten darauf, dass ich irgendwann sterbe, ob nun früher und freiwillig oder später ist doch egal. Tod ist Tod.“

 

 

„ Das darfst du nicht....“

 

 

„ Ich werde. Ich wollte nur, dass du es weißt.“

 

 

„ Also habe ich keine andere Wahl, als zu akzeptieren, was du dir ausgedacht hast?“

 

 

„ Ja.“

 

 

„ Ich dachte, wir wären Freunde.“

 

 

„ Sind wir auch, ansonsten hätte ich dich kaum eingeweiht, oder? Allerdings finde ich es schade, dass du das alles so siehst.“

 

 

„ Wie sollte ich es sonst sehen?“

 

 

Es ist der letzte Satz, den ich dir vor deinem Tod an den Kopf warf. Danach haben wir uns nie wieder gesehen.

 

 

Ich weiß noch, wie ich weglief, versuchte das Gespräch zu verdrängen, du würdest nicht so weit gehen.

Und nun hast du es doch getan.

 

 

Was geblieben ist, ist dieses unendliche Schuldgefühl in mir. Ich hätte bei dir sein müssen, dir beistehen. Doch ich hab’s nicht getan. Ich wäre dir gerne eine wirkliche Freundin gewesen. Ich hoffe, dass du mir eines Tages verzeihen kannst, dass ich nur eine falsche war, vergib mir.

 

 

 

 

 

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Janine Quicker).
Der Beitrag wurde von Janine Quicker auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.06.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Janine Quicker als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Sex für Aktionäre von Klaus-D. Heid



Na? Wie stehen die Aktien? Sind Aktionäre die besseren Liebhaber? Wie leben Aktionäre mit der Furcht vorm Crash im Bett? Diese und andere Fragen beantworten Klaus-D. Heid und der Cartoonist Karsten Schley.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Freundschaft" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Janine Quicker

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Werde ich fliegen können? von Janine Quicker (Fragen)
eine platonische Liebe für die Ewigkeit... von Rüdiger Nazar (Freundschaft)
Das Verhör von Klaus-D. Heid (Krimi)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen