Monika Peter

Stephans letzter Tag

Der 2. Juli 1993 war ein Freitag
und Stephan kam wie jedes Wochenende um ca. 19 Uhr nach Hause. Er studierte und wohnte in Ulm. Wir sahen uns an diesem Abend nur 2 1/2 Stunden, aber ich kann mich noch immer an jedes Wort erinnern, das wir gesprochen haben.
Es war ein wichtiger Tag für ihn:
Er hatte sich endlich entschlossen, das Studium für Elektrotechnik zu beenden und Sozialpädagogik zu studieren.
Stephan wollte mit seiner Freundin nach Eichstätt ziehen. Die Bestätigung für den Studienplatz hatte er an diesem Tag bekommen.
Das alles erzählte er uns im "Schnelldurchlauf", genaueres sollte am Sonntag besprochen werden.
Markus, sein jüngerer Bruder, war Zivi beim BRK und Matthias der Jüngste ging in eine Lehre, er kam als einziger täglich heim.
 
Am Wochenende aber war die Familie komplett, mindestens bei den Mittagessen waren alle da. Abends waren die Brüder natürlich unterwegs, über das wo, wann und wie wurde immer ausgiebig und fröhlich diskutiert.
An diesem Freitag war die Stimmung nicht so locker:
Unsere Familie hatte nämlich zwei schlimme Wochen hinter sich.
Matthias war mit seinem Motorrad schwer verunglückt, es mußte sogar ein Finger amputiert werden.
Aber über das Wochenende durften wir ihn nach Hause holen.
Die beiden Brüder wollten das am nächsten Tag übernehmen.
 
Warum Stephan trotzdem einen Brief an Matthias schrieb und ihn noch am selben Abend im Krankenhaus abgab, ist uns allen ein Rätsel.
Ahnte er, dass er seinen jüngsten Bruder nie mehr sehen würde?
 
Er wollte sich am am Abend mit Freunden treffen und hatte sich dort mit seiner Freundin verabredet. Markus war bei einer Geburtstagsfeier eingeladen und es herrschte das übliche Suchen nach Schlüsseln, Geldbeuteln, Jacken, Schuhen usw..
 - Es war eigentlich wie immer -
Trotzdem war meine Stimmung gedrückt und nicht "nur" wegen Matthias.
Mir ging ein Traum nicht aus dem Kopf,
den ich in der Nacht vor seinem Unfall hatte:
 
Ich ging im Friedhof spazieren
und sah zwei Arbeiter, die ein  Grab schaufelten.
Nach einigen Minuten hörten sie damit auf
und wollten weggehen.
Ich fragte sie,
warum sie nicht weitermachten.
Da drehte sich einer der Männer um
und sagte:
"Wir sind zu früh dran,
er kommt erst in zwei Wochen..."
 
Ich wachte voll Entsetzen auf und erzählte alles meinem Mann.
Er versuchte mich zu beruhigen, aber ich war außer mir vor Angst.
Am nächsten Morgen verunglückte Matthias auf dem Weg zur Arbeit.
Obwohl ich wußte, dass er trotz der schweren Verletzungen  
wieder ganz gesund werden würde,
gingen mir diese Traumbilder nicht mehr aus dem Kopf.
Den Jungs hatte ich nichts erzählt,
wahrscheinlich hätten sie gelächelt:
"Ja, ja die Mam mit ihrer Angst..."
 
Als an diesem Freitag Stephan auf das Motorrad stieg
und ich ihm ein Kuss gab, sagte er.
" Du bist meine Beste..., wir sehen uns morgen Mittag!"
 
Ich sah ihn wirklich am nächsten Mittag:
Er lag aufgebahrt in einem Sarg.
Sehr blass  und sehr weit weg von mir...
Markus und Matthias, seine fassungslosen Brüder,
Gise seine Freundin, mein Mann und ich
standen weinend und schluchzend bei ihm.
Wir streichelten seine kalten Hände
und stammelten Kosenamen in sein Ohr.
Jeder gab ihm etwas von sich mit:
still und zärtlich legten wir Ringe, Halsketten,
Fotos, Haarlocken , Zigaretten, Briefe
und unzählige Blumen auf und neben ihn.
Immer wieder hielt ich seinen starren Hände
und küsste die kalten Lippen.
Gise schnitt ein paar Haarsträhnen ab
und das ist das letzte und kostbarste
was (noch immer) von seinem Körper bei uns ist.
 
Solange ich lebe, werden diese letzten Minuten
in meinem Bewußtsein sein,
eingebrannt wie eine Tätowierung auf der Haut...
 
Stephan starb um 22 Uhr 10...
Wie es genau passierte, weiß man nicht.
Es gab keine direkten Zeugen.
Er ist in einer langgezogenen Kurve
wahrscheinlich einem Reh ausgewichen
und mit seinem Motorrad gestürzt.
Dabei ist er mit dem Rücken an die Leitplanke geprallt...
seine Halswirbelsäule ist gebrochen
 - er war sofort tot....
 
Stephan lebte 25 Jahre, 9 Monate und 21 Tage mit uns
 
DER UNFALL GESCHAH ZWEI WOCHEN NACH MEINEM TRAUM...
 
 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.07.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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