Irmgard Schöndorf Welch

Geschichten aus der Nacht 15 .... Kettenkarussell

*


 

 

 

Das Kettenkarussell

Bei Irkutsk verlassen Lucy, meine amerikanische Freundin, und ich die Transsibirische Eisenbahn. Bald liegt das Zentrum der Stadt hinter uns. Zu Fuß laufen wir durch die Außenbezirke. Auf unbefestigter, schlammiger Straße, vorbei an Holzhäusern, kleinen Kirchen, Gottesäckern, Gemüsegärten, umzäunten Hühnerhöfen. Da gelangen wir weit draußen zu einem einsamen Festplatz, einer Art Lunapark auf russisch.

Wie ich aufblicke, sitzt Lucy schon im Sessel eines Kettenkarussells, eines ziemlich vorsintflutlichen, mit bäuerlich buntbemaltem, weitausholendem Stoffbaldachin darüber.

"Come, Ralf, come!" ruft sie mir lachend zu.

Ich kann leicht widerstehen. Habe nicht die geringste Lust, mich auch auf so ein Ding zu setzen. Obwohl ich als Kind dieses Kirmesvergnügen über alles geliebt habe. Die Sache hier ist mir aber nicht geheuer.

Nachdem sie auf dem hölzernen Sitz Platz genommen hat, zurrt sich Lucy den Lederriemen um die schmalen Hüften, der sie während der Fahrt vor dem Hinausrutschen, dem Sturz ins Leere bewahren soll. Dann geht es los. Das Gefährt wird schnell und schneller, gerät in eine unvermutete Raserei. Es geht teuflisch rund. Meine Freundin wird gewaltig durch die Luft gerissen, dass ich ihr Gesicht beim Vorbeiwirbeln nicht mehr erkenne.

Alle anderen Sessel des Karussells schwingen vor, hinter, neben meinem Mädchen leer mit. Eine Geisterbahn. In diesem Luna-Park ohne Publikum.

Lucys Sessel hängt rechts und links an je einer eisernen Gliederkette. Die beiden Ketten kommen an einer Art Deichsel über ihrem Kopf zusammen. Diese ist wiederum viel höher oben an einem armdicken Metallträger befestigt, der auf komplizierte, undurchschaubare Weise an dem sich drehenden Stamm des Karussells verankert ist.

Lucys Sessel schwingt kräftiger aus, als die unbesetzten ... Ihr Körper beschreibt einen schwungvollen, weiten Kreis hoch über der Landschaft. Juchzend lässt sie die Beine baumeln. Sie muss eine schöne Aussicht haben: Unter ihr blüht in wilden Farben der sibirische Sommer.

Jedoch, durch das Rauschen des Windes höre ich ein leises Knistern oder Knirschen wie von brüchigem Metall. "O Gott."

Vielleicht bilde ich mir das Knirschen nur ein. Aber nein: da bricht auf der rechten Seite die Kette, die bisher zusammen mit der anderen, Lucys Sitz in waagerechter Position hielt. Ich habe es kommen sehen, ich habe es kommen sehen ... Lucy baumelt schreiend wie eine umgestülpte Puppe kopfüber in Richtung Erdboden, jedoch noch immer von dem Lederriemen in ihrem Sitz, der an der einen, verbleibenden Kette hängt, vor dem totalen Absturz bewahrt. Lucys Hände haben sich in die Kette verkrallt.

"Pack zu, halt dich fest", brülle ich. Die Lage ist keineswegs hoffnungslos, denn es ist kaum anzunehmen, dass die zweite Kette auch reißt und ihr Körper hinab schlägt in die Tiefe.

"Lucy, Kleines" schreie ich, "lass nicht los. Halt aus, bis sie das Ding stoppen ..."

Ich brülle nach den Karussellbetreibern: "Tut was ... tut was!"

Lucy aber hangelt sich auf einmal samt Sitz, in dem sie festgeklemmt scheint, mit ihren Händen an der verbliebenen Kette hoch, was eine fast übermenschliche Kraftanstrengung bedeutet, da das Karussell sich noch immer wie wahnsinnig dreht. Sie arbeitet sich Stückchen für Stückchen nach oben zu einer etwas dickeren Eisenkette, erreicht endlich den stabileren Teil, den eisernen Querbalken, an dem die ganze Sesselkonstruktion aufgehängt ist. Meine Freundin umklammert diesen Balken mit beiden Armen, während die Zentrifugalkraft sie in hundert kreisenden Runden weiterreißt.

"Wo bleibt ihr bescheuerten Ärsche?" brülle ich in ohnmächtiger Wut. Spüre: ich falle gleich um ...

Lucy hängt da oben in zirka zehn Metern Höhe zwischen Himmel und Erde. Sie schreit helle Worte.

Endlich klack, wird das Karussell abgeschaltet. Ein letzter Ruck noch. Der Betreiber und sein Gehilfe kommen mit einer Leiter angerannt Sie holen meine Freundin samt Sessel von da oben im Gestänge herunter, wo sie sich eisern angeklammert hat.

Die zweite Kette ist bestimmt stabil, denke ich, aber Lucy hat Angst bekommen und oben Halt gesucht an dem festeren Teil dieser Irrsinnskonstruktion ... Das ist verständlich. Auch wenn es im Endeffekt unnötig war. Denn das gleiche Malheur mit der zweiten Kette ... so etwas wäre einfach nicht passiert... Gesetz der Wahrscheinlichkeit!

Ich weiß, ich wäre nicht so mutig gewesen, mich bis zum Eisenträger da oben hoch zu hangeln, während das Kirmeskarussell seine rasende Fahrt fortsetzte. Ich hätte auf das gütige Schicksal (Glück ) vertraut.

Lucy ist weiß wie ein Leintuch, kauert matt auf der Erde, wohin man sie gesetzt hat und ist noch immer mit ihrem eher schmalen Hinterteil in dem komischen Sitz gefangen. Ich wanke herbei, nehme die Zitternde in die Arme. Wir beben beide.

Obwohl ich nicht an der Solidität der zweiten Kette zweifle, muss ich jetzt doch einmal probieren! Lässig ziehe ich ein bisschen an den Gliedern. Da reißen auch diese. Mir wird schlecht. Mir wird schlecht!

"Sind sie wahnsinnig? Wollen sie Menschen morden?" brülle ich den Haupt-Karusselltypen an, der gesenkten Hauptes dabeisteht. Der stammelt Russisches, fragt zerknirscht: "Wodka?" und hält uns ein Flachmännchen hin.

Lucy aber ist schon wieder die alte. "Halb so schlimm", sagt sie und reicht dem blinzelnden Väterchen die Schachtel mit ihren Camel Filters ...

"Da, rauchen wir erst einmal eine."



*

Kettenkarussell

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.06.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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