Viola Huber

Glückskinder

Das Zimmer war auf den ersten Blick leer, dreckig und düster. Allein dies schreckte die meisten Leute davon ab, es zu betreten. Das, und der eigentümliche Geruch, der in der Luft hing. Eine Mischung aus schimmeligem Beton, beißendem Rauch, Staub, Rattenkot - und diesem widerlich-süßen Duft, vermischt mit angekokeltem Metall. Langsam atmete er den Gestank ein und stieß die Luft mit bebenden Nasenflügeln wieder aus. Die Augen hatte er geschlossen, doch er wußte genau, wie es um ihn herum aussah. Er kannte jede Ecke des Raumes. Rechts neben der Tür stand der alte Holztisch, dessen eines Bein ein Stück abgebrochen war und nur durch einen Stapel auseinanderfallender Bücher gehalten wurde. Auf dem Tisch die Kerze, jetzt schon zur Hälfte niedergebrannt und dennoch so kostbar. Zu seinen Füßen und links von ihm jeweils zwei Fenster in den Wänden, mit zerschlagenen Scheiben, deren größere Löcher er mit alten Lappen und Stoffresten zugestopft hatte. In der Mitte des Raumes, auf dem Boden, vier Dosen mit Resten von Fingerfarben, die mit Wasser gestreckt waren. Hier und da ein paar Kinderzeichnungen, mit vereinzelten Klebestreifen oder Nägeln an die grauen Wände geheftet. Genau genommen kannte er jede Kakerlakenritze und jedes Rattenloch, behaupteten böse Zungen. Er widersprach nicht, denn zumindest was dieses Zimmer betraf, stimmte es annähernd. Es war sein Leben. Er kannte das Zimmer. Er kannte die Kälte. Er kannte den Gestank. Es war das erste, was er wahrnahm, wenn er aufwachte. So wie jetzt. Innerlich fühlte er sich noch völlig entspannt, doch je wacher er wurde, desto deutlicher drang ihm seine unbequeme Lage ins Bewußtsein - sein Körper war völlig verkrampft. In Embryostellung lag er da; ein zusammengekauerter Haufen schräg gegenüber der Tür. Die Kälte des Steinbodens ließ ihn zittern, jagte ihm einen Schauder durch den Körper. Sein Magen fühlte sich hohl an und schmerzte vor Hunger. Dennoch hielt er die Augen geschlossen, in dem Versuch, die negativen Gefühle auszuschließen und sich wieder in der Entspannung und Losgelöstheit zu verlieren. „Marc?" Ein leises Wort, kaum zu hören. Doch es riß seinen umnebelten Verstand endgültig zurück in die Wirklichkeit. „Was", knurrte er gereizt. Er öffnete die Augen und sah sich seinerseits beäugt. Arglose, braune Augen, in denen reine Unschuld, Neugier und kindliche Besorgnis stand. Michelle kniete vor ihm und blickte ihn an. Sie hatte Farbspritzer im Gesicht. Auch ihre Finger waren bekleckst; fast ebenso bunt wie die Bilder, die sie immer malte. Fröhliche Bilder aus ihrer Phantasie, die auf dem Papier lebendig wurden. Aus den Augenwinkeln sah er, daß eine neue Zeichnung, gerade erst angefangen, achtlos am Boden lag. Michelles kleine Hand streichelte sanft und beinahe mütterlich sein verdrecktes Haar; hinterließ eine feuchte Farbschliere auf seiner Stirn. War sie wirklich erst fünf? „Hat die Medizin geholfen?" fragte sie ihn. „Tut es dir nicht mehr weh?" Er setzte sich langsam auf; hörte seine eigene Stimme so heiser wie die eines Fremden: „Ja. Es tut nicht mehr weh." „Das ist schön." Michelle drückte ihn kurz. „Dann war es die richtige Medizin." Wieder antwortete er automatisch mit einem ernsten Ja, innerlich aber lachte er zynisch auf. Die richtige Medizin gegen die Schmerzen, das war es! Eine Medizin, welche die Schmerzen erst hervorrief, wenn sie nicht mehr wirkte. In Fachkreisen bekannt unter Namen wie Morphium, Heroin und einigen Dingen mit sanfterer Wirkung. Doch das Ende war bei allen gleich: Der Körper konnte ohne die geregelte Dosis Stoff nicht länger auskommen. Die Schmerzen wurden am Ende schier unerträglich, und alles, was das Elend beiseite schob, waren jene einzelnen Momente trügerischen Glücks. Michelle aber freute sich, daß ihr großer Bruder keine Schmerzen mehr hatte.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.07.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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