Hellmut Schmidt

Das zukünftige Leben des Karl Schaschinsky

Das zukünftige Leben des Karl Schaschinsky

 

 

Karl Schaschinsky, 42 Jahre alt stand auf. Wie jeden hoffnungslosen Morgen, - nur die Sonne schien. Er blickte in den blutbefleckten Spiegel und sah grauschwarze Bartstoppeln, die sich über seine längliche untere Gesichtshälfte und über den oberen Teil des dünnen Halses ausgebreitet hatten. Seine Hand strich über seine Barthaare, als wollte er überprüfen, ob sie tatsächlich mehr geworden waren. Noch zwei Tage, dann war es soweit. - Noch zwei lange Tage.  Ein kleines Lächeln huschte über seine aufgesprungenen Lippen, als er daran dachte. Dann haben wir wieder eine Verteilung, dann gibt es wieder Rasierklingen. Er überlegte. Vielleicht sollte ich mir wieder einen Bart stehen lassen. Aber er gefiel sich nicht mit Bart, - ganz und gar nicht, denn in dem wären graue Haare zu sehen,- graue Haare, die sein Haupthaar noch nicht hatte. Solange es eine Rasierklingenverteilung gab, wollte er dieses ausnutzen. Seine Stirn legte sich in Falten. Vor der letzten Reform gab es mehr Rasierklingen. Diese Reformen, was hatten sie schon alles gebracht. Er versuchte darüber zu Lächeln, aber es gelang nicht. Die letzte 15.Reform zum sozialen Frieden und geistige Erneuerung aus dem Frühjahr dieses Jahres 2032, brachte eine Reduzierung der Rasierklingeneinteilung.- Aber nicht nur das. Auch die Toilettenpapier-, Zucker- und Salzverteilungen wurden reduziert. Angeblich wegen Produktionsschwierigkeiten, aber man wusste, dass die Hersteller mehr Gewinn mit Ausfuhren nach Afrika machten, als mit Regierungsgeschäften. Unsere Regierung bestand nur aus 3 Leute, so eingeführt nach der 1. Reform zur Kostenkontrolle im behördlichen Dienst im Jahre 2020. Später wurden ihre Löhne durch die verschiedenen Reformen immer mehr reduziert, so dass die jetzigen drei Regierungsmitglieder im Dienst der Vodacooperation auch noch tätig sind. Sie mussten ja von etwas leben. Seine innerliche Schadenfreude hielt sich in Grenzen. Er wusste nur zu gut, dass die eigentlichen Regierenden gewisse Firmen waren, die auch ihre eigenen, fast geheimen Armeen hatten. Sie traten als Sponsor von verschiedenen Armeen auf. Diese fantastische Neuerung wurde eingeführt durch die 7. Reform zur Armeekostenkontrolle im Jahre 2025, was natürlich den maroden Staatshaushalt entlasten half, aber den weltweit arbeitenden Konzernen große Einflussmöglichkeit auf die Armeen gab. Der letzte Krieg zwischen Indien und China, war in Wahrheit ein Krieg zwischen der Indien-Teekompanie, die aber mit Tee nichts mehr zu tun hat, sondern es ist ein Kriegskonzern, der  einen größeren Absatz seiner Produkte brauchte und der China-Tradekompanie, ein diffuser Kriegskonzern, in der auch Siemens und Ford International beteiligt sind. Und was war die Folge: Ausser zwei Millionen Toten wurden  Kriegsgeräte eliminiert und die beiden Konzerne mussten produzieren und produzieren, was den entsprechenden Regierungen eine Stange Geld gekostet hatte. Geld die sie aus unseren Körper sog.

Er lachte höhnisch in seinen dreckigen Spiegel und fragte sich, ob er die nächsten Rasierklingen nicht für was anderes benutzen sollte.

Was hatte er schon von seinen Leben. Nach der 1.Reform zum sozialen Frieden und geistige Erneuerung im Jahre 2022 gab es kein Geld mehr für Arbeitslose. Die meinten wohl, es gäbe sozialen Frieden, wenn kein Arbeitsloser mehr Geld hat und sie allmählich an Hunger sterben, doch soweit konnten sie noch nicht gehen. Noch nicht. Vielleicht hatten die Großen auch Angst, - vielleicht. 10 Millionen Arbeitslose, damals, allein in Deutschland. Vielleicht würden sie aufstehen, vielleicht würden sie kämpfen um ihr Leben. So entschlossen sie, dass sie den Arbeitslosen Essen- und Haushaltsalmosen geben würden, damit sie so gerade überlebten.

Seine knochigen Finger ballten sich zur Faust und mit Wucht schlug er auf die Ablageplatte aus festem Holz, die unter den Spiegel war. Staub wirbelte auf. Seine Resignation war durch diese Erinnerung weggewirbelt. Die Wut war wieder  da, jene Wut, die er damals hatte, als er betriebsbedingt gekündigt wurde. Die Aktionäre brauchten wieder Geld und er war ein Kostenfaktor, ein Faktor zu viel in den Gehirnen dieser Menschen, dieser Bastarde. Damals hatte er sich der Bewegung der sozialen Gerechtigkeit angeschlossen. Doch was konnten sie erreichen. Sie hatten nicht das Geld dieser Unternehmerbastarde und zu viele Menschen hatten Angst.

Angst zu verlieren, ihr kleines noch verbliebenes Glück. Ihr geringen Lohn, der es nicht mehr ermöglichte, dass sie davon leben konnten. Ihre gering bezahlten Zweit- und Drittjobs, die es ermöglichten, dass sie ihr Autos halten konnten. Ihre Gesichter wurden hohlwangiger. Der Stress, verursacht durch die fünfzig oder sechzig Stunden Arbeit verlangte seinen – manchmal tödlichen - Preis. Er sah immer wieder, dass sich Cafébedienungen während ihrer Arbeitszeit ans Herz griffen und stöhnend zu Boden gingen. Sie hatten keine Chance. Nach der 30.Gesundheitsreform im Jahre 2025 war der Notdienst abgeschafft worden.

Als er daran dachte, lachte er leicht höhnisch auf und lamentierte in Gedanken. „Welche Menschenverachtung unter dem Deckmantel der Kostensenkung. Und welche Verhöhnung des Menschen. Die dass Gesetz verbrochen hatten,dachten sich, dass sich die in höchster Not befindlichen Menschen sich in den Krankenhäusern meldeten sollten. Und wenn sie es tatsächlich bis zur Tür der Notaufnahme schafften, mussten sie unerträgliche Wartezeiten in Kauf nehmen. Nach der 25.Gesundheitsreform war die Zahl der Ärzte in den Krankenhäusern reduziert worden, - zwangsweise. Die verbliebenen Ärzte durften sich kaputt arbeiten.“

Er wischte schwungvoll mit seinem roten Baumwollhemd den Staub von der Spiegelschrankplatte. Sein Magen begann zu knurren. Seine knochigen Finger umgriffen den Griff zur Kühlschranktür, deren Farbe teilweise abgeblättert war. Diesen Kühlschrank hatte er vor zehn Jahren auf den Abfallhügeln erkämpft. Damals war es noch einfacher gewesen sowas zu ergattern, aber jetzt bei 15 Millionen Arbeitslosen und noch mehr Hügelmenschen war es schwieriger geworden. Damals hatte wieder sein amerikanisches Kampfmesser gute Dienste geleistet.

 

 

Der Streichkäse schmeckte wie Holzmehl. Er schüttelte den Kopf und dachte: „Ist das Käse? Wahrscheinlich ist Käse zu teuer in der Herstellung, so nehmen sie Holzmehl und verkaufen dies als Käse.“

Er schüttelte wieder den Kopf. Er wunderte sich, dass er sich darüber Gedanken machte. Er müsste eigentlich diesen „Käse“ schon gewohnt sein. Aber vielleicht gibt es Dinge, an die man sich nicht gewöhnen kann. Wahrscheinlich.

Dabei konnte er froh sein. Froh sein, dass er hier ein Zimmer hatte. Er lebte in diesem Hochhaus, viele Arbeitslose waren in Lagern untergebracht. Das hatte die 10. Reform zum sozialen Frieden und geistige Erneuerung gebracht im Jahre 2025 oder war es 2024. Egal, seine Augen wanderten durch sein Zimmer und blickten die mit Tapetenresten versehenen Wände an. Seine Augen stoppten beim großen Bild von einer nackten Frau. Er war stolz darauf dieses Bild zu haben, außerdem hatte es ihm nicht viel gekostet. Nur ein paar gezielte Messerstiche, ein paar Leute fielen um auf den Abfallhügeln, deren vielfältig beißende Gerüche nach Kot und Urin das Schlimmste für ihn waren. Und da lebten Menschen. Er schüttelte seinen Kopf, er war froh ein eigenes Zimmer zu haben. Natürlich musste man schauen, dass man unbemerkt die entsprechenden Verwalter umbrachte, diese kassierten ja das Geld. Er zeigte ein unverschämtes Grinsen, wie er daran dachte, dass es hier keinen Verwalter seit 2 Jahren mehr gab. Leider gab es auch keinen Strom und kein Wasser mehr, geschweige dass noch was am Haus gearbeitet wurde von den Besitzern. Diese hatten das Haus und die Menschen darinnen abgeschrieben. Aber er lebte. Wut füllte sein Herz, Wut über diese Unmenschlichkeiten und diese Wut war die Triebfeder, die seinem Körper hochriss und er schrie: „Ich lebe, ich lebe. Hört ihr, -ich lebe, ihr verdammt reichen Bastarde.“

Plötzlich klopfte es von oben. Und irgendjemand schrie irgendwas.

Wahrscheinlich wollten sie, dass er ruhig war. „Ist schon gut, ist schon gut.“ Er setzte sich wieder hin und fasste nach dem Plastikbecher mit dem Orange Juice Getränk, das er in seinen Schlund herunterstürzte. Das Juice schmeckte bitter, sie hatten wohl wieder ihre Produktionsbedingungen verbessert.

Er überlegte weiter. Er wollte heute, nach längerer Abwesenheit, auf die Abfallhügel. Er brauchte ein Feuerzeug. Ein schwieriges Unterfangen, -wer schmiss schon ein Feuerzeug weg. Und da waren noch die anderen. Er stand auf und ging zu seinem Küchenschrank. Seine Finger griffen zu. Seine Augen leuchteten auf. Da lag es. Ein Messer, das eine lange Klinge hatte, so lang wie ein Buschmesser. Damit konnte man zuschlagen, verdammt gut zuschlagen.

Anschließend wollte er zu George, der ein guter Freund von ihm war. Freundschaft war sehr selten in diesen Zeiten  und viel Wert, sehr viel Wert. Leider lebte George in einem dieser Arbeitslosenlager und musste für billiges, sehr billiges Geld Arbeit verrichten. Damals, zu seiner Kindheit hatte es mit dieser billigen Sklavenarbeit angefangen. Hartz IV hieß damals ein Gesetz, welches das moderne Sklaventum begründete.

Karl wunderte sich darüber, dass nicht alle schon Sklaven geworden waren.

Wieso hatten sie nicht alle schon entlassen und aus diesem Heer billige Sklavenarbeiter rekrutiert? Vielleicht wollten sie auch noch Konsumenten, die ihre Produkte abkauften? Wenn alle Menschen Sklaven mit geringem Verdienst wären, dann würden sie weniger Produkte verkaufen. Das wollten sie nicht. Diese Schweineigel. Aber irgendwie dachten sie auch unlogisch,... Wenn alle 15 Millionen Arbeitslosen gutes Geld verdienten, könnten sie noch mehr Produkte verkaufen, noch mehr stinkendes Geld verdienen. Er lächelte in sich hinein. Es gefiel ihm, dass er intelligenter war als diese Bastarde von Unternehmer.

Doch er wollte nicht mehr weiter sinnieren. Er nahm das Messer und steckte es in seine Hose, aber so, dass Andere sein Messer sehen konnten. Das war zur Warnung gedacht und manche reagierten darauf so, wie er es wollte. Sie ließen ihn in Ruhe suchen. Außerdem hatte er schon einen gewissen Ruf durch seine vergangenen Kämpfe erworben. Man nannte ihn das blutende Messer. Er schaute zu seinen blutbeschmierten Spiegel und ging mit schnellem Schritt aus seinem Zimmer.

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.07.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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