Steffen Lenk

Signale im Regen

Der Regen übertönte fast schon den Lärm auf dieser Straße. Es war die Stadt im Norden, in der sich einst Flüchtlinge aus vielen Winkeln der Erde ansiedelten, nachdem die letzte große Schlacht geschlagen war und niemand mehr wusste, wo er herkam - einer kargen Wüste aus Schutt, in der die gespenstischen Ruinen der Zivilisation keine Schatten mehr werfen oder der vertraute, sichere Hightech-Alltag, in dem jeder Ablauf gemäß der Summe aus Erfahrung von Generationen und in jeder Hinsicht professionell ist, eine Hochkultur der Durchschnittlichkeit und zugleich eine ironisch-schemenhafte Erinnerung, jetzt, irgendwann im Spätherbst 2052.

Dieser verregnete Abend, schon nach Sonnenuntergang, sollte für den Zeitungsreporter, nennen wir ihn Cal, nicht so enden, wie gewohnt. Cal gelang es bisher nicht, seinem Boss auch nur eine Story zu liefern, die mehr spektakulär gewesen wäre als entlaufene Haustiere oder gestohlene Lebensmittelvorräte aus Supermarkt-Lagerhallen. 25 Jahre jung und so voller Ehrgeiz, der aber durch das Ausbleiben von Sensationen brach lag. In dieser Welt war niemand ein Freund von blutigem Krieg oder Talkshows über bizarre Beziehungskonstellationen. Hier ging es Tag für Tag darum, wann endlich die Sonne die Asche in der Atmosphäre zu durchstoßen vermag. Der Nachhall des Krieges war immer noch zu spüren. Es gab noch nirgendwo präzise arbeitende Einwohnermeldeämter, ein Restchaos, das dabei war, sich sehr langsam zu verflüchtigen.
In der Zeitungsagentur war es, wie im Rest des Bürogebäudes, schon dunkel. Alle waren schon längst nach Hause gegangen. Für Cal war es unerheblich, wo er seine Freizeit verbringt, also baute er an seinem Modell weiter, unter dem schalen Licht seiner altmodischen Schreibtischlampe, als dieser alte Mann in der Tür zu seinem Büro stand. Cal nahm seine Brille ab
"Ähm, es tut mir leid, aber die Agentur ist schon geschlossen. Es ist niemand mehr hier." -
der alte Mann, der leicht gekrümmt dastand, lächelte: "Sie sind doch noch hier, oder nicht?" - "Ich habe Feierabend und wollte gerade nach Hause gehen."
"Sie bauen seit Monaten an diesem kleinen Schiffsmodell, Cal. Es gab viel schönere Schiffe, warum dieses?" - Cal war erstaunt "Wer sind Sie? Und woher wissen sie meinen Namen?" -
"Es spielt keine Rolle wer ich bin."
Es war deutlich zu sehen, dass der alte Mann nicht mehr bei bester Gesundheit war als er sich in Richtung des Schreibtischs von Cal schleppte und sich langsam in den Stuhl sacken ließ. Er machte einen traurigen, aber respektvollen Eindruck. Der Regen trommelte gegen die Scheiben und obwohl es nur der dritte Stock war, überblickte man von dort einen Großteil der belebten Straße. In diese Richtung blickte er wortlos.
"Warum sind Sie zu mir gekommen? Was kann ich für Sie tun?", so Cal, "Sie kommen mir irgendwie bekannt vor. Sie wollen wissen, warum ich an diesem kleinen Schiffmodell baue? Mein Vater erzählte mir vom Original. Es ging unter, am Ende des Kriegs als eigentlich schon alles entschieden war. Niemand hatte in seiner Erleichterung und innerlicher Ausgebranntheit damit gerechnet, dass es noch mal einen Angriff geben würde, nicht einmal der Admiral an Bord, so die paar Überlebenden - er war wohl zu euphorisch, da die Kapitäne unter seinem Kommando zu erfolgreich waren - fast keine Verluste. Nur 12 konnten danach noch über dieses entsetzliche Massaker berichten. 12 aus 5800, kaum zu glauben, oder?"
Der alte Mann drehte nun seinen Kopf und schaute erstmals genau in die Augen des begeisterten Schiffsmodellbauers "Es hat lange gedauert. Nicht weil ich nicht mehr gut zu Fuß bin, sondern weil meine Suche eine Ewigkeit überdauerte."
Cal legte die kleine Holzfeile auf den Tisch "Sie sind gekommen, um mir eine Geschichte zu erzählen, die von diesem Schiff handelt? Kannten Sie jemanden, der damals mit an Bord war?"
Die eingefallenen Wangen und die deutlich erkennbare Silhouette der Augenhöhlen des alten Mannes schienen sich in diesem Moment noch intensiver in seinem Gesicht abzuzeichnen. Das Licht eines Blitzes erhellte tausende von Regentropfen am Glas, teilte den Raum in extreme, hell-dunkle Kontraste, wie ein grelles Signal, das aussagte dass hier und jetzt besser alles unterbrochen werden sollte. Der darauf folgende Donnerschlag verlieh durch sein übermächtiges, voluminöses Eingreifen Allem kurzzeitig eine tiefere Position im Gesamtbild und Jedem ein Gefühl von Ehrfurcht.
"Sie war die wundervollste Frau die sich ein Mann nur vorstellen konnte. Bevor es niemanden mehr gibt, der sie kennt, sollen Sie alles erfahren. Mein Herz gehört immer noch ihr."
Cal lächelte entzückt "Einen Moment - eine klassische Lovestory aus dem Krieg? Ich bitte Sie, das liest niemand. Diese Sorte Klatsch gibt es doch schon massenhaft."
"Wir erbauten die Leidenschaft neu zwischen uns. Es war so, als würden wir etwas völlig Neues erfinden. Es geschah ohne Anleitung, ohne Vergleichbares in unseren zahlreichen Erinnerungen. Wir sprachen ganze Bände miteinander - ohne ein Wort laut auszusprechen, konnten vergessen, welcher unserer beiden Körper zu wem gehörte und ... wir wussten alles geheim zuhalten."
"Sie mussten Ihre Liebe vor Anderen geheim halten? Warum?"
"Ich hätte niemals damit gerechnet, dass sie an Bord kommt, dabei hatte ich mir so große Mühe gegeben, sie in Sicherheit zu bringen. Auch wenn es unsere letzte Fahrt, unsere Heimreise war, sollte sie nicht mit einem schwer beschädigten Kriegsschiff über den Ozean fahren, besonders nicht mit diesem! Ich hatte ihr eine Passage auf einem Konservenfrachter ermöglicht und wir hätten uns nach sechs Wochen in der neuen Heimat wieder gesehen, aber diese Ewigkeit konnte sie nicht ertragen. Also bestach sie einen Offizier um an Bord desselben Schiffs zu reisen wie ich. Es gab kaum Platz. Das ganze Schiff war, wie alle anderen in der Flotte, übervoll mit Flüchtlingen die Monate nach ihrer Evakuierung völlig ausgehungert zu viert und sechst in den engen Mannschaftsquartieren untergebracht waren. Dasselbe spielte sich bei unseren ehemaligen Feinden ab, aber niemand war stolz oder dachte an Vergeltung. Alle waren froh, dass die Zeiten des Schreckens nun vorbei waren und sich jeder auf dem Weg nach Hause befand. Sie, Cal, schreiben jede Woche einen Kurzartikel in der Zeitung über ihr Lieblingsschiff, Geschichten von den Nachkommen der Überlebenden. Geschichten, die von einer Generation zur Nächsten weitergegeben wurden, und ich wünsche mir jedes Mal aufs Neue, ich könnte noch einmal zurückkehren und alles ungeschehen machen. An Bord des Konservenfrachters hätte sie es verdammt gut gehabt. Ein große Kabine für sie allein, reichlich zu essen und trinken, Bücher und einen Computer.
Wissen Sie Cal, sie konnte so packend schreiben, ich konnte ihr stundenlang voller Genuss zuhören. Ich konnte nicht zulassen, dass sie noch länger den Missumständen von all diesem Chaos und der nicht zu ignorierenden Restgefahr ausgesetzt war, darum ermöglichte ich ihr diese Passage. Hätte jemand davon erfahren, wäre es möglicherweise an Bord zu Spannungen gekommen. Sie und ich waren schon Jahre vor dem Krieg zusammen und ich begreife heute immer noch nicht, wie das Alles so enden konnte. Wir beide hatten schon immer eine Schwäche wenn es darum ging Etwas aufzuschieben. Wohl aus diesem Grund forderten wir dieses Schicksal heraus. Sie können sich wahrscheinlich nicht vorstellen, welche Überraschung es war, sie in einer gestohlenen Offiziersuniform die Kommandobrücke betreten zu sehen. Im ersten Moment dachte ich, ich hätte den Verstand verloren. Sie schaffte es tatsächlich vorbei an allen Sicherheitskräften. Jeder war überzeugt, sie gehöre zur Kommando-Crew. Verantwortlich dafür war wohl ihre magische Ausstrahlung, die Jedem und jederzeit Hoffnung und zugleich tiefen Respekt zu vermitteln vermochte.

Ich blickte in ihre grünen Augen während sie die Schildmütze abnahm. Ich brachte kein Wort über meine Lippen, wie auch alle Anderen die sich umdrehten und uns beide anstarrten. Auf der gesamten Kommandobrücke gab es nur zwei Menschen, die die Situation begriffen, der Rest war in perfekter Ungewissheit. Wir umarmten uns, als hätten wir uns seit einer Ewigkeit, die es für uns beide auch war, nicht gesehen und brachen gleichzeitig in Tränen aus.
Der Moment war perfekt. Nichts konnte uns trennen, noch nicht einmal meine so akribisch vorgetäuschte Überlegenheit dem gegenüber, sie für sechs Wochen nicht sehen zu können. Sie durchschaute mich erneut und sie ließ mich sie durchschauen - alles war so wundervoll wie immer, so als würde die Zeit langsamer laufen, aber ohne dass ihr Vergehen einem von uns beiden bewusst gewesen wäre.
In diesem Moment, in dieser eigentlich schönen, warmen Sommernacht mitten auf dem Ozean, erschütterte eine gewaltige Detonation den Boden unter uns. Das Licht flackerte erst, fiel dann ganz aus. Das ganze Schiff lief ohnehin nur noch mit Notenergie, da der Hauptgenerator schon lange irreparabel beschädigt war. Es dauerte einige Sekunden bis die ersten Taschenlampen den Raum mit Licht füllten. Die Lage war ernst. Nach einigen Minuten musste jeder an Bord während dem Rennen gegen die Schräglage des Schiffs ankämpfen. Es gab nur einen einzigen Kapitän bei den einstigen Gegnern, der immer noch auf Rache aus war. Er plante fanatisch und monatelang, seine Karriere mit der Vernichtung des gegnerischen Admiralsschiffs zu beenden. Und das gelang ihm auch. Er torpedierte unser Schiff pausenlos und angesichts der Tatsache, dass das meiste an Bord gar nicht mehr oder nur mit Batteriestrom funktionierte, hatten wir keine Chance. Durch eine der vielen Detonationen stürzten meine Geliebte und ich auf dem Weg zu einem der Rettungsboote eine lange Stahltreppe hinab.
Meine nächste Erinnerung ist, dass ich an Bord des gegnerischen Schlachtschiffs erwachte. Wie es dazu kam gestand mir jener fanatische, vom Wahnsinn befallene Kapitän grinsend. Sie schossen jedes Rettungsboot manövrierunfähig, enterten eines nach dem anderen, nahmen einige Gefangene, darunter mich - in bewusstlosem Zustand. Danach versenkten sie alle bis auf eines unserer Rettungsboote, welches ihnen irgendwie entkommen war. Vor einem Jahr ließen sie mich frei. Jetzt ziehe ich von Stadt zu Stadt und erzähle meine Geschichte, solange es mir noch möglich ist. Ich bin jetzt über 77 Jahre alt und Sie sind ein junger, euphorischer und viel versprechender Mann, Cal. Ich war einst wie Sie und der Unterschied zwischen Ihnen und mir – heute – besteht nur darin, dass Sie ein Stück weit Verständnis und Kontrolle über dieses Schiff zu erhalten versuchen, indem Sie es nachbauen und ich mir jeden Tag so sehr wünsche, diese Kontrolle niemals gehabt zu haben."

Cal schwieg. Der Regen hatte mittlerweile aufgehört. Die Sensation, die er schon so lange erhoffte wurde Realität. Sein Schiffsmodell wurde in jener Nacht noch viel realer für ihn. Die Geschichte des alten Mannes wurde erst in der Zeitung gedruckt, für die Cal arbeitete, später landesweit, in allen Zeitungen die es gab.
So zogen einige Monate vorüber und Cal saß Nacht für Nacht an seinem Schreibtisch und es kam irgendwann so weit, dass er das Schiff komplettierte, kurz nach Sonnenuntergang. Er war gerade dabei, den letzten Farbstrich am Schiffsrumpf vorzunehmen, als wieder jemand in seiner Bürotür mit einer Zeitung in der Hand auftauchte und lächelte "Sie sind der Mann, der das hier geschrieben hat? Es hat lange gedauert. Nicht weil ich nicht mehr gut zu Fuß bin, sondern weil meine Suche eine Ewigkeit überdauerte."
Cal stand auf und schluckte. Er stützte seine zitternden Hände auf die Schreibtischplatte vor ihm.
"Ja. Der bin ich. Kann ich Ihnen helfen, Frau ..."

"Es spielt keine Rolle wer ich bin."

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.08.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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