Hans-Peter Zürcher

Der Schäfer

10. Juni 2004 

Wir wohnten damals an der St. Gallerstrasse in Herisau. Eine Dachwohnung war unser Heim. Nebenan befand sich eine Wiese, an dessen östlichem Rand eine Sägerei befand. Von diesem Abenteuerspielplatz in einer anderen Geschichte.

Ich war in der zweiten Klasse, mein Bruder im Kindergarten und wir hatten Schulfrei wegen einer Kinderseuche, ich glaube es war der Mupf oder so etwas ähnliches. Jedenfalls war unser Schulhaus in Folge Schülermangel geschlossen. Uns konnte es nur recht sein.

Es war ein strahlend schöner, kühler Herbsttag mitte September, als uns Mutter wecken kam. Wecken war eigentlich nicht das richtige Wort, denn wir Buben waren schon lange wach und schmiedeten Pläne, was wir an diesem schönen Tag unternehmen könnten. Mutter war sehr aufgeregt, es war so etwas wie Freude, das sie ausstrahlte. " Habt ihr gehört, die Schafe sind wieder da ! "  Natürlich hatten wir die Glöcklein gehört, aber wir hatten ja ein interessanteres Thema zu besprechen.

Noch vor dem Morgenessen schickte mich Mutter mit einem dampfenden Krug voller Kakao und einem ansehnliches Stück Brot zum Schäfer hinunter. Ich sehe diesen grossen, stattlichen Mann heute noch vor mir, mit seiner schwarzen Pelleriene, dem mächtigen Hut und einem langen Hirtenstab. Fast wie in der Weihnachtsgeschichte. Ein grosser Hund war auch mit dabei, vor dem hatte ich ein bisschen Angst, die jedoch, wie ich gleich zu spüren begann, unbegründet war, zeigte er sich doch als liebes, anhängliches Tier. Ich glaube der Schäfer hatte grosse Freude an diesem Frühstück. Er zeigte mir dann kleine frischgeborene Lämmer, die ich auch berühren durfte. Das war ein Erlebnis für mich ! Ob all dieser Eindrücke vergass ich beinahe mein Morgenessen. Der Schäfer sagte, ich könne Jederzeit wieder zu ihm kommen, er sei so zwei bis drei Tage auf dieser Wiese und werde dann weiterziehen.

Nun waren unsere Pläne von heute Morgen, die mein Bruder und ich ausgeheckt hatten natürlich nicht mehr aktuell. Unser Tagesprogramm hiess nun „ Schafe hüten „. Unsere Mutter brachte am Mittag drei Teller samt Löffel und ein ganzes Milchkessi voller heisser Suppe und ein halbes Brot auf die Wiese, das heisst bis zum Zaun, denn sie hatte, glaube ich, vor den Schafen angst. Das war ein Erlebnis, dass wir während unserer Arbeit mit heisser Suppe verpflegt wurden! Der Schäfer hatte sichtlich Freude an dieser warmen Mahlzeit, er schwärmte jedenfalls sehr von dieser Suppe. Er erzählte uns aber auch von seiner Arbeit, wie er von Weide zu Weide durch das ganze Land ziehen muss, damit seine Schafe ausreichend mit Nahrung versorgt werden können. Er hatte auch ein Zelt mit dabei, wo er bei schlechtem Wetter und in der Nacht eine Unterkunft findet. Und nun zeigte er uns noch etwas, nämlich ein Maultier, das er in der Schreinerei in einem Schopf untergestellt hatte. Ich habe mir die ganze Zeit schon überlegt, wie er denn sein ganzes Hab und Gut transportieren kann. Nun kennen wir die Lösung. Vor lauter grossen Eindrücken merkten wir gar nicht, dass es bereit eindunkelte, denn die Geschichten, die wir zu hören bekamen waren spannend und sehr Interessant. Mutter brachte noch einen Krug voll mit Kakao, aber diesmal nur für den Schäfer. Für uns werde das Nachtessen bereit sein, wenn dann der Vater in einer halben Stunde von seiner Arbeit nach Hause kommt.

Also blieb uns nichts anderes übrig, als mit ihr in die Wohnung hinauf zu gehen. " Ihr stinkt ja ganz erbärmlich ", sagte die Mutter und es wurde sofort heisses Wasser und ein Badezuber hergerichtet. Wiederwillig liessen wir die Prozedur über uns ergehen und schwärmten von unseren Eindrücken, die uns völlig gefangen nahmen. Selbstverständlich wollten auch wir einmal Schäfer werden. Das stand bereits heute schon fest. Nach dem Essen verblieb uns noch eine Weile mit spielen, bis es Zeit wurde zu Bett zu gehen. Natürlich wurde Schäfer gespielt. Wir holten sämtliche Spieltiere, die wir hatten, hervor. Es waren keine Schafe dabei, aber einen Hund hatten wir und ein Pferd hatten wir und die Kühe mussten als Schafe herhalten.

Das nächtliche Gespräch unter uns Brüdern, wie könnte es auch anders sein, war unsere Zukunft als Schäfer, mit einer Herde, die hundertmal grösser war als die von unserem neuen Freund. Wir hatten natürlich nicht ein Maultier, sondern mindestens drei Pferde, nämlich eines zum tragen unserer Habseligkeiten und dann eben jeder eines zum Reiten, denn zu Fuss wandern kam nicht in Frage, wenn man schon den ganzen Tag herumstehen muss. Was ich dann geträumt habe weiss ich nicht mehr, aber wahrscheinlich habe ich Schafe gezählt.

Am nächsten Morgen haben wir Buben gestritten, wer denn nun den Kakao hinunterbringen darf. Dieses Problem wurde schnell gelöst, denn Mutter hatte dies bereits erledigt. Aus dem Schafe hüten wurde vorerst auch nichts, denn wir dürfen mit meiner Gotte nach St. Gallen fahren. Dieses Programm passte uns natürlich überhaupt nicht. Wir versuchten der Mutter klar zu machen, dass auf uns noch viel Arbeit warte und der Schäfer nicht ohne uns auskommen könne. Aber alle Überzeugungskünste, die wir anzuwenden versucht haben, hatten keine entscheidend überzeugende Wirkung. Heute nehme ich an, dass dies eine mütterliche Strategie wegen dem gestrigen Gestank war.

Ein Erfolgserlebnis wurde uns jedoch trotzdem beschieden, mein Gotte kaufte uns eine Schafherde, wenn auch eine kleine, aber wir hatten nun eigene Schafe und Weihnachten war auch nicht mehr weit entfernt.

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Diese Geschichte hat sich um 1955 zugetragen. Hans-Peter Zürcher, Anmerkung zur Geschichte

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