Heinz Albers

Vogel mit Glatze

Als kleiner Junge hatte ich gelegentlich Kanarienvögel, die ich immer von meinem Onkel Johann, einem erfolgreichen Züchter, geschenkt bekam. Wir wohnten damals gemeinsam in einem kleinen Haus am Gildehauser Weg in Nordhorn, dort, wo Niedersachsen eine tiefe Einbuchtung in die Niederlande hinterlässt.

Eines Tages bekam ich von ihm ein etwas älteres Tier. Ich stellte als Knirps lediglich fest, dass Hansi kaum sang, nur gelegentlich vor sich hinpiepte, sein Gefieder aufplusterte und meist teilnahmslos auf einer Stange saß. Er war nicht so wie seine Vorgänger, die stets lustig und munter drauf los trällerten, lebhaft hin und her sprangen und das Badehäuschen in ein Tollhaus verwandelten.

Außerdem zeigte sich nach einer gewissen Zeit eine kahle Stelle auf dem Kopf, die sich rasch vergrößerte. Das machte mir Sorgen.

 

Ich holte mir Rat bei meinem Onkel. Er sagte mir, ich solle den Vogel mit Milbenpulver bestäuben und ihm stets frische Vogelmiere zu seinem Trockenfutter reichen. Unser Drogist besorgte mir die Medizin, das Grünzeug holte ich von einer Wiese hinter dem Haus.

Das Pulver richtete nichts aus, die Vogelmiere verschmähte Hansi. Als letztes Mittel gab ich ihm auf Anraten meines Onkels Vitamintropfen in das Trinkwasser.

Alle Mühen waren umsonst. Hansis Kopfkleid schwand mehr und mehr. Müde und stumm rückte er gelegentlich auf seiner Stange hin und her, sein Blick war schläfrig.

 

Meine Mutter erklärte mir dann eines Tages, dass Hansi schon ein etwas älterer Vogel sei. Schonend bereitete sie mich darauf vor, dass ich wohl bald mit seinem Ableben zu rechnen habe.

Ich war sehr traurig und fragte Onkel Johann, der sehr wohl wusste, dass er mir eine halbe Mumie geschenkt hatte, was mit dem Kanarienvogel los sei. Auch er bestätigte, dass Hansi schon ein "alter Knabe" sei. Er bemerkte meine Traurigkeit, die er sogleich damit zu dämpfen suchte, in dem er mir als Nachfolger einen frischeren Vogel versprach.

Aber, so fügte er hinzu, wenn ich Hansi noch einen Gefallen erweisen wolle, solle ich ihn fliegen lassen. Das wäre des Vogels Wunsch,  noch einige Tage in Freiheit leben zu können. Meine Einwände wegen der vielen streunenden Katzen und der lauernden Elstern ließ er nicht gelten, weil, wie er mit belegter Stimme sagte, Vögel ja immerzu flögen und sich gerne unter Blättern versteckten.

Die Spätsommertage waren warm, und die Nächte waren mild. Gräser und Sträucher waren reichlich mit frischen Samen und Früchten gefüllt. Also, ab in die Freiheit!

Gemeinsam öffneten wir die Tür seines Käfigs. Hansi kam träge heran, setzte sich in die Öffnung, äugte nach links und nach rechts und flatterte unsicher davon. Zuerst nur ein, zwei Meter, schnappte auf dem Boden heftig nach Luft, hoppelte etwas und flog dann wie von einer unsichtbaren Kraft getrieben immer weiter und weiter hinaus in die fremde Welt, bis wir ihn nicht mehr sahen. Ich wollte hinterherlaufen, um ihn wieder einzufangen, denn mir war plötzlich ganz traurig zu Mute, und die Tränen liefen mir über die Wangen. Onkel Johann hielt mich zurück. „Hansi, Hansi!“, schrie ich schluchzend hinterher. Aber Hansi war unerreichbar fort, verschwunden hinter Hecken, Wiesen und Bäumen.

 

Der Abschied wurde mir mit einem neuen, rötlichgelben Kanarienvogel mit einem glatten, glänzenden Federkleid – auch auf dem Kopf! - versüßt, den ich sofort nach Hause trug. Er hieß auch Hansi, und er sang uns tagaus, tagein mit seiner wunderschönen Stimme seine Lieder vor.

Onkel Johann sagte mir, dass das ein besonderer Kanarienvogel sei, ein Harzer Roller, die auf der ganzen Welt berühmt wegen ihrer schönen Gesänge seien.

Auch dieser Hansi hatte es gut bei mir. Er bekam täglich sein frisches Wasser und Futter, einen regelmäßig gereinigten Käfig, und im Sommer verschmähte er die frisch gepflückte Miere nicht.

 

Ein paar Tage nach Hansis Ausflug in die unbekannte Welt erschien bei meinem Onkel, der weithin als Experte einen guten Ruf besaß, ein Mann aus der weitläufigeren Nachbarschaft und berichtete voller Stolz und Freude, dass er vor ein paar Stunden einen "wilden" Kanarienvogel eingefangen habe.

Er sagte in dem Platt, das damals in der Gegend noch regelmäßig gesprochen wurde:

"Ick heff 'n Kanarienvogel fungen, de is so jung, de hett nich mol Hoor up 'n Kopp."

Onkel Johanns Frau, Tante Tine, brachte die Angelegenheit auf ihre unnachahmliche Art auf den Punkt:

"Kiek es!", sagte sie. Und meinte damit übersetzt ins Hochdeutsche: "Welch' Fortune Sie hatten", oder " Schau einmal!".

 

Mein Onkel gratulierte dem Mann zu seinem Glück und konnte sich aber wegen der „Haare“ ein kleines Lächeln nicht verkneifen.

 

Wir behielten unser Geheimnis für uns, waren aber doch erleichtert, Hansi in einem neuen Zuhause zu wissen.

 

Diese Geschichte von dem jungen, haarlosen Kanarienvogel machte in der Nachbarschaft lange Zeit die Runde. Alle, die sie hörten, amüsierten sich köstlich.

Auch heute, mehr als fünfzig Jahre später, denke ich immer wieder an diese Episode zurück, insbesondere wenn ich eine Reklame über Haarwuchsmittel sehe.

 

 

© Heinz Albers 2005

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.07.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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