Manfred Bieschke-Behm

AUS MEINER BIOGRAFIE: Der Glaskugel-Verführer

 

 

 Wieder einmal spielten wir mit Murmeln. Wir Kinder waren voll und ganz mit uns beschäftigt. Keiner wollte verlieren. Und es wurde akribisch aufgepasst, dass auch keiner schummelte. Es war nämlich beliebt, das Anschieben der Murmel hinaus zu dehnen um möglichst sofort das Ziel Murmelloch zu erreichen. Höchste Konzentration und Aufmerksamkeit ließen uns nicht merken, dass wir die ganze Zeit über von einem Mann beobachtet wurden. Eigentlich war das auch nichts Außergewöhnliches. So manches Mal blieb ein Erwachsener stehen um uns beim Spielen zuzuschauen, um sich möglicherweise in die eigene Kindheit zurück zu versetzen. Manchmal kam es allerdings auch vor, dass wir von den Erwachsenen beschimpft wurden. „Wieso müsst ihr gerade hier spielen?“, wurden wir vorwurfsvoll gefragt. Wir würden stören, zuviel Lärm machen usw. usw.. Aber all das störte uns meistens nicht in unserem Tatendrang. Allzu oft spielten wir unbeirrt weiter und ließen „die Alten“ meckern und freuten uns, wenn sie endlich von dannen zogen. Dann hatten wir unsere Ruhe und die Welt war für uns wieder in Ordnung.

 

Irgendwann wurde ich unruhig. Denn irgendwie hatte ich das Gefühl, das der Mann nicht uns, sondern mich intensiv beobachtete. Er schaffte es mich nervös und gleichzeitig neugierig zu machen. Kennt der mich?, überlegte ich. Und weiter: Kenne ich ihn und weiß im Moment nur nicht wer er ist? Ich war der Meinung den Mann nicht zu kennen. Hatte ihn noch nie gesehen.

Ich schaute zu ihm hinüber um mich nochmals zu vergewissern, dass ich ihn wirklich nicht kannte. Trotzdem war ich mir unsicher.  Deshalb fing ich wieder an, über den Mann nachzudenken. Nein, ein Lehrer war er auch nicht! Auch kein Mieter aus unserm Haus. Die kannte ich eigentlich alle, wenigstens vom Angesicht her. Vielleicht wohnt der Mann in unserer Straße? Hier wohnen so viele, da muss und kann ich nicht jeden kennen, entschuldigte ich mich selbst und versuchte mich wieder auf das spannende Murmelspielen zu konzentrieren, was mir nur schwer gelang.

 

Offensichtlich kannte der Mann aber mich. Denn als sich unsere Blicke zufällig trafen lächelte er mir freundlich zu. Ich versuchte zurück zu lächeln, was mir aber wegen der Verlegenheit, in die ich mich gerade befand, eher nicht gelang. Bestimmt war in diesem Moment mein Gesicht stark gerötet. Es gelang mir immer weniger mich auf das Spielen zu konzentrieren, denn ich fühlte mich irgendwie stark abgelenkt und irritiert.

 

Das Murmelspiel erreichte seinen Höhepunkt. Manche Mitspieler waren bereits ausgeschieden, andere wiederum füllten sich ihre Hosentaschen mit eigenen und den gewonnenen bunten Glaskugeln. Ich musste mich heute eher zu den Verlierern zählen, denn mein Murmelvorrat war stark geschrumpft. Ich resümierte, dass ich neue Murmel wohl so schnell nicht bekommen würde. Dafür war kein Geld da. Mir blieb also nichts anderes übrig, als mit meiner kleiner Reserve hauszuhalten, und die nächsten Murmelspieltreff möglichst zu gewinnen.

 

 Während ich mir eine Strategie zum Siegen ausdachte, sprach mich der Mann plötzlich an. „Das ist wohl heute nicht dein Glückstag, junger Mann?“. „Nö“ erwiderte ich kurz angebunden. „Zu meiner Kinderzeit“, sprach der Mann weiter, gab es nicht so schöne bunte Klaskugeln. Da kann man ja richtig neidisch werden und möchte am Liebsten mitspielen!“ Darauf hatte ich nichts zu erwidern. (Was sollte ich auch dazu sagen?)

 

 „Viele Murmel sind es ja nicht die du noch in deiner Hosentasche hast“. Diese Aussage veranlasste mich reflexartig meine Hand schützend auf die Hosentasche in der sich die Rest-Murmeln befanden, zu legen. Dabei stellte ich fest, dass die Ausbeute wirklich mehr als beklagenswert war.

 

„Ich möchte dir eine Freude machen und dir bunte Glasmurmeln kaufen“ 

 

Wieso wollte mir ein fremder Mann Murmeln kaufen?, dachte ich. Gleichzeitig erwägte ich, dass sich im Moment eine einmalige Chance auftat um meinen Glaskugel-Bestand zu erweitern. Ich fragte den Mann deshalb nicht warum er mir ein Geschenk machen wollte, sondern sage nur:  „ja – das wäre toll!“.

 

 „Also gut“ sagte der Mann zu mir, “dann besorge ich bunte Glaskugeln und komme morgen so etwa zur selben Zeit wieder vorbei um sie dir dann zu geben.“

 

Der ist aber freundlich und spendabel dachte ich, während wir uns mit Handschlag und freundlichem Lächeln voneinander verabschiedeten. Meine anfänglichen Hemmungen waren wie weggeweht. Ich konnte dem Blick des Mannes standhalten, ja ich es sogar als sehr angenehm, das Lächeln eines Mannes der vom Alter her mein Vater hätte sein können. Hat mich mein Stiefvater jemals so warmherzig angesehen?

 

Wie verabredet erschien der Mann tags darauf tatsächlich um mir, wie versprochenen, bunte Glas-Murmeln zu schenken. Es waren weit mehr, als ich erwartet hatte. Murmeln in unterschiedlicher Größe und wunderhübsch gezeichnet. Ich bedankte mich freundlich mit Handschlag und leichter Kopfbeugung, merkte aber gleichzeitig, dass es mir peinlich war, ein so großzügiges Geschenk anzunehmen.

 

Während er mir die bunten Glaskugeln überreichte, schaute er mich mit einem merkwürdigen, mir fast unheimlichen Lächeln an. Ich wusste den Gesichtsausdruck nicht zu deuten und schaute deshalb verlegen weg.

 

Der Mann bemerkte meine Befindlichkeit und meinte, dass es mir nicht unangenehm sein müsse. „Du bist ein so sympathischer Junge, und warum soll ich einem so freundlichem Jungen keine Freude machen?“, während er mir das sagte lächelte er mich fortwährend an.

 

Der Mann schaffte es, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Er fragte mich unter Anderem ob ich noch Geschwister hätte und ob es beide Elternteile gäbe. Ob mir die Schule spaß machen würde und ob ich gerne hier in der Straße wohnte.

 

Brav, wie anerzogen, beantwortete ich alle mir gestellten Fragen offen ohne mir hintergründliche Gedanken zu machen.

 

 „Kennst du den Grunewald?“ fragte mich der Mann plötzlich unvorbereitet.

„Ich habe schon mal davon gehört“ gab ich zur Antwort.

„Und warst du auch schon mal dort?“, wollte er weiter wissen.

„Nein“, gab ich ihm zu verstehen.

„Möchtest du, dass ich dir den Grunewald mal zeige?

Ich war um eine Antwort verlegen und schwieg deshalb.

 

Um dort hinzukommen, würden wir gemeinsam mit der S-Bahn fahren?“

 

Ich war total verwirrt. Völlig durcheinander: Grunewald, S-Bahn fahren. Ich fühlte mich hin und her gerissen. Ich konnte doch nicht einfach mit einem fremden Mann mitgehen und mit ihm mit der S-Bahn in den Grunewald fahren!?

 

Trotz meiner Bedenken schien mir der Mann merkwürdig vertraut, obwohl ich ihn gar nicht kannte. Er hatte so etwas verbindliches, Vertrauenserweckendes. Ich fühlte mich, in einer nicht zu benennenden Art, zu ihm hingezogen. Seine Art mit mir umzugehen war mir angenehm wenngleich fremd. Wieder kam mir mein Stiefvater in den Sinn. Dieser hatte mir noch nie so ein Gefühl der Nähe vermittelt wie eben dieser fremde Mann. Wie er mich ansah, mir über die Haare strich, mich in meiner kurzen Hose bewunderte und offensichtlich sofort erkannt hatte, dass ich es wert war ein bisschen verwöhnt zu werden.

 

Mit starkem Herzklopfen willigte ich auf seinen Vorschlag ein.

 

Er freute sich.

 

Ich aber wusste nicht, ob ich mich freuen konnte. Plötzlich bekam ich ein bisschen Angst vor dem Ungekannten. Aber das Glücksgefühl, das ich in mir spürte, war größer, so dass ich alle Bedenken „über Bord warf“.

 

Mit dem Wissen, dass ich morgen mit einem mir „fremd-vertrauten“ Mann in den Grunewald fahren würde ging ich ins Bett. Ich hatte Schwierigkeiten einzuschlafen. Ich war unruhig und aufgeregt, denn ich wusste ja nicht was mich erwarten würde. Irgendwann bin ich dann doch eingeschlafen und war am nächsten Morgen froh, dass das Abenteuer Grunewald in greifbare Nähe gerückt war. Den Vormittag in der Schule hatte ich mehr schlecht als recht überstanden. Schnell nach Hause, unauffällig bleiben, den Blick von der Uhr kaum weg gewandt und abwartend, bis endlich die Stunde die das Abenteuer einläuten sollte da war.

 

Pünktlich zur verabredeten Zeit trafen wir uns. Die S-Bahn im Richtung Grunewald hielt und wir stiegen ein. Der Zug setzte sich in Bewegung und wir passierten einen Bahnhof nach dem anderen bis wir endlich den S-Bahnhof Grunewald erreicht hatten und aussteigen konnten. Während der Fahrt saß ich neben meinem „Gönner“, deshalb war ein Blickkontakt nicht möglich. Es sind mir keine Unannehmlichkeiten während der S-Bahnfahrt in Erinnerung geblieben, außer der Möglichkeit, dass sich zufällig jemand in der Bahn befand, der mich kannte und mich hätte aussprechen können. Vielleicht um mich zu fragen, wieso ich mich in der S-Bahn befand, wohin ich fahren will usw. Letztendlich war ich froh, als wir den Bahnhof Berlin-Grunewald erreicht hatten, aussteigen konnten und ich mich freier fühlen konnte. 

 

Noch Gedankenverloren wurde mir die Frage gestellt, ob ich denn schon mit anderen Männern Ausflüge gemacht hätte. Da dies nicht der Fall war, sagte ich „nein“ und ich spürte dabei, wie der Mann seinen Arm um meine Schulter legte, und mich dadurch näher zu sich heranrückte. Dieses Vorgehen verunsicherte mich und gab mir gleichzeitig ein Gefühl von Schutz. Nach den ersten Momenten der Verunsicherung fühlte ich mich angenehm berührt und unbeschwert neugierig. Wenn uns Personen entgegen kamen, nahm er seine Hand von meiner Schulter und wir gingen ganz normal neben einander her. 

Es machte mir Spaß mit ihm die Waldwege entlang zugehen, Vögel zwitschern zu hören und den Wald riechen zu können. Für mich war alles neu und aufregend.

 

Zielstrebig, für mich nicht unangenehm, gingen wir immer tiefer in den Wald hinein. Plötzlich wurde ich gefragt, ob ich denn ab und zu an meinem „Pullermann“ spielen würde und ob denn dabei auch etwas passiert. Ich erschrak über die Frage aber auch über die Tatsache dass man mich erwischt hat. Ich wusste nicht wie ich reagieren sollte. Ich fühle mich ertappt.

 

Der Mann spürte, dass ich peinlich berührt war, aber offensichtlich hat er an meiner Verlegenheit Freude, denn er fing an verhalten zu lachen. „Das muss dir nicht unangenehm sein darüber zu sprechen“ versuchte der Mann, die für mich verfängliche Situation, zu retten. „Alle Jungen in deinem Alter spielen sich am „Pullermann“. Es ist doch schön, wenn er dabei steif wird und letztendlich so was wie Spucke raus fließt – Oder?“

Während der Mann so mit mir sprach merkte ich, wie sich in der Hose etwas regte. Ich bekam eine Erektion die ich versuchte krampfhaft zu verbergen. Auch das wurde von dem Mann natürlich bemerkt, was mir natürlich zusätzlich sehr unangenehm war. Dennoch wurde Das Thema nicht gewechselt. Im Gegenteil es wurde immer intensiver. Ich hatte keine andere Wahl als ihm detailliert mitzuteilen, was ich manchmal heimlich unter der Bettdecke machte. Er wollte l alles ganz genau wissen: z.B. ob ich schon mit anderen Jungen beziehungsweise Älteren zusammen onaniert hätte.

Mir war die Situation peinlich. Noch nie hatte mich jemand gleiches gefragt und noch nie hatte ich jemanden von meinen sexuellen Erfahrungen erzählt bzw. stand ich unter dem Druck von meinen Erfahrungen erzählen zu müssen.

 

Ich versuche einen klaren Kopf zu behalten was mir aber nicht gelang.

 

Wir näherten uns einer Schonung. Hier sollte der Spaziergang zu Ende sein. Der Mann zeigte auf seine Hose und ich sah, dass auch er ein erigiertes Glied hatte. Er begründete seine Erektion damit, dass es nicht nur bei Jungen der Fall ist, sondern auch bei Erwachsen wenn über den „Pullermann“ gesprochen wird.

Plötzlich fragte er mich, ob ich denn sein Glied sehen man sehen möchte. Ich reagierte eher verlegen als abweisend. War aber gleichzeitig neugierig.

 

Der Mann öffnete seine Hose und ich wurde mit dem bisher hinter dem Hosenstoff verborgen gehaltenem erigiertem Glied konfrontiert. Da er mir nun sein Glied zeigte, bat er mich auch meine Hose zu öffnen. Ich war dazu nicht bereit, denn die Situation war mir sehr unangenehm. Ich spürte, wie ich leicht erstarrte und mich immer mehr hilf- und wehrlos fühlte.

Letztendlich erlaubte ich es ohne Gegenwehr, dass er meine Hose öffnete und mein erigiertes Glied herausholte.

 

Was würde jetzt passieren überlegte ich.

 

Der Mann wünschte sich von mir, dass ich jetzt sein Geschlechtsteil berühren sollte.

 

„Warum sollte ich das tun?“ dachte ich und frage ihn.

 

„Weil es mir gefallen würde“ bekam ich zur Antwort. „Und ein kleines Dankeschön von dir, für alles was ich Dir an Freude bereite habe, meine ich erwarten zu können.

 

Also berührte ich sein Glied. Es war das erste Mal, dass ich das Glied eines erwachsenen Mannes in der Hand hielt. Die Größe machte mich erschrocken und verunsicherte mich. Ihm tat es offensichtlich gut. Ich wollte meine Hand zurückziehen was er aber zu verhindern wusste.

Jetzt berührt er mich intensiv. Es war mir nicht unbedingt unangenehm, dennoch bekam ich Angst, denn ich wusste ja nicht, was noch alles passieren könnte bzw. würde.

 

Der, wenn auch ungewöhnliche Körperkontakt, verlieh mir trotz unangenehmer Gefühle Geborgenheit. Ich will soweit gehen und sagen, dass die Situation in der ich mich befand verborgene Sehnsüchte erfüllte.

 

Der Mann brachte erst mich und dann sich selbst zum Orgasmus. Die Anspannung ließ schlagartig nach wenngleich sich Unsicherheit in mir breit machte. Jetzt erst registrierte ich was soeben geschehen war. Bisher war mir nicht richtig bewusst was hier abgelaufen war.

Alles hat seinen Preis, dachte ich. Für alles muss bezahlt werden. Auch Glaskugeln sind nicht umsonst zu bekommen.

 

Mit der S-Bahn fuhren wir wieder zurück nach Schöneberg. Wir verabschiedeten uns mit dem Hinweis, das dass was wir heute gemeinsam erlebt hatten unser Geheimnis ist und das es niemanden etwas anzugehen hätte.

 

Mein Verführer bestand auf ein weiters Treffen worauf noch einige folgen sollten. Immer wieder fuhren wir in den Grunewald und immer wieder gab es das gleiche Anfangsritual. Die sexuellen Praktiken allerdings wurden intensiver und zum Teil kostete es mich Überwindung den Anforderungen des Mannes Folge zu leisten. Aber – so glaubte ich - ich hatte keine andere Wahl als ihm gefügig zu sein. Wenn ich es nicht täte, so glaubte ich, würde er mir möglicherweise sehr wehtun oder sogar meine Eltern informieren.

 

Offensichtlich fand der Mann großes Vergnügen daran mich in seiner Gewalt zu haben. Schonungslos missbrauchte er mich. Er nahm auf meine Empfindlichkeit und mein Kindsein keine Rücksicht. Im Gegenteil! Ganz offensichtlich geilte er sich daran auf einen Knaben zu missbrauchen. Sich durch mich sexuelle Befriedigung zu verschaffen.

 

Ich hoffte, dass uns Spaziergänger entdecken würden, denn dann hätte der Spuk ein Ende. Aber nie stellte sich der gewünschte Effekt ein. Der Verführer kannte „seine“ Schonung ganz genau und wusste, dass er hier unentdeckt agieren konnte.

 

Wieder und wieder verbat er mir mit irgendjemanden über die Treffen zu sprechen. Schon gar nicht mit meinen Eltern. Er sagte mir, dass meine Eltern mich ganz bestimmt in ein Heim stecken würden, wenn sie erführen was ich mit ihm gemacht hatte und immer noch machte.

Da mein Stiefvater in der Vergangenheit schon des Öfteren angedeutet hatte, mich in ein Heim zu stecken wenn sich „dies oder das“ nicht ändern würde, nahm ich den Hinweis meines Verführers sehr ernst. Die Androhung von Heimeinweisung erfuhr ich häufig wegen Banalitäten, und deshalb war mir klar, würde mein Stiefvater von dieser „Sauerei“ erfahren, würde er seine Drohung wahr werden lassen. Davor hatte ich natürlich große Angst. Deshalb war für mich klar, dass ich ganz bestimmt Stillschweigen bewahre, ganz egal was ich noch alles über mich ergehen lassen muss.

 

Die weiteren Treffen belasteten mich zunehmend. Meine Konzentration in der Schule sank auf ein niedriges Niveau. Ich war unaufmerksam und wurde durch mein Verhalten immer auffälliger. Ich war kaum noch in der Lage dem Unterricht zu folgen. In meinem Kopf drehte sich alles nur um das „Eine“.

 

Besonders schwer belastete mich die Tatsache, dass Ich mit niemanden über meine Erlebnisse reden durfte. Und dieser Zustand machte mich regelrecht krank. Wie sollte es nur weitergehen? Weshalb hatte ich mich auf dieses Abenteuer eingelassen?

Irgendwie zog mich der Mann magisch an. Andererseits machte mir die Situation Angst. Er übte eine Macht über mich aus an der ich drohte zu ersticken.

 

Ich will nicht mehr.

Ich kann nicht mehr.

 

Ich entschied mich nicht mehr zum verabredeten Termin zu erscheinen. Was wird geschehen? Wird der Verführer mich irgendwann und irgendwo „abfangen“? Mich vielleicht sogar umbringen?

Ich wusste es nicht. Und dieser Zustand der Ungewissheit brachte meine Gefühlswelt völlig durcheinander

Ich überlegte welche Alternativen ich hätte. Sollte och mich jemanden anvertrauen? Mit welchen Konsequenzen könnte ich rechnen? Oder sollte ich mir das Leben nehmen, um so aus der Verantwortung zu entziehen?

Ich wollte lieber tot sein, als so weiterleben zu müssen

 

Ich entschied mich für die zweite Variation. Ich wollte meinem Leben ein Ende setzten. Aber wie sollte ich vorgehen? Welche Möglichkeiten gab es für mich sich das Leben zu nehmen? Und wollte ich mir wirklich das Leben nehmen?

 

Für alle Möglichkeiten die ich in Betracht zog fehlte mir der Mut oder die Gelegenheit. Ich schloss mit mir einen Kompromiss: Heute Abend im Bett würde ich mir eine Plastiktüte über den Kopf ziehen. Sollte dieser Vorgang zum Tode führen, wäre es gut so. Klappte es aus irgendwelchen Gründen nicht, müsste ich über das Weiterleben neu nachdenken. Gesagt getan.

Ich lag im Bett. Quer zu meinen Füßen lag meine Schwester in ihrem Bett. Ich hörte sie gleichmäßig atmen und wusste so, dass sie schlief. Ganz vorsichtig, denn ich wollte möglichst niemanden wecken, auch nicht die Eltern, die im Zimmer nebenan schliefen. Das hieß für mich, keine Geräusche zu verursachen. Behutsam zog ich mir die Plastiktüte über den Kopf. Das Tütenende drückte ich mit beiden Händen unterhalb meines Kopfes fest zusammen so dass ich die Luftzufuhr verringerte. Zunächst passierte nichts.

Allmählich wurde es mir warm unter der Tüte. Ich fing an zu schwitzen. Ich spüre wie die Luft knapper wurde. Ich konnte nicht mehr normal durch die Nase atmen. Ich öffnete meinen Mund um so mein Luftholen zu unterstütze. Diese Vorgehensweise bewirkte, dass sich das Tütenmaterial mit jedem Luftholen an mein Gesicht presste.

Ich schwitze immer mehr. Meine Haare wurden feucht. Ich spürte Schweißperlen auf dem Gesicht. Gedanken fliegen wie ein unkontrollierter Vogelschwarm durch mein Gehirn. Endzeitgedanken machten sich breit. Endlich! Gleich habe ich es geschafft. Gleich ist es vorbei. Nur nicht den Mut verlieren! Durchhalten! Zu Ende bringen!

 

Wie lange dauert es noch?

 

Plötzlich befiel mich eine mir bisher nicht gekannte Panik. Deshalb lockerte ich ein wenig meine Handmanschette und bekam dadurch automatisch wieder Luft. Das wollte ich aber nicht, denn so ein Verhalten führte mit Sicherheit nicht in den gewünschten Tot. Folglich drücke ich die Plastiktüte wieder fester an den Hals, womit sich die Luftzufuhr wieder reduzierte und die Angst wieder spürbar wurde. 

 

Ich fing an zu weinen. Tränen mischten sich mit Schweißperlen. Ich dachte über mein Leben nach. Was gewesen war und was möglicherweise noch kommen würde. 

Ich hatte doch schon so viel gelitten in meinem Leben. Ich konnte doch nichts dafür, dass es mich gab! Alles machte ich falsch, denn warum sonst mochte mich niemand? Und der Mann tat mir auch nicht gut, obwohl seine Nähe mir ein lebensbejahendes Gefühl gab. Ich würde es so gerne ungeschehen machen, ging aber nicht!

 

Panik macht sich breit. Wieder presste ich das Plastikmaterial auf mein Gesicht, das inzwischen innenseitig tropfnass war. Ich wollte jetzt ganz langsam bis hundert zählen. Sollte ich das erreichen und noch leben, würde ich den Vorgang abbrechen, denn länger vermochte ich den Zustand nicht auszuhalten – das spürte ich.

Mir schmerzten meine Hände vom zuhalten der Plastiktüte.

Ich fing an zu zählen. Ganz langsam. Eins, zwei, drei und immer so weiter. Bei fünfzehn oder sechzehn fing ich an schneller zu zählen. Ich konnte das langsame Zähltempo nicht mehr einhalten. Bei vierundfünfzig brach ich ab. Ich riss mir die Plastiktüte vom Gesicht und hatte große Schwierigkeiten tief durchzuatmen. Mir war schwindelig. Ständig musste ich husten. Dadurch weckte ich meine Schwester. Irgendwie schaffte ich es sie zu beruhigen, woraufhin sie auch wieder einschlief. Meine Harre waren klatschnass. Der Schweiß von der Stirn rann mir in die Augen. Es brannte fürchterlich. Ich hielt die Plastiktüte mit meinen auf dem Bauch ruhenden Händen verkrampft fest. Wie zum Gebet schienen meine Hände gefaltet. Ich sah mich in einen Sarg liegen und wusste doch, dass es ein Morgen geben wird.

 

Auf den nächsten Morgen folgten noch viele andere. Nur mühsam gelang es mir Tage und Wochen möglichst unauffällig zu bestreiten. Das Erlebte und die Angst vor Entdeckung ließen mich nicht los. Gerne hätte ich mich meiner Mutter gegenüber anvertraut. Aber ich traue mich nicht. Sie hatte doch sowieso schon soviel Kummer weil es mich gab. Wäre ich nicht auf der Welt, ginge es ihr sicherlich viel besser. Diese Sichtweise war für mich Realität, denn sie wurde mir jahrelang vermittelt. Diesen grotesken Gedanken hatte ich fast täglich. Deshalb bemühte ich mich Immer und immer wieder möglichst unauffällig zu leben. Nur nichts auffallen. Nur nicht Anlass geben Mittelpunkt zu sein. Weder positiv noch negativ. Ich wollte und musste ein Schattendasein leben um überhaupt einigermaßen leben zu können. Es tat mir leid, dass es mich gab – Entschuldigung.

 

Ich wusste, dass ich von meinem Stiefvater weniger als geduldet war, und von ihm nie Liebe und Geborgenheit empfangen würde. Er würde nie für mich Verständnis aufbringen wollen oder können, oder mich gar als seinen Sohn betrachten. Ich, aber auch meine Mutter, waren auf seine Güte angewiesen. Wir durften ihm keinen Anlass geben der seine Unzufriedenheit über uns bewusst werden ließ.

Mit dieser Angst lebte ich nun schon so lange ich denken konnte. Ohne das, so vermute ich, es meiner Mutter bewusst war.

 

Wie immer saß ich in unserer Wohn-Küche. Ich aß ein Marmeladenbrot und las dabei mehr oberflächlich eine Tageszeitung. Plötzlich glaubte ich meinen Augen nicht trauen zu können. Hier stand es schwarz auf weiß, was mich fast erstarren ließ: Wegen Verführung und Missbrauch minderjähriger Knaben wurde Herr „so-wie-so“ zu einer mehrjährigen Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt. Dem Artikel beigefügt war ein Bild auf dem für mich ganz klar mein „Glaskugel-Verführer“ abgebildet war.

 

Mir blieb der Bissen im Halse stecken. Ich hätte vor Freud heulen können gleichzeitig bekam ich weiche Knie. Heulen konnte nicht, denn meine Mutter war ebenfalls in der Küche und putzte grüne Bohnen. Die weichen Knie versuchte ich unter Kontrolle zu bringen, was mir nur schwer gelang.

Ich konstatierte für mich, dass der Alptraum nun wohl endlich vorbei sei. Mehrere Jahre weggesperrt sein hieß für mich: ich konnte mich wieder frei auf der Straße bewegen. Brauchte keine Angst zu haben aufgelauert und abgefangen zu werden. Es bestand nun auch keine Gefahr mehr, das mein Verführer meinen Eltern erzählen könnte was ich mit ihm gemacht hätte

Jetzt war ich doch froh, dass ich es seinerzeit nicht länger ausgehalten hatte, die Plastiktüte über meinen Kopf zu behalten.

 

Sehr viele Jahre später ergab es sich, dass mein Verführer und ich uns noch einmal begegnen. Das geschah genau auf jenem S-Bahnhof, wo immer die Fahrten in die Grunewalder Schonung begannen. Mein Verführer stieg aus der S-Bahn, in die ich gerade einsteigen wollte. Wir sahen uns für den nur kurz zur Verfügung stehen Augenblick in die Augen.

 

Die Zugtür schloss sich.

 

Die S-Bahn setzte sich in Bewegung und der „Glaskugel-Verführer“ verschwand für immer aus meinen Leben.

 

Die Zeit, die ich in der Kurzgeschichte „Der Glasskugel-Verführer“ beschreibe, war mit die schlimmste Zeit in meinem Leben. Auf der eine Seite war die Neugierde, auf der anderen Seite die Sehnsucht nach Geborgenheit nach väterlichern Liebe. Ich frage mich oft, ob meine sexuelle Veranlagung mit der Sehnsucht nach väterlicher Liebe in Verbindung zu bringen ist. Die Frage die mich immer noch bewegt und die mir bis heute keiner beantworten kann lautet: Wäre ich nicht schwul geworden wenn das häusliche Umfeld mir das gegeben hätte was ich gebraucht hätte? Wie wäre mein Leben verlaufen? Anders – ganz bestimmt aber glücklicher?Manfred Bieschke-Behm, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.07.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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