Marc Wiesollek

Marvinismus: Innere Stimme

"Kopf hoch", schallt ein Teil meiner inneren Stimme, "das wird schon wieder!"
"Hast du nichts Besseres zu bieten, als diese profanen Sprüche?", frage ich die Stimme.
"Nö, wieso auch? Mich gibt es ja eigentlich gar nicht. So gesehen sprichst du mit dir selber."
Ich gehe in mein Badezimmer und stelle mich vor den Spiegel.
"Ok, innere Stimme, lasse uns einmal tacheless reden."
"Such' mich doch", vibriert es in mir.
Ich zähle von zehn abwärts und rufe in den Spiegel: "Feeeeeertig, ich komme jetzt! Alles sollte versteckt sein."
Ich tappe in meinem dunkleren Inneren herum. "Hätte ich bloß eine Taschenlampe mitgenommen", denke ich mir, ohne dass es meine innere Stimme hören könnte.
Nach einigen Minuten innerer-Stimmen-Selbstfindung gebe ich auf und rufe: "Wo bist du denn?"
Aus allen Ecken schallt es: "Das ist der Sinn des Spiels ‚Verstecken'!"
Ich versuche die Stimme zu lokalisieren, aber vergeblich.
"Ich will mit dir reden, also komme jetzt endlich heraus. Ich habe keine Lust mehr!"
Betröppelt erscheint hinter einer schwarzen Wand ein kleiner, weißer Punkt und blinkt mich beleidigt an.
"Hhmm, irgendwie habe ich mir meine innere Stimme anders vorgestellt", sage ich zu dem Lichtpunkt.
"Wie denn", hallt es spöttisch aus dem Punkt heraus, "vielleicht als Engelchen oder Teufelchen? Sorry, aber das ist dein Gewissen. Ich bin nur", wobei der Punkt Gänsefüßchen in das Dunkle malt, "die innere Stimme. Tut mir ja leid! Ich kann ja wieder gehen, pöh!"
Es sieht sehr interessant aus, wenn eine innere Stimme versucht, beleidigt zu sein.
"Dein Gewissen hat übrigens Urlaub - nur zur Info!"
Ich schüttele fragend den Kopf: "Wie Urlaub, wie kann ein Gewissen - ich meine - mein Gewissen Urlaub haben?"
"Das ist tariflich so festgelegt."
"Bitte was?"
"Ja, meinst du denn, wir haben keinen Urlaub verdient? Wir, und damit meine ich mich, dein Gewissen, den Verstand, den Spieltrieb und das Unterbewusstsein. Okay, der Spieltrieb macht es nicht mehr so lange. Er ist schon zu lange im Geschäft. Er wird bald in Pension gehen."
"Was? In Pension?", frage ich ungläubig.
"Hey, wir haben auch eine Tarifpolitik hier drin. Wenn du irgendwann, mal endlich schlafen gehst, dann machen wir immer noch keine Pause. Sei du mal mehr als 20 Stunden auf den Beinen, wenn wir welche hätten. Dein Gewissen spricht sich mit dem Unterbewusstsein ab. Beide besprechen sich und müssen dann noch einen Traum erstellen, damit DU am nächsten Tag alles", dabei malt die innere Stimme wieder diese Gänsefüßchen ins Schwarze, "verarbeitet hast. Und weißt du, was das Deprimierendeste an dieser Arbeit ist? Na?"
Ich zucke nur mit meinen Schultern.
"Dass du noch nicht einmal weißt, was du verarbeitest hast. Das ist doch die reinste Sysiphusarbeit."
Ich schaue gepeinigt auf den Boden und meine: "Jetzt bekomme ich ja schon ein schlechtes Gewissen."
"Das versuche erst einmal", schreit mich meine innere Stimme - nennen wir sie Charly - an, "er hat doch Urlaub."
"Er?"
"Ja, was denn? Willst du Dein Gewissen ‚es' nennen? Wir haben Namen hier. Leider kennt sie keiner. Zum Beispiel heißt Herr Verstand mit Vornamen ‚Hannes'."
"Hannes?"
"Ja, Hannes!"
"Aber ich habe da eine Frage: man spricht doch immer vom schlechten und guten Gewissen."
"Och nö, die Frage musste ja kommen. Na gut, ich will ehrlich sein."
Ich mache eine fordernde Bewegung.
"Nun, dein Gewissen ist schizophren."
"Häh?"
"Nun, gebe du mal den ganzen Tag gute und schlechte Ratschläge. Da wirst du einfach irgendwann bekloppt. Immer dieses Ewige-Tipps-Geben, mal hier, mal dort. Im Endeffekt machst du doch eh, was du willst. Weißt du, wie hart das ist?"
"Wie denn, ihr seid doch in mir?", frage ich Charly vorsichtig.
"Genau, du schätzt es gar nicht. Aber keine Sorge, wir lassen dich auch genau deswegen leiden."
Ich schaue Charlie schockiert an.
"Da schaust du, was? Rate mal, warum es dir manchmal schlecht geht. Jaha, das sind wir. Ich bin im Betriebsrat und gemeinsam beschließen wir, wie es weitergehen soll. Ab und zu streiken wir und zeigen unsere Missbilligung dem Arbeitsgeber, nämlich dir."
Charly kann wirklich sehr gemein lachen; das merke ich gerade sehr deutlich.
Plötzlich ertönt eine andere Stimme: "Oh, Entschuldigung, ich habe nur meine Socken vergessen."
Ich erkenne ein großes, rotes Quadrat, das langsam an Charly vorbei schwebt.
"Wer war das denn?", frage ich Charly.
"Das war dein Gewissen", antwortet Charly.
"Irgendwie habe ich mir mein Gewissen anders vorgestellt."
Charly prustet sich auf und wird wieder ärgerlich: "Wie denn?"
Er schüttelt sich, das wohl ein Unverständnis darstellen soll und sagt: "Womit habe ich das verdient? Ich wollte ja die innere Stimme von DJ Ötzi werden, aber leider hat mir eine andere Stimme die Stelle weggeschnappt."
"DJ Ötzi? Aber da hat man doch kaum etwas zu tun", sage ich ungläubig.
"Eben drum. Bei dir muss man immer wieder ans Werk. Es gibt auch faule, innere Stimmen. Am liebsten würde ich cerebrales Seelengeld II empfangen. Aber seit dieser neuen Seelenreform ist der Traum vom Urlaub in der Transzendenz aus."
"Das tut mir leid."
"Danke, aber davon kann ich mir auch nichts kaufen."

Ich beame mich vor den Spiegel mit meinem Bewusstsein zurück.
Ich reibe mir die Augen, schaue erneut in den Spiegel und erkenne in meiner Pupille ein kleinen, hellen Punkt.
Ist das etwa nur das Licht gewesen?

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.08.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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