Elke Gudehus

Phantasie

Es war einer dieser Tage an denen alles Grau erscheint.
Die Sonne schien verschleiert zu sein.
Hinter einer Nebelbank verborgen.
Alle Geräusche kamen nur durch wie eine Art Filter zu mir.
Alles schien irreal zu sein.
Wie in einem Traum.
Der Alltag schien mich aufzufressen.
Da kam ein kleiner Junge zu mir.
Er hatte ein Bild in seinen kleinen, vom verbleibenden Babyspeck, noch dicken Händen.
Er sah mich mit seinen kristallblauen Augen an und sagte:
"Ich habe ein Bild gemalt."
Er zeigte es mir.
Legte es vor mir auf den roten Tisch auf dem noch Reste von blauen Buntstiftstrichen zu
sehen waren.
Ich zog dir Stirn kraus.
Er hatte zwei Dinge gemalt.
Eine Art Wurm, der aussah als hätte er Rheuma und ein anderes "Etwas" mit drei Beinen, vier
Huckeln und einem Kopf, der die Form eines Kanisters hatte.
"Was hast du denn da gemalt?", fragte ich ihn.
Er sah mich an, als ob es ein Weltuntergang wäre, das ich es nicht erkannte.
"Das", sagte er und tippte mit seinem linken Zeigefinger auf dem Wurm, "ist ein Delfin. Und
das" ,jetzt zeigte er auf den Kanisterhuckel mit den drei Beinen, "ist ein Kamel."
Ich versuchte es jetzt zu erkennen, doch es gelang mir immer noch nicht.
Ein anderes Kind kam vorbei und ich fragte es, ob es wüsste, was auf dem Bild zu sehen war.
Es antwortete: "Ein Delfin und ein Kamel."
Der Junge lächelte selbstzufrieden.
Dann sagte er einen Satz, der meinen ganzen Tag und vielleicht auch mein ganzes Leben
veränderte.
"Du hast wohl keine Phantasie."
Ich dachte darüber nach.
Wie es schien, hatte ich wirklich keine.
Je älter man wird, desto bodenständiger sieht man alle Dinge.
Man sieht sie so, wie sie sind.
Und dann ist eben ein Wurm mit Rheuma ein Wurm mit Rheuma und kein Delfin.
Ich dachte darüber nach und fühlte eine kleine Hand auf meinem Arm.
Ich guckte den kleinen Jungen an.
Er guckte zurück und für einen flüchtigen Moment hatte ich das Gefühl durch seine blauen
Augen hindurch in seine Seele sehen zu können.
Doch so schnell dieses Gefühl da war, war er auch schon wieder weg.
"Das Bild schenke ich dir.", sagte er und lächelte dabei, sodass man seine Zahnlücke sehen
konnte.
Er gab es mir in die Hand, drückte mir einen Kuss auf die Wange und lief dann weg um wieder
mit seinen Freunden zu spielen.
Ich sah das Bild in meiner Hand an.
Jetzt sah ich es.
Er hatte mir einen Delfin und ein Kamel geschenkt.
Er hatte mir Phantasie geschenkt.

Diese Geschichte ist wirklich passiert. Mit einem 4 jährigen Jungen vor ca. 2 Wochen, während meines Praktikums im Kindergarten.Elke Gudehus, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.04.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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