Michael Böhme

MS Freia

Dass eine Handbreit Wasser unter dem Kiel genauso wichtig ist, wie die Tatsache, dass der Anker bis zum Meeresgrund reichen sollte, ist dem erfahrenen Seemann völlig klar. Aber auch der ungeübte Passagier an Bord bekommt schnell einen Einblick in die christliche Seefahrt, wenn es heißt: ›All Hands an Deck!‹, und der Gast an Bord kräftig zupacken kann. Dann ist nach einer solchen Tour durch das Wattenmeer für ausreichend Gesprächsstoff gesorgt.

Als unsere Tochter nebst Gatten vor unserer Tür stand, und uns feierlich eröffnete, sie hätten jetzt ein kleines Boot gekauft, das einmal von Amtswegen durch das nordfriesische Wattenmeer gefahren sei, nun … da waren wir – meine Frau und ich – hellauf begeistert. Wer das nordfriesische Wattenmeer und die Halligen einmal kennenlernen durfte, der weiß diese raue Landschaft zu schätzen. Für mich, der hier wohnt, ist es eine Art Hassliebe. Bei Regen hassen und bei Sonne lieben. Meistens stehe ich allerdings mit dem Wetter auf Kriegsfuß und ein eben erwähnter Hass macht sich breit, der, wenn die Sonne sich mühsam ihren Weg durch die Wolken bahnt, verflogen ist und in eine Versöhnung mit der Witterung umschlägt. Dann ist es eine Landschaft zu verlieben – zwar immer noch rau aber dafür ohne Regen und Sturm.

Da standen sie nun, unsere Kinder mit ihrem Austauschmotor, welchen es zum Boot dazugab, und besuchten uns. Wir waren skeptisch, warum der große Motor wohl den Weg zu uns gefunden haben mochte. Wir wurden daraufhin aufgeklärt und gefragt, ob er für eine kurze Zeit bei uns bleiben könne. Zu dem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, wie lang ›kurz‹ sein kann. Aber wer kann seinen Kindern schon einen Wunsch abschlagen. Also fand der Motor sein neues Domizil in unserer Garage. Das Auto war seinen trockenen Platz los. »Papa, du musst Bedenken, es ist ja nur kurz!«, wurde die Handlung seitens unserer Tochter untermauert.

Als der große Tag kam und das kleine Boot mit dem alten nordischen Namen ›Freia‹ seinen Heimathafen ansteuern sollte, war es ein herrlicher Tag. Die See roch nach Tank. Ein schwacher ›Südwest‹ versprach den Seebären eine gute Hilfe zu sein. Zu Wasser gelassen in Schlütsiel, ein kleiner Hafen an der nordfriesischen Küste, von dem aus die Halligen mit den nötigen Lebensmitteln versorgt werden, fuhren die Seeleute – der Eigner und einige seiner engsten Freunde – genau auf Kurs an der Westseite der Insel Sylt vorbei. Das nur ›ganze Kerle‹ in der Lage sind, so ein ›Achtmeter-Boot‹ um die Nordküste von Sylt, wo sehr starke Strömungen herrschen, in den schützenden Hafen von Højer zu navigieren, wird selbst dem Laien klar, wenn man bedenkt, dass der Schalldämpfer der Abgasanlage des großen, mitten im Boot liegenden Dieselmotors abgefallen war und die Mannschaft mit den Köpfen jenseits der Bordwand versuchten, den Abgasen und dem Höllenlärm zu entgehen. Der Teufel steckt im Detail. Die Ehefrauen der Seemänner wollten immer mit ihren Liebsten in Verbindung bleiben. Sie hatten sich anfangs auch genaue Positionsmeldungen geben lassen, die sie rasch auf einer Karte versuchten auszumachen. Plötzlich offenbarte sich, dass die gesamte Besatzung verschwunden war. Die Verdachtsmomente, die sich den jungen Frauen aufdrängten, dass es sich um eine Art ›Bermudadreieck‹ handeln könne, fegte die Tatsache, dass die Akkus für die an Bord in reichlicher Anzahl vorhandenen Handys leer oder defekt waren, einfach hinweg. Umso größer war die Freude am frühen Sonntagmorgen, als wir von der Kunde aus tiefstem Schlaf gerissen wurden. »Sie sind wieder da!!«, rief unsere Tochter hocherfreut durch das Telefon in meinen noch auf Schlaf eingestellten Gehörgang. »Hörst du, sie haben eben die Schleuse von Højer passiert!« Ja, ich hatte gehört und auch unsere Sorge hatte sich zerstreut – und das Ganze um fünf Uhr in der Frühe.

Das dänische Højer ist ein kleines malerisches Städtchen im deutsch-dänischen Grenzgebiet. Der sehr kleine Sportboothafen liegt durch eine mächtige Schleuse vor den Fluten der Nordsee geschützt an der Vidå, einer natürlichen Grenze zwischen den beiden Staaten. »Vielleicht laden uns die Kinder zu einer Bootspartie ein«, signalisierte ich meiner Frau, die eher oppositionell einer Tour durch das nordfriesische Wattenmeer gegenüberstand. Nachdem die Schäden behoben wurden, luden uns die Kinder, wie wir sie liebevoll nennen, tatsächlich zu einer ›Jungfernfahrt‹ im engsten Familienkreis – wie sie es nannten – ein. Ich konnte nur mit Mühe meine Angetraute dazu bewegen, einmal die schwankenden Bootsplanken zu spüren. Am Nachmittag eines Sonntags, der sich auch wettermäßig von seiner besten Seite zeigte, betraten wir zu ersten Mal das Deck der ›Freia‹. Wir wussten zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass sich dieser Tag in unser Gedächtnis einbrennen sollte. Rasch lösten wir die Leinen des Acht-Meter-Bootes. Langsam bewegte sich das Boot in das schmale Fahrwasser der Vidå und nahm Kurs auf die Schleuse, die uns mit weit geöffneten Toren empfing. Ein herrliches Wetter und ein günstiger Zyklus zwischen Ebbe und Flut bescherte uns das Glück, das in diesem Bereich der Nordsee unbedingt von Nöten ist. Da sich die Schleuse als ein mechanisches Monstrum darstellt, welches auf die Druckverhältnisse der unterschiedlichen Wassermassen reagiert, öffnet es ihre Tore bei Ebbe in der Nordsee und wenn die Flut zurückkehrt, drückt das auflaufende Wasser die Tore wieder zu. Die Freizeitkapitäne fahren daher im Rhythmus der Tide. Wir wussten, wenn sich dieses Monstrum vor uns schließt, gibt es keine Möglichkeit, den sicheren Hafen anzusteuern. Erst mit der nächsten Ebbe würden die riesigen Tore den Weg in den Hafen freigeben. Wir passierten sicher die Schleuse und vor uns lag in einer leichten Brise aus Südwest die offene See. Ein großer Moment. Rechts und links auf den durch das abgelaufene Wasser sichtbaren Sandbänken lagen Robben, die sich sonnten und das einzige Boot mit der illustren Gesellschaft argwöhnisch beobachteten. Hin und wieder war die Neugierde so stark, dass sie sich ins Wasser bequemten, um uns aus der Nähe mit ihren großen dunklen Augen anzuschauen. Da das Boot über eine Echolot-Vorrichtung verfügt, war immer die Wassertiefe unter dem Boot sichtbar. »Eine sagenhafte Technik.«, meinte ich zu dem Steuermann, der übrigens auch der Kommandant und Maschinist sowie Stuart und nicht zuletzt Eigner des Bootes war – eben ein perfekter Schwiegersohn. »Einen Schwiegersohn, der so immens vielseitig ist, den wünscht man sich!«, rief ich meiner Frau, die versuchte, sich mit dem schwankenden Horizont anzufreunden, was ihr mit zunehmender Entfernung zur Küste auch immer mehr gelang. Als der Kommandant den Befehl zu Ankern gab, flitzte unsere Tochter an uns vorbei auf das Vordeck und überreichte mit einer Bestätigung des Befehles den Anker dem nassen Element. Meter um Meter verschwand die Ankerleine in der Nordsee. Der Maschinist schaltete den Motor ab. Es herrschte eine wundersame Ruhe ab Bord. Nur ein sanftes Plätschern der Wellen, die gegen die Bordwand schlugen, war zu hören. Wir genossen sichtlich den Augenblick, der allerdings durch die Kontrolle des Echolotes stark getrübt wurde. »Sechszehn Meter Wassertiefe und nur zwölf Meter Ankerseil.« »Der Anker wird niemals den Meeresgrund erreichen!«, lautete die ernüchternde Auswertung der Daten. So trieben wir noch einige Seemeilen in Richtung List, dem nördlichsten Ort auf der Insel Sylt und der Bundesrepublik Deutschland. Diese Situation tat der Stimmung, die an Bord herrschte, keinen Abbruch. »Schatz, du kannst den Anker übrigens wieder einholen. Er langt eh nicht bis zum Grund«, kam der Befehl aus dem Innern des Bootes. »Aber ich dachte …« »Nein, ich glaube, wir müssen zurück — wegen der Schleuse. Außerdem wird die Fahrrinne immer schmaler«, meinte unser Steuermann und Kommandant. »Wenn die Flut einsetzt, dann müssen wir vor der Schleuse sein, sonst ist es zu spät.« Der Kommandant und Maschinist ließ den Motor an und stellte nach kurzer Zeit eine Überhitzung des Abgassystems fest. Ein kurzer Blick des Fachmannes und schon war die Wasserpumpe als Übeltäter ausgemacht. Sie versagte ihren Dienst, weil die Förderung des zum Kühlen benötigten Seewassers durch den Seegang nicht aufrechterhalten werden konnte. »Sobald Luft angesaugt wird, läuft das Scheißding nicht mehr«, wurde mir fachkundig erklärt.

Das war der Moment, an dem die Passagiere und Besatzung an einem Strang zogen und sich die Möglichkeit bot, mit anzupacken und nahtlos in den Bordalltag integriert zu werden. Mit der Feststellung »Wir sitzen schließlich in einem Boot« erfuhr unsere Tochter eine allgemeine Zustimmung. Ich schöpfte Meerwasser von draußen – es war ja genug da – in den Eimer und goss es vorsichtig in den Trichter, der durch einen Schlauch mit der Pumpe verbunden war, die das kostbare Seewasser zur Kühlung zum Abgassystem befördern sollte. Auf diese Art gelang es uns, die Funktionalität der Maschine einigermaßen aufrecht zu erhalten. Ein Blick durch das Fernglas sagte meiner Frau, dass sich die Schleusentore langsam zu schließen begannen. Das inzwischen geübte Auge meiner ›besseren Hälfte‹ konnte nicht eine Robbe mehr sichten. Schulterzuckend stellte sie sachlich fest, dass der Lärmpegel, hervorgerufen durch den offenen Motorraum, die Ursache sein könne, dass ich keine Robbe mehr vor die Kamera bekommen würde. »Anstatt mit dem Fotoapparat zu hantieren, solltest du lieber sehen, dass wir weiterkommen!«, brüllte sie mir ins Ohr, um sicherzugehen, dass ich etwas bei dem herrschenden Krach verstehen würde. Sie zeigte zur Untermauerung ihres Argumentes auf die Schleuse. Wir näherten uns langsam den mächtigen Schleusentoren, die sich tatsächlich erbarmungslos, getrieben durch die physikalischen Kräfte, Zentimeter um Zentimeter schlossen. Eine gewisse Nervosität an Bord war nicht zu verhehlen. Plötzlich ging ein Ruck durch das Boot. »Nun sitzen wir auch noch auf dem Schlick fest!«, rief meine Frau, die nicht mehr bereit war an ein gutes Ende der ›Expedition ins Ungewisse‹ zu glauben. Ich hingegen fand es herrlich und genoss die Situation so sehr, dass ich vergaß Wasser zu schöpfen. Das wir rechtzeitig frei kamen, um einige Meter weiter erneut im Schlick des nordfriesischen Wattenmeeres festzusitzen, hatten wir dem Steuermann und Maschinisten zu verdanken. Dem umsichtigen Manöver und die Arbeit mit der langen Stange auf dem Vordeck war es zu verdanken, dass mittels Schiffsschraube und häufigen Richtungswechseln eine neue ›Einweg-Fahrrinne‹ geschaffen wurde, durch die wir in letzter Minute die großen Schleusentore passieren konnten. Die bange Frage unserer Tochter, was denn passieren würde, wenn wir etwas später gekommen wären und das Boot zwischen den Toren eingeklemmt würde, erfuhr nach kurzem Überlegen seitens der Bootsführung eine abweisende Handbewegung.

An der Schleuse, die für weit gereiste Passanten offensichtlich eine Attraktion darstellt, waren viele schaulustige ›Landratten‹ versammelt. Da wir mit Abstand das letzte Boot waren, das die Schleuse passierte, und auch noch tüchtig Wasser ins Boot schöpften, erregten wir die absolute Aufmerksamkeit der am Geländer versammelten Menschen. »He! Wat macht ihr da? Dat Wasser soll raus aus dem Boot und nicht rinn in det Boot, Mann.«, lachte uns einer der ›Landratten‹ aus. »Im Regelfall ja. Aber dieses ist ein Motor, der direkt vom Max-Planck-Institut kommt und mit Wasserstoff betrieben wird. Und wie sie sehen können; es ist genug davon vorhanden.«, erklärte ich schlagfertig. »Oh, entschuldigen sie, das habe ich nicht gewusst. Aber das Boot sieht nicht wie ein Versuchsboot aus.« Sein Nachbar kam mir zuvor. »Mensch Heinz, überleg’ doch einmal logisch.«, sagte er energisch und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Wenn überall Versuchsboot druffsteht, dann wäre doch sicher die Presse hier…« Wir kamen außer Hörweite und wussten nicht, mit welchen wissenschaftlichen Argumenten die beiden Urlauber weiter diskutierten. Wir aber waren froh, als wir den schützenden Hafen von Højer erreicht hatten und anlegen konnten. Wenn es wieder einmal heißen wird: » Anker auf und Leinen los …« nun, wir sind mit Sicherheit zur Stelle, denn so eine Seefahrt, die macht richtig froh.

versprochen

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.06.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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